Anton Webern. Der Lyriker unter den Liedkomponisten der „Neuen Wiener Schule“

  • Das Gedicht Detlef von Liliencrons (1844-1909), das dieser Liedkomposition Weberns zugrunde liegt, stellt ein durchaus repräsentatives – und zweifellos gelungenes - Beispiel für seine aus dem Geist des Impressionismus kommende Lyrik dar, die es vermag, mit wenigen markanten und ausdrucksstarken sprachlichen Strichen eine Augenblickssituation einzufangen: Den „Heimgang in der Frühe“ des Tages, der auf eine Nacht, die nur mit den knappen Worten „Hör´ ich hinter mir / sacht ein Fenster schließen“ in ihrem Geschehen“ skizzenhaft angedeutet wird. Auf beeindruckende, weil im Gestus der lyrisch-sprachlichen Deskription verbleibende Weise werden nun die Erfahrungen wiedergegeben, die das lyrische Ich in der Begegnung mit dem Morgen aus der Perspektive des Nachklangs dieser Nacht macht. Sie verdichten sich in solchen Bildern wie dem, dass ihm die „Wölkchenherde“ am blauen Morgenhimmel als von den blauen Augen der Geliebten geküsst begegnet und der Gesang der Drossel als das stille Erwachen des Tages aus „Liebesträumen“ erfahren wird. Die Expressivität der lyrischen Sprache Liliencrons speist sich aus diesem Gestus des die Sache gleichsam unverblümt und zart zugleich ins Wort Setzens, - vernehmlich etwa in den Worten: „Klanglos liegt der Weg, und die Bäume schweigen“.


    Dieses Gedicht muss – so stelle ich mir vor - dem musikalischen Lyriker Webern wie der Inbegriff der Aufforderung „Komponiere mich“ entgegengetreten sein. Und er kam ihr auf die für ihn ganz typische Weise nach: Mit dem – darin dem lyrischen Gestus Liliencrons voll entsprechenden – Umsetzen der jeweiligen lyrischen Aussage in liedmusikalische Einzelgebilde. Dies – wie oben bei der Beschreibung der Faktur des Liedes aufzuzeigen versucht wurde – in Gestalt einer Abfolge von, in ihrer melodischen und harmonischen Eigenart hochgradig individuellen Liedzeilen, die aber darin in einen musikalischen Kontext eingebunden bleiben.


    Wie stark diese Individualität der einzelnen Melodiezeile bei Webern ausgebildet ist, das zeigt sich in diesem Lied darin, dass es einem wie eine Aufeinanderfolge und Fügung von in Struktur und in ihrem klanglichen Charakter höchst unterschiedlichen, zuweilen geradezu konträren melodischen Gebilden begegnet. Zögerlich, wie stockend, weil aus kleinsten und von Pausen isolierten Melodiezeilchen schält sich die lyrische Ausgangssituation aus der aufsteigenden Chromatik des Vorspiels heraus. Und mit einem Mal wird daraus, das lyrische Wort „Morgenweihe“ musikalisch umsetzend, eine wie ein großes klangliches Aufatmen wirkende, weil nun in überraschendes G-Dur gebettete melodisch weil nach oben ausgreifende Bogenbewegung.
    In starkem Kontrast dazu dann aber das die morgendliche Stille der zweiten Strophe musikalisch einfangende Verharren der melodischen Linie auf tiefer tonaler Ebene, - und dieses wiederum in Gestalt kleiner Melodiezeilen, die je einen Vers in seiner lyrischen Aussage reflektieren, und die beiden letzten Verse in dieser kompositorischen Intention dann als lyrisch-sprachliche Einheit verstehen.


    Wie weit der Kontrast in dieser Vielfalt der einzelnen melodischen Gebilde des Liedes reichen kann, das wird ganz besonders im letzten Teil des Liedes klanglich sinnfällig. Auf die die Aufgipfelung der melodischen Linie im Forte-Fortissimo eines hohen „As“ bei den Worten „fangen Lust und Leben“ folgt das ruhige Ausklingen der nachfolgenden, in ihrer Struktur zum Verharren auf der tonalen Ebene neigenden Melodiezeilen im Übergang vom Pianissimo zum dreifachen Piano. Dur-Harmonik („C“ und „D“) herrscht hier vor. Aber weil das lyrische Ich das Erwachen des Tages als „aus Liebesträumen“ erfährt, kommt es am Ende doch noch einmal zu einem melodischen Quintsprung zu einem hohen „F“, verbunden mit einer – wiederum überraschenden – Rückung von D- nach Des-Dur. Das alles aber piano-pianissimo. Schließlich erwacht er „still“, der Tag, - von einem Drosselruf darin begleitet.


    (Ein Link zu einer Aufnahme des Liedes findet sich am Ende der vorangehenden Seite)

  • Richard Dehmel: „Ideale Landschaft“


    Du hattest einen Glanz auf deiner Stirn,
    und eine hohe Abendklarheit war,
    und sahst nur immer weg von mir,
    ins Licht –
    und fern verscholl das Echo meines Aufschreis.



    Anton Webern: „Ideale Landschaft“

    Webern komponierte dieses Lied an Ostern 1906. Es ist das erste einer Gruppe von „Fünf Liedern nach Gedichten von Richard Dehmel“, die in der Zeit zwischen 1906 und 1908 entstanden und für das Liedschafen Weberns insofern von Bedeutung sind, als sie zwar noch nicht in einer wirklich atonalen Liedsprache stehen, aber gleichsam auf dem Weg dorthin sind, indem sich die melodische Linie in ihrer Harmonisierung gleichsam in den Randzonen der Tonalität bewegt. In diesem Lied ist zwar ein Kreuz als Vorzeichen vorgegeben, aber weder f-Dur noch e-Moll tauchen in der Funktion als Grundtonart auf. Es gibt überhaupt kein harmonisches Zentrum, Tonart und Tongeschlecht modulieren permanent. An nur wenigen Stellen leuchtet reine Dur-Harmonik auf, dies aber wie flüchtig in einem klanglichen Meer von Chromatik, Moll- und verminderter Harmonik.


    Ein Dreivierteltakt liegt zugrunde, die Vortragsanweisung lautet „Ruhig bewegt“. Das siebentaktige Vorspiel mutet, obgleich es schon in Tonart und Tongeschlecht instabil wirkt, in seiner Klanglichkeit lieblich an. Im Bass ereignet sich ein Auf und Ab von Achteln im Intervall einer Sexte, die sich später zur Quarte und zur Terz verengt, und die Bewegung von Einzeltönen im Diskant lässt immer einmal dazu Intervalle von Septen, Quinten und Quarten aufklingen. Und im letzten Takt, vor dem Einsatz der Singstimme, leuchtet tatsächlich ein reines A-Dur auf. Auch in diesem Lied folgt Webern in der Gestaltung der Melodik eier Methode, die für ihn ganz offensichtlich zu einem liedkompositorischen Grundprinzip wurde: Kleine, meist nur einen Vers oder Teile davon beinhaltende Melodiezeilen sind so in den Klaviersatz eingebettet und durch mehr oder weniger lange Pausen voneinander abgesetzt, dass sie sich wie kleine klangliche Inseln aus diesem hervorheben.


    Auf die erste Melodiezeile, der der erste Vers zugrundeliegt und die aus zwei Fallbewegungen der Vokallinie besteht, die sich erst über eine Septe und dann über eine Duodezime erstrecken, folgt eine viereinhalbtaktige Pause für die Singstimme. Das Klavier artikuliert bei der ersten Fallbewegung bogenförmig ansteigende und wieder fallende Achtel im Bass und Diskant, bei der zweiten im Bass ebenfalls, im Diskant aber oktavische Figuren. In der nachfolgenden Pause der melodischen Linie werden daraus Akkorde. Die Harmonik moduliert von Anfang an so stark, dass sich ein völlig instabiles chromatisches Klangbild einstellt Es wirkt aber so, als unterstütze es die „breit“ vorzutragende Terzfallbewegung auf dem Wort „Glanz“, die diesem einen starken Akzent verleiht. Und das lange nachfolgende Zwischenspiel empfindet man wie das Fortklingen der lyrischen Aussage auf musikalischer Ebene.


    Auch in der zweiten Melodiezeile (zweiter Vers) wird das zentrale lyrische Wort „Abendklarheit“ mit einer in hoher Lage ansetzenden und in diesem Fall gedehnten Fallbewegung der melodischen Linie in markanter Weise hervorgehoben. Dazu trägt auch bei, dass die Vokallinie in der Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes einen Aufstieg über eine Undezime beschreibt, und das Klavier im Bass und im Diskant Achtel artikuliert, die ebenfalls große tonale Räume durchlaufen, wobei in der Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von B-Dur nach Des-Dur erfolgt. Und wieder macht die Singstimme nun eine Pause, eine kürzere zwar, aber immerhin eine von anderthalb Takten, die mit einer pianissimo im Bass aufsteigenden Des-Dur-Kette eingeleitet wird.


    Die Verse drei und vier sind Grundlage der dritten Melodiezeile. Auf dem Wort „weg“ liegt eine den ganzen Takt einnehmende Dehnung in Gestalt eines „A“ in mittlerer Lage, die im nächsten Takt in einen doppelten Sekundfall übergeht. Im Klavier erklingen derweilen zwei expressive Sechzehntel-Ketten, die über ein großes Intervall fallen. Das „Wegsehen“ des lyrischen DU wird auf diese Weise mit einem hohen musikalischen Gewicht versehen. Und das gilt auch für das Wort „Licht“. Hier beschreibt die melodische Linie eine aus einem Quartsprung in hohe Lage hervorgehende und sich über zwei Takte erstreckende, also extrem gedehnte Fallbewegung in zwei Sekunden und einer Terz. Lebhaft sich bewegende und permanent modulierende Sechzehntel-Figuren im Bass und Diskant steigern die hohe Expressivität der Melodik an dieser Stelle noch. Das verbleibt aber – wie das ganze Lied überhaupt – dynamisch im Bereich des Pianissimos.


    Die letzte Melodiezeile, die nach einer Pause von nur einem Takt folgt, bewegt sich bis zum letzten Wort in Sekundschritten ausschließlich auf der tonalen Ebene eine tiefen „D“. Und das im dreifachen Piano, begleitet vom Auf und Ab von Achteln im Bass, wie man es vom Vorspiel her kennt. Zu dem Wort „Aufschrei“ hin ereignet sich ein Quintsprung, und das Lied klingt melodisch aus mit einer Dehnung auf der ersten Silbe und einer deklamatorischen Wiederholung desselben Tons au der zweiten. Ein Crescendo ist zwar angegeben, aber das erfolgt aus dem Bereich des dreifachen Pianos.


    Der „Aufschrei“ ist also einer, der in extremer Stille erfolgt. Und das bringt auch das zehntaktige Nachspiel mit seinen vielfältig modulierenden Klangfiguren aus Achteln im Bass und z.T. oktavischen Vierteln im Diskant zum Ausdruck.

  • Der auf den ersten Blick ein wenig rätselhafte Titel von Dehmels Gedicht hebt auf den starken Kontrast ab, den der letzte Vers im Kontext der vier vorangehenden in das Gedicht bringt, - mit einem Gedankenstrich freilich davon abgesetzt. „Landschaft“, das ist das, was zunächst lyrisch skizziert wird, - eine Seelenlandschaft also. Und sie ist „ideal“, weil sie abgehoben ist von der Realität, wie sie das lyrische Ich in seinen Emotionen verkörpert. Es ist in all seinen Empfindungen, die sich auf das Du richten, so weit von dessen Wesen entfernt, dass ihm nur noch der „Aufschrei“ bleibt, um auf die eigene Existenz aufmerksam zu machen. Dieses – auch lautlich - geradezu schroffe Wort steht in deutlichem Kontrast zu den stilisiert schönen Worten, in denen die „ideale Landschaft“ der Existenz des „Du“ lyrisch entworfen wird: „Glanz auf der Stirn“, „Abendklarheit“ und der Blick ins (ferne) „Licht“. Dehmels Gedicht spricht in dieser Schroffheit des Kontrasts von der Unüberbrückbarkeit der Ferne, die sich zwischen Menschen, die in einer Zweisamkeit verbunden sind, auftun kann.


    Vermochte Webern das in adäquater Weise einzufangen und mit den Mitteln der Liedmusik interpretatorisch zum Ausdruck zu bringen? Ich denke schon! Und wie sehr er dabei interpretiert, das wird in den melodischen Akzenten deutlich, die er setzt. Diesbezüglich fällt vor allem auf, dass er den expressiven Höhepunkt auf die Worte „Und sahst nur immer weg von mir, ins Licht“ legt, dem lyrisch-sprachlich so stark kontrastiv abgesetzten letzten Vers, mit dem schroff wirkenden Wort „Aufschrei“ in seiner Mitte, aber nur so etwas wie einen melodischen Nachklang widmet. Erst gipfelt die melodische Linie bei dem Wort „Licht“ mit einem Crescendo in einem langen, taktübergreifend gedehnten Bogen auf dem höchsten Ton des Liedes auf, und dann bewegt sie sich beim letzten Vers pianissimo nur noch ruhig im tonalen Raum zwischen eine tiefen „Cis“ und einem „E“. Dem Wort „Aufschrei“ wird nur eine Deklamation auf dem dreifachen Piano eines auf der ersten Silbe gedehnten „H“ in mittlerer Lage gegönnt. Es wird bei Webern – eigentlich im Widerspruch zum semantischen Gewicht, das ihm eigen ist - musikalisch in den seelischen Innenraum des lyrischen Ichs zurückgenommen.


    Und das entspricht dem musikalischen Geist seiner Komposition. Sie ist ausgerichtet auf die liedmusikalische Skizze der „idealen Landschaft“. Das Lied setzt sich aus vier Melodiezeilen zusammen, die durch unterschiedlich lange Pausen voneinander abgesetzt sind und ihre klangliche Individualität nicht nur aus ihrer Struktur, sondern auch aus ihrer Harmonisierung beziehen, die frei von einer Orientierung an einem harmonischen Zentrum erfolgt. Gleichwohl bleiben sie bei all ihrer Individualität in einen klanglichen Rahmen eingebettet, wie ihn das Vorspiel und das Nachspiel darstellen, die angesichts der Kürze der melodischen Linie bemerkenswert umfangreich sind. Und das hat einen guten Grund.


    Hört man genau hin, dann begegnet einem in ihnen eine melodisch-figürlich und harmonisch-modulatorisch überaus vielfältige Verarbeitung der melodischen Linie, die auf den beiden ersten beiden Versen liegt. Sie sind ja auch die melodisch ausdrucksstärksten und übertreffen darin sogar die dritte und längste Melodiezeile mit ihrer expressiven Aufgipfelung bei dem Wort Licht. Der Grund ist in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung zu finden. Beide, vor allem die erste und für das Lied in ihrer Struktur maßgebliche, weisen melodische Bewegungen auf, die sich über große tonale Räume erstrecken und mit weit ausgreifenden harmonischen Rückungen verbunden sind.


    Indem sich der liedkompositorische Rahmen klanglich aus Melodik der beiden ersten speist, wird deutlich: Weberns Liedkomposition ist auf die musikalische Evokation der „idealen Landschaft“ ausgerichtet. Der Reaktion des lyrischen Ichs darauf, wie sie in dem Wort „Aufschrei“ kulminiert, widmet sie nur einen melodischen Nachklang.
    Und eigentlich ist das ja auch vollkommen berechtigt. Heißt es doch von diesem „Aufschrei“ bei Dehmel, dass er als „Echo“ „in der Ferne“ „verscholl“.

  • Richard Dehmel: „Am Ufer“


    Die Welt verstummt, dein Blut erklingt;
    in seinen hellen Abgrund sinkt
    der ferne Tag,


    er schaudert nicht; die Glut umschlingt
    das höchste Land, im Meere ringt
    die ferne Nacht,


    sie zaudert nicht; der Flut entspringt
    ein Sternchen, deine Seele trinkt
    das ewige Licht.



    Anton Webern: „Am Ufer“

    Das Lied entstand 1908. Genau zu datieren ist es nicht. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, die Vortragsanweisung lautet „Sehr ruhig und langsam“. Als Vorzeichen ist zwar ein „B“ vorgegeben, es ist jedoch bei diesem Lied wie beim vorangehenden dieser Gruppe: Ein harmonisches Zentrum gibt es nicht. Die Harmonik moduliert ausschließlich im Tongeschlecht Moll oder in Verminderung durch viele, z.T. weit voneinander ab liegende Tonarten. Nur drei Mal ist eine Moll-Tonart übereinen Takt und ein wenig darüber hinaus stabil: Das ist beim zweitaktigen Vorspiel und am Anfang der melodischen Linie der Fall (a-Moll) und bei den Worten „die Glut umschlingt das höchste Land“ (g-Moll, 1.Vers, 2.Strophe).


    Auch hier setzt sich die Melodik wieder aus kleinen Zeilen zusammen, die durch Pausen voneinander getrennt sind. Diese sind allerdings dieses Mal deutlich kürzer, schwanken zwischen zwei Achteln und zwei Vierteln. Der Klaviersatz ist fast durchgehend triolisch geprägt, was dem Lied auf der Grundlage des Dreivierteltakts einen ganz leicht wiegenden Rhythmus verleiht. Er ist nicht stark ausgeprägt, entfaltet sich eher als durchaus reizvoll schwebende Klanglichkeit. In der ersten Strophe besteht der Klaviersatz aus Dreiergruppen von sich im Diskant auf und ab bewegenden Achteln. In der zweiten Strophe ist der triolische Charakter weniger ausgeprägt. Hier bewegen sich Akkorde im Diskant über Achteln im Bass. Bei den Worten „der Flut entspringt ein Sternchen“ kehren die triolischen Achtelfiguren wieder und weiten sich klanglich zu Terzen und Quarten aus.


    Auftaktig setzt die erste Melodiezeile im zweiten Takt des Vorspiels ein. In ihrer ganz und gar in Moll gebetteten Fallbewegung, die nach einem kurzen Innehalten nach dem Wort „verstummt“ mit zwei Sekundsprüngen erneut ansetzt, mutet sie klanglich durchaus schmerzlich an. Das erstaunt ein wenig, würde man doch von den Worten „dein Blut erklingt“ her ein anderes Klangbild erwarten. Es scheint so, als habe Webern seine Liedkomposition abgestellt auf die Bilder des „Verstummens der Welt“ und des „Sinkens“ des „fernen Tages“, die für ihn ein negatives affektives Potential aufweisen. Denn auch die zweite Melodiezeile (zweiter und dritter Vers) empfindet man als klanglich betrüblich. Nachdem sie mit einem Quartfall in tiefe Lage abgesunken ist, erhebt sie sich zwar mit einem verminderten Quintsprung noch einmal, aber nur, um erneut auf die tonale Ebene eines tiefen „C“ abzusinken: Die Worte „der ferne Tag“ werden auf einem verminderten Sekundfall deklamiert. Die melodische Linie fällt noch um einen Halbton tiefer. Das mutet klanglich trist an und verleiht diesem lyrischen Bild einen ausgeprägt negativen Akzent. Die Worte „er schaudert nicht“ tragen eine eigene kleine Melodiezeile, der eine Viertelpause vorausgeht und eine fast ganztaktige nachfolgt. Auch hier beschreibt die melodische Linie eine Fallbewegung in je einer kleinen Sekunde pro Silbe.


    Anders muten die beiden folgenden Melodiezeilen an. Bei den Worten „die Glut umschlingt das höchste Land“ geht die Vokallinie in ein Auf und Ab über und beschreibt am Ende eine Aufwärtsbewegung. Legato artikulierte dreistimmige Moll-Akkorde (g-Moll) begleiten sie dabei im Diskant. Die Musik reflektiert darin die Expressivität des lyrischen Bildes, vermag sich dabei aber nicht von ihrer immerzu schmerzlich anmutenden Chromatik zu lösen. Das gilt auch für die Melodik der Worte „im Meere ringt die ferne Nacht“. Auch hier das gleiche, nun noch ein wenig lebhafter anmutende und am Ende aufwärts gerichtete Auf und Ab der Vokallinie, begleitet von einer lebhafteren Bewegung von Akkorden im Klavier. Aber die Abwärtsbewegung von Achteln im Bass verleiht dieser einen dissonanten Charakter, und die wiederum als kleine melodische Insel erklingende Melodiezeile auf den Worten „sie zaudert nicht“ beschreibt wieder die gleiche kleine Sekundfall-Bewegung, die man von den Worten „er schaudert nicht“ kennt, - nur um eine Sekunde höher ansetzend.


    Die beiden letzten Melodiezeilen, die Verse der dritten Strophe mit Ausnahme der ersten drei Worte enthaltend, sind nur durch eine Achtelpause voneinander getrennt. Sie muten beide, obgleich auch hier Moll- und verminderte Harmonik herrscht, klanglich ein wenig positiver an. Zwar geht es auch hier melodisch abwärts, vor allem in der ersten der beiden Zeilen, die von einem Quart- und einem Sekundfall geprägt ist. Aber die zweite und letzte, die auf den Worten „deine Seele trinkt das ewige Licht“, weist eine Bogenbewegung auf, die zunächst einmal in Sekundschritten aufwärts gerichtet erfolgt. Die triolischen Figuren im Diskant weisen hier Terzen und verminderte Quarten auf, was dem Klangbild ein wenig die Schmerzlichkeit nimmt, ohne sie freilich ganz eliminieren zu können.


    Am Ende aber geht es in Sekundschritten melodisch wieder abwärts. Auf dem Wort „Licht“ liegt ein kleiner Sekundfall von einem „Des“ zu einem tiefen „D“. Und auch im Klaviersatz ereignet sich eine Fallbewegung von Achteln.

  • Dieses Lied entstand zu einer Zeit, im Jahr 1908 nämlich, in der Webern auch jene Liedgruppe auf Gedichte Stefan Georges komponierte, die er erstmals einer Opus-Würdigung für wert hielt, - mit der Ziffer 3 nämlich. Und man fragt sich, warum er bei diesem Lied „Am Ufer“ – wie bei den fünf Kompositionen auf Gedichte Richard Dehmels insgesamt – nicht ähnlich dachte und urteilte. Gerade „Am Ufer“ wirkt in der sich einer Orientierung an einem Zentrum sich verweigernden Harmonik, der inneren, auf die klangliche Miniatur ausgerichteten Anlage in Gestalt einer Abfolge von hochgradig individuellen Melodiezeilen und der Parallelführung von Melodik und ausgeprägt eigenständigem Klaviersatz ausgesprochen modern im Sinne der von Webern angestrebten Zeitgemäßheit der Liedsprache, - darin eigentlich nur noch steigerbar durch den – im Grunde nur noch kleinen - Schritt in die Atonalität.
    Webern war bekannt für seine geradezu penibel selbstkritische Grundhaltung. Irgendetwas muss ihm wohl an diesem Lied im Sinne seiner Idealvorstellung von dem lyrischen Text vollkommen gerecht werdender und eben darin zeitgemäßer Liedsprache als unzureichend erschienen sein. Für mich ist das aus heutiger Perspektive nicht recht nachvollziehbar.


    Wie sehr sich Webern inzwischen von der traditionellen Klavierlied-Sprache emanzipiert hat, das wird einem bewusst, wenn man sich die lyrischen Bilder vergegenwärtigt, mit denen Dehmel in seinem Gedicht lyrisch-sprachlich operiert. Sie weisen nahezu alle ein hohes affektives Potential auf: Das „Blut erklingt“, der „ferne Tag“ sinkt in seinen „hellen Abgrund“, „Glut umschlingt“ das „höchste Land“, die „ferne Nacht“ „ringt“ im Meere und die Seele „trinkt das ewige Licht“. Diese in geradezu übersteigerter Weise emotional aufgeladene Metaphorik vermag den aus der romantischen Klavierlied-Tradition kommenden Komponisten sehr leicht zur Anwendung einer entsprechend klanglich expressiven Liedsprache einzuladen. Vor allem das letzte Bild verführt, so stelle ich mir vor, regelrecht dazu, die Liedkomposition hier zu ihrem expressiven Höhepunkt zu führen.


    Weberns Lied begegnet dem Hörer als das absolute Gegenteil dazu. Bemerkenswert ist ja doch, dass in der Struktur der Melodik die fallende Linie dominiert. Bei den ersten drei Melodiezeilen, die die Verse der ersten Strophe umfassen und die Worte „er schaudert nicht“ aus dem ersten Vers der zweiten, beschreibt die melodische Linie durchgängig Fallbewegungen. Bei der ersten sind das solche, die, weil sie legato über eine kleine Quarte und Sekunden erfolgen, eine starke Eindringlichkeit entfalten. Nur bei den restlichen Versen der zweiten Strophe geht die melodische Linie in ein Auf und Ab in einem größeren tonalen Raum über und beschreibt sogar zweimal eine Aufstiegsbewegung (bei „höchste Land“ und „ferne Nacht“). Bei der dritten Strophe steht die Vokallinie wieder ganz und gar im Bann dieser Abwärtstendenz, die das Klavier ja in seinem kurzen Nachspiel aufgreift und fortsetzt.


    Webern hat – auf der Grundlage seiner individuellen Rezeption von Dehmels Gedicht - dieses Lied ganz offensichtlich von der lyrischen Aussage der ersten Strophe her komponiert. Hier entfaltet die melodische Linie ja in der Häufung von leicht gedehnten Legato-Fallbewegungen ihre stärkste Expressivität. Die Welt verstummt, der ferne Tag sinkt in seinen „hellen Abgrund“ und er „schaudert“ darin nicht. Dieses Verstummen der Welt steht im Zentrum des Liedes. Das lyrische Ich fügt sich dem ein, denn es erfährt all das wie ein übermächtiges, gleichsam kosmisches Ereignis. Eben deshalb wird jenen Versen, in denen sich Reaktionen des lyrischen Ichs darauf artikulieren – „Erklingen des Blutes“, „Trinken des ewigen Lichts“ durch die Seele – von Webern kein sonderliches melodisches Gewicht mehr verliehen.

  • Richard Dehmel: „Himmelfahrt“


    Schwebst du nieder aus den Weiten,
    Nacht mit deinem Silberkranz?
    Hebt in deine Ewigkeiten
    mich des Dunkels milder Glanz?


    Als ob Augen liebend winken:
    alle Liebe sei enthüllt!
    als ob Arme sehnend sinken:
    alle Sehnsucht sei erfüllt -


    strahlt ein Stern mir aus den Weiten,
    alle Ängste fallen ab,
    seligste Versunkenheiten,
    strahlt und strahlt und will herab.


    Und es treiben mich Gewalten
    ihm entgegen, und er sinkt -
    und ein Quellen, ein Entfalten
    seines Scheins nimmt und bringt


    und erlöst mich in die Zeiten,
    da noch keine Menschen sah´n,
    wie durch Nächte Sterne gleiten,
    wie den Seelen Rätsel nah´n.



    Anton Webern: „Himmelfahrt“

    Wenn schon bei den beiden vorangehenden Liedern der Dehmel-Gruppe unüberhörbar war, dass Webern – darin wohl unter dem Einfluss Schönbergs stehend – sich in seinem bis an die Grenze der Tonalität führenden Ausloten des Ausdruckspotentials von Musik vom Geist des Expressionismus leiten ließ, so lässt das dieses Lied geradezu überdeutlich erkennen. Liest man das zugrunde liegende Gedicht Dehmels, in dem alle Bilder um die ur-romantische Entgrenzungs- und Erlösungserfahrung in der Begegnung mit der Nacht kreisen, so würde man eine emphatische, beseligt liebliche und von keiner Chromatik verstörte Liedmusik erwarten. Nicht so bei Webern, - in diesem Fall. Zwar liegt diesem 1908 entstandenen Lied ein Dreivierteltakt zugrunde, und es soll „sehr ruhig“ vorgetragen werden, aber besinnlich lieblich und einschmeichelnd mutet es in seiner Klanglichkeit in gar keiner Weise. Die „Ruhe“, die dem Vortrag auferlegt wird, wirkt trügerisch.


    Das rührt von dem unterschiedlichen Klangbild her, das Melodik und Klaviersatz bieten. Während die melodische Linie sich in für Webern ungewöhnlich weit gespannter Phrasierung relativ ruhig bewegt, herrscht im Klavier permanente Unruhe in Gestalt einer große tonale Räume durchmessenden und dabei harmonisch permanent modulierenden Bewegung von unterschiedlichen Achtel-Figuren. Überdies bestehen starke Gegensätze in der Dynamik. Die Singstimme verbleibt durchgehend im Piano-Bereich und nimmt sich oft bis ins Piano-Pianissimo zurück. Im Klaviersatz schwankt die Dynamik hingegen sehr stark, und es kommt in der dritten, vierten und fünften Strophe gar zu Ausbrüchen in den Forte-Bereich, bis hin zu einer akkordischen Fallbewegung aus hoher Lage, die „fff“ ausgeführt werden soll. Und es ist noch etwas, das die Ruhe trügerisch wirken lässt: Das Tempo ist nicht stabil, es kommt immer wieder zu Beschleunigungen und Ritardandi, und das Ganze mündet dann am Ende in ein „sehr langsames „ Ausklingen von Melodik und Klaviersatz im dreifachen Piano.
    Der expressionistische Charakter dieser Liedmusik gründet, so möchte man meinen, in der kompositorischen Absicht, nicht den affektiven Gehalt der lyrischen Bilder in Musik zu fassen, sondern den Prozess der Begegnung des lyrischen Ichs mit der Nacht in all seiner in die Tiefe der Seele ausgreifenden starken Dynamik. Immer dort, wo die lyrischen Bilder eine ausgeprägte innere Bewegtheit aufweisen, geht auch die melodische Linie der Singstimme zu tonal weit ausgreifenden Bewegungen über, und der Klaviersatz steigert sich in seiner Expressivität. In sehr markanter Weise kann man das bei den ersten beiden Versen der vierten Strophe vernehmen: „Und es treiben mich Gewalten ihm entgegen, und er sinkt.“ Hier beschreibt die Melodik in Sprungbewegungen eine wellenartige Linie über das Intervall einer Septe, und im Klavierbass bewegen sich Oktaven ebenfalls wellenartig über triolischen akkordischen Achtelfiguren im Bass. Und das fortissimo.


    Die Harmonisierung der melodischen Linie verläuft durchgehend atonal. Auch wenn drei „B“ vorgegeben sind: Ein harmonisches Zentrum lässt sich nicht ausmachen. Das „Es-Dur erklingt tatsächlich erst im Schluss-Akkord. Das erste lyrische Bild wird mit einer melodischen Linie aufgegriffen, die in ihrer Bewegung auf der Grundlage des Klaviersatzes die Anmutung von Schweben aufweist. Auf dem Wort „Nacht“ liegt dabei ein leicht gedehnter Terzfall. Das Wort „Ewigkeiten“ (3.Vers) erhält durch einen verminderten Septsprung einen starken Akzent. Danach beschreibt die melodische Linie eine bis zu einem tiefen „H“ führende Abwärtsbewegung, darin das „Dunkel“ reflektierend. Ganz bezeichnend für die expressive Gestaltung der Melodik in diesem Lied ist, dass die Melodiezeile nicht in dieser tiefen Lage endet, sondern im letzten Augenblick zu dem Wort „Glanz“ hin einen Oktavsprung beschreibt.


    Lyrisch zentrale Worte oder Bilder werden immer wieder mittels ausdrucksstarker melodischer Figuren klanglich hervorgehoben. So steigt die melodische Linie bei den Worten „alle Liebe (1.Vers, 2.Strophe) in einer doppelten Sprungbewegung von einem tiefen „F“ zu einem hohen “E“ auf“ und überlässt sich dort einer gedehnten Terzfallbewegung. Bei den Worten “alle Sehnsucht sei erfüllt“ beschreibt sie eine fast eine Oktave ausfüllende Bogenbewegung. Die Worte „alle Ängste fallen ab“ (2.Vers, 3.Strophe) werden auf einer weit gedehnten bogenförmigen melodischen Linie deklamiert, wobei auf dem Wort „Ängste“ ein gedehnter verminderter Quintfall liegt. Ein beeindruckendes Beispiel für die Expressivität der Melodik vernimmt man bei den Worten „und er sinkt“ (2.Vers, 4.Strophe). Auf einen verminderten Sextsprung folgt eine Anhebung der Vokallinie um eine kleine Sekunde hoch zu einem „Fis“, das „sehr breit“ deklamiert werden soll. Eine lange Pause folgt für die Singstimme, in der das Klavier „fff“ fallende vierstimmige Akkorde erklingen lässt, die in ein Auf und Ab von Oktaven im Diskant über vierstimmigen Akkorden im Bass übergehen.


    Auch in der letzten Strophe kommt es, bedingt durch ihre lyrischen Gehalt, noch einmal zur Entfaltung großer Expressivität in der Liedmusik. Zu dem Wort „Quellen“ hin beschreibt die melodische Linie eine Fallbewegung über eine Oktave, steigt dann von einem tiefen „H“ in mittlerer Lage auf, um dann, nach längerer ruhiger Bewegung dort bei den Worten „erlöst mich in die Zeiten“ zu Sprüngen über große Intervalle überzugehen. Auf dem Wort „Zeiten“ liegt eine lange Dehnung in Gestalt eines Terzfalls, und das Klavier lässt seinerseits Fallbewegungen von dreistimmigen Akkorden aus sehr hoher Lage erklingen.


    Dann aber zieht sich die Liedmusik immer mehr zu ruhiger Bewegung im Bereich des Pianissimos zurück. Noch einmal beschreibt die melodische Linie bei den Worten „Sterne gleiten“ einen gedehnten doppelten Terzfall. Nun aber hat das Klavier nur noch pianissimo fallende vierstimmige Akkorde dazu beizutragen, und am Ende mündet die melodische Linie in einen „ppp“ und „sehr langsam“ vorzutragenden Fall von einem hohen „Fis“ hinunter zu einem tiefen „G“.

  • Es wurde schon angesprochen: Dehmel greift in diesem Gedicht ein urromantisches Thema auf, das der „Nacht“ und der Entgrenzungs-Erfahrung, die sich für den Lyriker der Romantik damit verbindet, - im Sinne einer Erlösung aus der belastenden und bedrängenden existenziellen Grunderfahrung der Individuation.
    Dehmel ist aber kein Repräsentant romantischer Lebenserfahrung und Daseinsbefindlichkeit mehr, er steht als Dichter auf der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert, und eben deshalb pendelt er in seiner Lyrik ja auf schwer bestimmbare Weise zwischen Impressionismus, Expressionismus und sozialem Naturalismus hin und her. Und dieses Gedicht verrät sich auch, bei all seinem thematischen Verhaftet-Sein in der romantischen Nacht-Metaphorik, in seiner lyrischen Modernität. Es sind die lyrischen Worte „als ob“, in denen sich das ereignet, und es ist die Fragehaltung, die den Versen der ersten Strophe sprachlich zugrundeliegt.


    Die ersten drei Strophen stehen in ihrer Aussage ganz und gar unter dem Vorbehalt der Frage und des „Als ob“. Erst mit der vierten Strophe, eingeleitet mit den Worte „Und es treiben mich Gewalten ihm entgegen“, tritt das lyrische Ich ins Zentrum der lyrischen Aussage und bringt seine ihm ganz eigene Erfahrung naturhafter Nacht zum Ausdruck, - dies im Sinne von Sehnsucht nach Erlösung. Diese „Erlösung“ ist aber eine, die nicht – wie dies in der Romantik der Fall ist – als Eingang in die bergende Heimat „Natur“ verstanden wird, sondern als Übergang „in die Zeiten, da noch keine Menschen sah´n, wie durch Nächte Sterne gleiten“. Das aber ist keine romantische Entgrenzungs-Erfahrung mehr, sondern eine genuin moderne: Die Auslöschung des Ichs im Eingang in die Weite des Kosmos. Das konjunktivische „Als ob“ enthüllt sich darin als historisch weit entfernt vom konjunktivischen „Es war, als hätt´ der Himmel“ eines Joseph von Eichendorff.


    Und Anton Webern offenbart sich in seinem Lied auf diese Verse Dehmels seinerseits als moderner, den Geist dieser Zeit voll und ganz repräsentierender Mensch und Komponist. Da ist nichts von schwärmender Liedmusik zu vernehmen. Im Gegenteil: Das, was sich im Vorspiel ereignet, der Einbruch von Chromatik schon im zweiten Takt des in Es-Dur einsetzenden Vorspiels und die damit eingeleitete harmonisch nicht mehr verortbare, durchweg aber chromatische Klanglichkeit erweist sich als Wesensmerkmal des ganzen Liedes. Man meint, im einerseits ruhigen, harmonisch unbestimmten, aber durchweg in Chromatik gebetteten Auf und Ab der melodischen Linie der ersten drei Strophen, dem gleichwohl in seinem Auf und Ab über große tonale Räume eine untergründige Unruhe innewohnt, eben jenen Geist der Frage und des „Als ob“ musikalisch zu vernehmen, der ihren lyrischen Geist ausmacht. Auch der Klaviersatz ist ja von diesem Geist beherrscht, dies allerdings in ganz eigenständiger, in emanzipativem Kontrast zur Melodik sich entfaltender, gleichwohl diese dabei in ihrer schwebenden Unbestimmtheit und ihrer inneren Unruhe potenzierender Weise


    Mit dem Geständnis des lyrischen Ichs: „Und es treiben mich Gewalten ihm entgegen, und er sinkt“ erreicht das Lied den Höhepunkt der ihm eigenen, aus der Binnenspannung zwischen unruhiger Ruhe der Melodik, einem autonom sich entfaltenden, hochgradig bewegten Klaviersatz und modulatorisch nicht verortbarer Harmonik hervorgehenden Expressivität. Bezeichnenderweise kommt es dazu aber nicht unvorbereitet, vielmehr begegnet einem schon in der dritten Strophe in langsamer Steigerung dieses Hervortreten der Unruhe, die man in den beiden ersten Strophen nur untergründig wahrnimmt. Hier schon gibt es erste Ausbrüche aus dem Piano in den Forte-Bereich, die sich dann später, mit den beiden ersten Versen der vierten Strophe bis zur „fff“-Aufgipfelung der melodischen Linie auf einem hohen „Ges“ bei den Worten „und er sinkt“ steigern.


    Wenn sich danach die Liedmusik wieder in die untergründige, unruhíg-ruhige Stille des Anfangs zurücknimmt und am Ende - bei der Fallbewegung der melodischen Linie über eine verminderte Septe bei den Worten „Rätsel nahn“ - im dreifachen Piano ausklingt, so wird hierin vernehmlich, wie nah Weberns Liedmusik der lyrischen Aussage Dehmels gekommen ist, ihren Kern erfasst und mit ihren Mitteln, ihn darin gleichsam potenzierend, zum Ausdruck gebracht hat. Dieses lyrische Ich findet in der Begegnung mit der Nacht in ihren kosmischen Dimensionen nicht wirklich Erlösung aus seiner Existenz. Es imaginiert sie nur im Raum einer vom „Als ob“ in Frage gestellten Begegnung mit ihr.


    Vielleicht, so denke ich anlässlich dieses Liedes, ist diese, die Tonalität eben gerade verlassende Liedsprache für Webern die einzige gewesen, die der Modernität der existenziellen Erfahrungen, wie sie ihm in Dehmels Lyrik begegneten, musikalisch gerecht zu werden vermochte. Bei Stefan George wird sich das wiederholen und liedsprachlich weiter entwickeln, - in Richtung radikaler, kompromissloser Atonalität.

  • Richard Dehmel: „Nächtliche Scheu“


    Zaghaft vom Gewölk ins Land
    fließt des Lichtes Flut
    aus des Mondes bleicher Hand,
    dämpft mir alle Glut.


    Ein verirrter Schimmer schwebt
    durch den Wald zum Fluß,
    und das dunkle Wasser bebt
    unter seinem Kuß.


    Hörst du, Herz? Die Welle lallt:
    küsse, küsse mich!
    Und mit zaghafter Gewalt,
    Mädchen, küss´ ich dich.



    Anton Webern: „Nächtliche Scheu“

    Dieses Lied wurde von Webern 1907 komponiert, also in einem gewissen, nicht genauer bestimmbaren zeitlichen Abstand zu „Himmelfahrt“ (1908). Und man kann das hören. Es atmet noch nicht den Geist radikaler expressionistischer Atonalität, wie er einem in jenem begegnet. Immer wieder gibt es kleine Passagen tonaler Harmonisierung der melodischen Linie, und das Zwischenspiel, das zweitaktig nach der ersten Strophe erklingt, ist sogar rein tonal angelegt. Ebenso das Nachspiel, das am Ende in einen reinen D-Dur-Akkord mündet. „Nicht zu langsam“ soll das Lied vorgetragen werden. Ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde.


    Wie, so fragt man sich, wenn man den lyrischen Text Dehmels mit seiner Aufwallung von Sinnlichkeit in der letzten Strophe liest, ohne dieses Lied zu kennen, würde Webern damit kompositorisch umgehen? Bleibt er auch hier seiner Neigung treu, die melodische Linie sich im Bereich des Pianos bewegen zu lassen und ihr Expressivität nur in verhaltener, die untergründige Erregung zügelnder Form zu erlauben? Allenfalls dem Klaviersatz und der Harmonik zugestehen, dass sie über die Stränge schlagen, - nicht wirklich extrem, sondern ebenfalls noch gezügelt?


    Genau so begegnet dem Hörer dieses Lied. Es ist im Geist zwar expressionistisch, das aber nicht radikal. Das gilt für die Struktur der melodischen Linie, es gilt für die des Klaviersatzes, und es gilt auch für die Handhabung der Harmonik. Sie wagt sich über die Grenzen der Tonalität hinaus, nicht aber, ohne mit einem Fuß zurück zu bleiben. In der kompositorischen Umsetzung des Dehmel-Gedichts hat sich Webern offensichtlich von den lyrischen Bildern der ersten beiden Strophen leiten lassen, für die das erste, das Gedicht einleitende Wort „zaghaft“ den maßgeblichen Akzent setzt. Schon das zweitaktige Vorspiel mit seinen Dreierfiguren aus akkordischen Achteln im Diskant über lang gehaltenen Oktaven im Bass lässt das vernehmen. Und die melodische Linie der Singstimme ebenfalls: Auf dem Wort „zaghaft“ liegt ein lang gedehnter, keineswegs verminderter, sondern großer und von einer nachfolgenden Viertelpause in seinem Gewicht akzentuierter Septfall.


    Auch die melodische Linie, die sich daran anschließt und die Verse der ersten Strophe umfasst, bleibt bei dieser verhaltenen, ganz dem Pianissimo verpflichteten Expressivität. Sie gipfelt zwar zweimal auf, bei „Lichtes Flut“ und bei dem Wort „Mondes“ nämlich, dies jedoch ohne ein Crescendo, also im Pianissimo verbleibend und aus der hohen Lage wieder in tiefe zurückkehrend. Und sie bleibt bei dieser Haltung, indem sie bei den Worten „dämpft mir alle Glut“ eine zweimalige Fallbewegung zu einem tiefen „E“ hin beschreibt. Auch das Klavier lässt im Diskant langsam sinkende Achtelfiguren erklingen.
    Das nachfolgende zweitaktige Zwischenspiel, bei dem Achtelfiguren in fallende Akkorde übergehen, ist tonal angelegt und bewegt sich in mehrfacher Modulation und unter Wandlung im Tongeschlecht von E-Dur über A-Dur hin zu einem cis-Moll Akkord, der vor dem Einsatz der Singstimme mit der Melodik der zweiten Strophe erklingt. Sie entfaltet sich durchgehend im dreifachen Piano. Nur einmal, bei dem Wort „Schimmer“, gibt es ein kleines Crescendo. Das Klavier begleitet mit akkordischen Figuren, die permanent atonal modulierend aufeinander folgen. Die erste Melodiezeile umfasst die ersten beiden Verse der zweiten Strophe. Sie gipfelt zwei Mal in gedehnter Form auf: Bei den Worten „verirrter“ und „schwebt“. Danach senkt sie sich, eben diesem Bild entsprechend, zum Ende hin langsam in tiefe Lage ab.. Das Bild von „dunklen Wasser“ wird ebenfalls in eine sich in ruhigen Schritten absenkende und am Ende in eine Dehnung mündende melodische Linie gefasst. Auf dem Wort „Kuß“ am Ende dieser Strophe liegt eine ausdrucksstarke, in hohe Lage ausgreifende triolische Bogenbewegung.


    Nach einem zweitaktigen Zwischenspiel kommt deutlich höhere Expressivität in die Liedmusik. Die melodische Linie soll „etwas bewegter“ vorgetragen werden, und das ist ganz bezeichnend. Die Expressivität bleibt auch hier verhalten und gedämpft, obwohl der lyrische Text leidenschaftliche Sinnlichkeit zum Ausdruck bringt, - bis hin zu dem imperativischen „Küsse, küsse mich!“ Aber auch hier taucht im dritten Vers das Wort „zaghaft“ wieder auf, und das ist für Webern wohl das Schlüsselwort gewesen, an dem er sich orientierte. Expressivität, das heißt hier, dass die melodische Linie in kleine, durch Pausen voneinander abgehobene Elemente untergliedert wird. „Die Welle lallt“ erklingt auf einem zweifachen, nach oben gerichteten Terzschritt. Eine Achtelpause folgt. Das Wort „küsse“ wird auf einem veritablen kleinen Oktavfall deklamiert. Wieder folgt eine Achtelpause. Auf dem „küsse mich“ liegt eine in hoher Lage ansetzende triolische Fallbewegung mit Dehnung am Ende.


    Das ist die Passage mit der höchsten Ausdrucksstärke in Melodik und Klaviersatz; das Klavier lässt hier „drängend“ eine Folge von legato artikulierten sechsstimmigen Akkorden erklingen. Aber schon das kurze Zwischenspiel vor der nächsten, den zweitletzten Vers beinhaltenden Melodiezeile soll mit seinen in B-Dur erklingenden triolischen Achtelfolgen im Diskant „sehr warm“ vorgetragen werden. Die Worte „und mit zaghafter Gewalt“ werden pianissimo auf einem weit gespannten, mit einem Oktavsprung einsetzenden melodischen Bogen deklamiert, und die melodische Linie auf den Worten „Mädchen, küss´ ich dich“ wirkt wie eine expressive Steigerung dieser gerade erklungenen melodischen Figur. Nun setzt sie mit einem Nonensprung ein, der zum höchsten Ton des Liedes führt. Und danach ereignet sich eine triolische Fallbewegung hinunter zu einem tiefen „A. Das sind vierzehn Tonstufen.


    Ein Kuss von wahrlich „zaghafter Gewalt“ ist das, was sich hier musikalisch ereignet. Immerhin ergeht sich das Nachspiel aber in fast reiner Dur-Harmonik.

  • Bei der Suche nach einer Aufnahme von diesem Lied stieß ich auf diese von Russell Malcolm, die leider - wieder einmal - stimmlich handwerklich und interpretatorisch nicht so recht zufriedenstellend ist. Aber- und deshalb führe ich das hier an- ich machte dabei eine ganz interessante Erfahrung.
    Unmittelbar darunter fand ich bei YouTube eine Aufnahme mit einer gut gelungenen Rezitation des Gedichts von Dehmel. Hört man die beiden Aufnahmen unmittelbar hintereinander, wird einem auf eine ganz besondere Weise bewusst, wie genau Webern mit seiner Vertonung die Aussage des Gedichts und den Gehalt seiner Bilder getroffen und mit den Mitteln seiner Musik dimensional ausgeweitet und bereichert hat.



    https://www.youtube.com/watch?v=0FpGOVf4-sk



    https://www.youtube.com/watch?v=h30gDqOQ1Pw

  • Bemerkenswert an dieser Komposition scheint mir – im Rahmen dieser Dehmel-Liedgruppe – das Ausmaß, in dem Webern im Bereich der Harmonik auf das Prinzip der Tonalität zurückgreift. Im ohne Verortung in einem Zentrum harmonisch sozusagen frei schwebenden und ganz und gar in Chromatik sich entfaltenden Klaviersatz bilden sich immer wieder einmal kleine Inseln von Dur-Harmonik heraus, und im Zwischen- und Nachspiel übernimmt diese sogar die klangliche Regie. Regelrecht erstaunlich wirkt, angesichts des ganz und gar dissonanten Vorspiels und der nachfolgenden Harmonisierung der melodischen Linie der reine sieben- bzw. achtstimmige D-Dur-Akkord, in dem das Lied endet. Wie lässt sich dieser liedkompositorische Sachverhalt erklären?


    Auf historische Weise nicht, wie ich nun denke, - darin abweichend von dem, was ich oben bei der Vorstellung des Liedes schrieb. Im Jahr 1907, in dem dieses Lied entstand, hatte sich Webern längst von der engen Bindung an das Prinzip der Tonalität gelöst und sich auf den Weg der „Emanzipation der Dissonanz“ begeben, wie sein Lehrer Schönberg das nannte. Nein, die Ursache muss wohl in der spezifischen Rezeption von Dehmels Gedicht zu finden sein.


    Dieses weist ja eine innere Zweigliedrigkeit auf: Auf die Naturbilder der beiden ersten Strophen folgt in der dritten der Auftritt des lyrischen Ichs mit seiner Reaktion auf diese und dem Entschluss des „Mädchen, küss´ ich dich“, in dem sich – auf eigentlich überraschende Weise - der lyrische Aussage-Kern des Gedichts enthüllt. Alle lyrischen Bilder evozieren die Überwindung an sich getrennter Sphären durch das Verschwimmen ihrer Konturen im nächtlichen Raum. Den Bewegungen, die lyrisch angesprochen werden, ist allesamt „Zaghaftigkeit“, „schwebendes Fließen“ und eine gewisse Ortlosigkeit eigen: „Ein verirrter Schimmer schwebt…“. Am Ende dieser Zweier-Strophengruppe steht das Bild vom „Kuss“, unter dem das „dunkle Wasser bebt“. Es liefert das lyrische Stichwort für die letzte Strophe. Dort findet sich zwar die lyrische Aussage: „…Mädchen, küss´ ich dich“, aber das ist ja keine deskriptive, eine, die einen tatsächlichen Akt lyrisch benennt. Es ist reine Imagination des lyrischen Ichs, - ausgelöst durch die Erfahrung des „Lallens“ der „Welle“: „Küsse mich….“. Schließlich ist das ja ein Monolog, der sich hier ereignet: Das lyrische Ich spricht zu seinem Herzen.


    Weberns Liedkomposition wird dem, was Dehmels Gedicht aussagt, und der Art und Weise, wie sich diese Aussage lyrisch sprachlich ereignet, musikalisch vollkommen gerecht. Ich bewundere hier – wieder einmal – seine herausragende Sensibilität für lyrische Sprache. Wie die einzelnen Melodiezeilen die lyrischen Bilder jeweils musikalisch einfangen, wurde oben zu beschreiben versucht. Hier soll nur noch einmal kurz auf die ganz spezifische Harmonik des Liedes eingegangen werden: Diese geradezu auffälligen Einbrüche von diatonischer Tonalität in eine ansonsten die Atonalität streifende Harmonik der melodischen Linie.


    Ich meine: Das ist ein liedkompositorischer Reflex der lyrischen Aussage des zugrundeliegenden Gedichts. Hört man hin, an welchen Stellen sich diese „Einbrüche“ ereignen, dann sieht man sich alsbald in dieser Auffassung bestätigt. Das ist immer dann der Fall, wenn sich das lyrische Ich in all der inneren Wirrnis seiner Seelenlage in die symbiotische Magie der nächtlich-lyrischen Bilder einbezogen fühlt, - bis hin zur Imagination eines Kusses der Geliebten in der Begegnung mit dem „Lallen“ der „Welle“. Der Chromatik der melodischen Linie auf dem Geständnis „…dämpft mir alle Glut“ schließt sich, wie eine Antwort darauf, in der zweitaktigen Pause für die Singstimme ein überraschend rein diatonisches Zwischenspiel des Klaviers in E-Dur und A-Dur an. Nach dem Lallen der Welle „küsse mich“ ereignet sich ein knapp eintaktiges Zwischenspiel in B-Dur, und dass das Nachspiel sich dann wiederum nahezu ausnahmslos in Dur-Harmonik ergeht, empfindet man von daher nur als konsequent.


    Webern ist liedkompositorisch sehr tief in die Metaphorik und in das Zentrum der lyrischen Aussage dieses Dehmel-Gedichts eingetaucht. Die zwischen chromatischer Atonalität und diatonischer Tonalität gleichsam schwebende Harmonik reflektiert auf höchst treffende Weise die situative Befindlichkeit des lyrischen Ichs: Es ist die einer „Nächtlichen Scheu“.

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  • Richard Dehmel: „Helle Nacht“


    Weich küßt die Zweige
    der weiße Mond.
    Ein Flüstern wohnt
    im Laub, als neige,
    als schweige sich der Hain zur Ruh:
    Geliebte du -


    Der Weiher ruht, und
    die Weide schimmert.
    Ihr Schatten flimmert
    in seiner Flut, und
    der Wind weint in den Bäumen:
    wir träumen – träumen -


    Die Weiten leuchten
    Beruhigung.
    Die Niederung
    hebt bleich den feuchten
    Schleier hin zum Himmelssaum:
    o hin - o Traum -



    Anton Webern: „Helle Nacht“

    Dieses Lied der Dehmel-Gruppe ist wohl dasjenige, das als letztes entstand. Man kann es nicht genau datieren, kennt nur das Jahr seiner Entstehung, 1908 nämlich. Aber wenn man einmal davon ausgeht, dass in dieser Zeitspanne von 1906 bis 1908, in der Dehmel diese Liedgruppe komponierte, seine Neigung zunahm, sich musikalisch mit einer sich an die Grenze der Tonalität vorwagenden Liedsprache auszudrücken, dann begegnen einem dieses Lied und „Himmelfahrt“ als beeindruckende Exponenten dieser seiner liedkompositorischen Entwicklung.


    Bei diesem Lied „Helle Nacht“ handelt es sich nicht um eine strikt atonale Liedkomposition. Es entfaltet sich mit seiner melodischen Linie vorwiegend in verminderter und Moll-Harmonik, Diese moduliert jedoch in solch gleichsam ungehemmter Weise, dass sich kein tonales Zentrum, kein harmonischer Ruhe- und Schwerpunkt in der Bewegung der harmonischen Linie und der Struktur des Klaviersatzes auszubilden vermag. Man wird als Hörer dieses Liedes in einen grenzenlos anmutenden Schweifzug durch die Gefilden von Moll-Harmonik einbezogen, und dabei stellt sich mehr und mehr das Gefühl ein – und die Erkenntnis -, dass die Musik eben darin die eigenartige Unbestimmtheit, das schweifend Vage der Metaphorik dieses Gedichts zur klanglich-sinnlichen Erfahrung werden lässt. Genau dieses war wohl auch die liedkompositorische Intention Weberns. Und sie machte für ihn das Transzendieren des Wörterbuchs der traditionellen romantischen Klavierlied-Sprache zwingend erforderlich.


    Der klangliche Eindruck, den das Lied macht, ist der eines Schwebens der melodischen Linie in zumeist hoher Lage über einem in seiner inneren Bewegtheit geradezu flirrend wirkenden Strom von Klängen, den das Klavier entfaltet. Die drei Strophen unterscheiden sich zwar in ihrem Klangbild, aber in diesem Grundcharakter stimmen sie zusammen. Melodische Linie und Klaviersatz entfalten sich in ganz und gar eigenständiger, geradezu kontrapunktisch anmutender Weise. In der ersten Strophe besteht der Klaviersatz zunächst aus triolisch in hohe Diskantlage aufsteigenden Achteln über lang gehaltenen Oktaven im Bass. Die triolischen Achtel-Figuren gehen dann gegen Ende der Strophe in Akkord-Folgen über, und das ist auch in der zweiten Strophe der Fall. In der dritten sind die Verhältnisse geradezu umgekehrt. Nun erklingen die lang gehaltenen Oktaven im Diskant, und im Bass bewegen sich triolisch Viertel nach oben. Von daher der unterschiedliche Klangcharakter der Strophen.


    Die melodische Linie der Singstimme neigt dazu, immer wieder in emphatischer Weise in hohe Lage emporzusteigen und dort zu verharren. In der zweiten und der dritten Strophe verbleibt sie, dem lyrischen Bild geschuldet, zwar anfänglich mit etwas gedehnteren Bewegungen in mittlerer, gar tiefer Lage, in der zweiten Hälfte überlässt sie sich aber wieder eben dieser Neigung. Dabei verbleibt sie aber durchweg im Bereich des Pianissimos und nimmt sich immer wieder ins dreifache Piano zurück.


    In langsamer Bewegung setzt die melodische Linie ein. Eine Dehnung folgt auf die andere, - bei „weich“, „Zweige“, „weiße“ und „Mond“. Hier macht die Vokallinie einen verminderten Sextsprung, der in eine Dehnung in hoher Lage übergeht. Dann aber, mit den Worten „ein Flüstern wohnt im Laub“, steigt sie mit einem Quintsprung in noch höhere Lage empor, bewegt sich dort lange in kleinen Schritten auf und ab, um dann am Ende, zu dem Wort „Ruh“ hin, über eine ganze Dezime in tiefe Lage abzusinken. Eine ganztaktige Pause folgt, und dann werden die letzten Worte dieser Strophe („Geliebte du“) auf einer ausdrucksstarken, mit einem Quartsprung ansteigenden und über eine Dehnung wieder fallenden melodischen Linie deklamiert.


    Bei den Bildern vom ruhenden Weiher und der schimmernden Weide bewegt sich die melodische Linie mit langen Dehnungen in tiefer Lage. Wenn aber das Bild vom in den Bäumen weinenden Wind kommt, meint man das in der Liedmusik zu vernehmen: Die melodische Linie bewegt sich wellenartig in hoher Lage, und das tut auch der Klaviersatz, allerdings in dissonanter Klanglichkeit zur Melodik. Bei dem doppelten „träumen“ kommt wieder große Ruhe in das Lied, in Gestalt von gedehnten Fallbewegungen der melodischen Linie in mittlerer Lage. Und das gilt auch für den Anfang der dritten Strophe. Bei den Worten „Die Weiten leuchten Beruhigung“ folgt eine melodische Dehnung auf die andere. Dann aber, beim letzten Bild, steigt die melodische Linie wieder in hohe Lage auf, bewegt sich dort in kleinen Schritten auf und ab und sinkt dann, wie man das vom Ende der ersten Strophe her kennt, über ein großes Intervall in die Tiefe ab..


    Die letzten Worte werden auf kleinen Melodiezeilchen deklamiert, die durch eine Pause (eineinhalb Takte) voneinander getrennt sind: „o hin“ auf einem gedehnten kleinen Quartsprung, „o Traum“ auf einem großen, ausschließlich aus lang gehaltenen Tönen bestehenden Quartsprung. Im zehntaktigen Nachspiel versinkt das Lied in der Stille eines dreifachen Pianos.


  • https://www.youtube.com/watch?v=6-uKhscBIKc


    Dieses Mal kann ich eine wirklich gute, eine geradezu exzellente gesangliche Interpretation eines Webern-Liedes hier anbieten (und bin ganz glücklich darüber): Es ist die von Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Aribert Reimann. Man muss, um es in dieser Aufnahme von Dehmel-Vertonungen hören zu können, mit dem Vorlauf auf die Zeitmarke 6.35 gehen. Davor findet sich das Lied „Aufblick“, das ja ebenfalls hier vorgestellt wurde (in Beitrag 12).
    Die für Weberns Liedsprache so unmittelbare Anbindung der melodischen Linie an das lyrische Wort ist hier in einer Weise zu vernehmen, wie sie mir ansonsten in den Aufnahmen, die ich dem Lied „Helle Nacht“ kenne, nicht begegnet ist.


    Man achte einmal darauf, wie er anfänglich die melodische Linie mit einem leichten Crescendo aus tiefer Lage aufsteigen und bei den Worten „der weiße Mond“ expressiv aufgipfeln lässt; wie er sie dann bei dem Wort „Flüstern“ wieder zögerlich werden und dann langsam in die Tiefe sinken lässt, - bei den Worten „Hain zur Ruh“.
    Die Worte „Der Weiher ruht“ kommen in wahrlich ruhiger, die Tiefe der Melodik betonender und die Ruhe erklingen lassender Deklamation. Wenn der Wind „in den Bäumen weint“, dann bringt Fischer-Dieskau dieses eigentümlichen Schweben der melodischen Linie an dieser Stelle in so markant gestalteter Weise zum Ausdruck, dass man mit einem Mal begreift, wie Webern hier ein lyrisches Bild zu Musik hat werden lassen.


    Das „wir träumen“ kommt in der singulären Gestalt, die Webern dieser kleinen Melodiezeile verliehen hat. Wie sehr – und ohne dabei in unangebrachter Weise deklamatorisch zu übertreiben – Fischer-Dieskau in seiner gesanglichen Interpretation vom lyrischen Wort ausgeht, das wird noch einmal bei dem Bild „Die Weiten leuchten“ vernehmlich: Er verleiht dem Wort „Weiten“ durch eine leichte Dehnung der melodischen Linie den klanglichen Raum, den es braucht, um seinen semantischen Gehalt musikalisch zur Geltung kommen zu lassen.
    Das sind im Grunde subtile Feinheiten im Vortrag des Liedes. Aber genau die machen die Größe der Interpretation aus: Weil sie die Komposition in ihrem Wesen zur Geltung kommen lassen.

  • Musik zu Weihnachten kannst du, so dachte ich, bei Anton Webern nicht finden. Er war zwar nicht ungläubig, aber seine Frömmigkeit war keine genuin christliche, sondern eine, die sich stark aus seiner engen Bindung an die Natur herleitete. Man könnte bei ihm von einer Art säkularem Pantheismus sprechen, und auf diese seine Haltung hatten der Pantheist Bruno Wille, aber auch Goethe einen starken Einfluss. In späteren Jahren seines Lebens trat er in einen intensiven gedanklichen Austausch mit der christlichen Schriftstellerin und Lyrikerin Hildegard Jone, aus deren Werk er alle Texte seiner späten Vokalkompositionen bezog. Durch sie kam ein gewisser naturbezogener Spiritualismus in seine religiöse Grundhaltung. Auf die Lieder, denen Texte von ihr zugrunde liegen, wird am Ende dieses Threads noch einzugehen sein.
    Musik auf Texte mit religiösem Bezug kannte ich also zwar von ihm, aber auf Musik mit einem mehr oder weniger direkten Bezug zu Weihnachten glaubte ich bei meiner Suche nicht zu stoßen. Ich irrte mich. In der Kantate op.31 auf Gedichte von Hildegard Jone findet sich im letzten der insgesamt sechs Teile durchaus ein Text mit einem solchen Bezug. Er lautet:


    Gelockert aus dem Schoße
    in Gottes Frühlingsraum;
    gekommen als das Bloße,
    zu Stern und Mensch und Baum
    aus Größerem ins Große.


    Ein Leben ist gegeben
    dem Licht von dieser Welt;
    sie muß sich neu beleben,
    vor seinen Blick gestellt:
    Der kann der Nacht entheben.


    Der kann den Himmel halten
    und führt zum größten Licht.
    Im Friedensschoß gestalten uns,
    weil ein Kindlein spricht,
    der Liebe Urgewalten.


    Die Aussage des lyrischen Textes entfaltet in der gemäßigt atonalen Polyphonie dieser Komposition eine starke Eingängigkeit. Man kann diesen Teil der Kantate hören, wenn man im schnellen Vorlauf auf die Marke 13.30 geht.
    Ich wünsche allen im Forum und den Lesern meiner Beiträge hier ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.



    https://www.youtube.com/watch?v=bjHp0NsY5pI

  • Bei dem Lied „Helle Nacht“ handelt es sich wohl um die historisch letzte Komposition Weberns auf Gedichte von Richard Dehmel. Damit sind alle hier vorgestellt, - einschließlich der frühen: „Tief von fern“ (1901), „Nachtgebet der Braut“ (1903) und „Aufblick“ (1903). Dass die in den Jahren 1906 bis 1908 entstandene Gruppe von fünf Liedern sich liedsprachlich sehr deutlich von den drei frühen abhebt und insofern ein bedeutsames Dokument der liedkompositorischen Entwicklung Anton Weberns darstellt, sollte hinreichend aufgezeigt geworden sein. Sie begegnen ihrem Hörer und liedanalytischen Betrachter als Stationen eines liedkompositorischen Weges in die Atonalität, der mit dem nachfolgend vorzustellenden Opus 3 an seinem Ziel angelangt ist.


    Was aber sind die Motive für das Einschlagen dieses Weges? Kann wirklich allein der Einfluss von Arnold Schönberg dafür verantwortlich gemacht werden? Immerhin war der ja in der Zeit von Weberns Studium bei ihm – in den Jahren 1904 bis 1908 – besonders intensiv. Gewiss hat dieser Einfluss eine Rolle gespielt, aber die Lieder der Dehmel-Gruppe, auch dieses letzte mit dem Titel „Helle Nacht“, lassen erkennen, dass er nicht allein für diesen liedkompositorischen Weg Weberns in die Atonalität verantwortlich war. Letztlich entscheidend dürfte dessen Erkenntnis gewesen sein, dass die Semantik der lyrischen Sprache und das evokative Potential der lyrischen Bilder nur mittels einer die Grenzen der Tonalität transzendierenden Liedsprache voll auszuloten ist.


    Es ist ja nicht nur diese Preisgabe der Bindung der Harmonik der melodischen Linie an ein Zentrum, was den spezifischen Charakter von Weberns Liedsprache ausmacht, wie sie in ihrer Entwicklung von den frühen Liedern an aufzuzeigen versucht wurde und wie sie sich nun, bei der Fünfergruppe der Dehmel-Lieder, in ihren maßgeblich konstituierenden Faktoren zeigt. Der Weg weg von der an ein tonales Zentrum gebundenen Harmonisierung der melodischen Linie geht bei Webern einher mit der schrittweisen, darin aber durchaus konsequenten Herausbildung dessen, was die Musikwissenschaft mit den Worten „Klangstenogramm“ und „gestische Geronnenheit“ als typische Wesensmerkmale von Weberns Musik begrifflich zu fassen versucht hat. Der Webern-Biograph Hanspeter Krellmann merkt zu den Dehmel-Liedern an:
    „Warum Webern die Dehmel-Lieder nicht gelten ließ, ist unbekannt. Denn in ihnen deutet sich jede Lautbildung als verheißungsvolles Versprechen an, das später seine stilistische Einlösung finden sollte. Sowohl die Beziehung zwischen Wort und klang als auch die kaum noch oder nicht mehr ableitbare Harmoniefolge in den Dehmel-Liedern bereiten die Qualität des Gestisch-Geronnenen vor, das Weberns Musik über die Klangstenogramme von Opus 6 bis Opus 11 und bis zum >Augenlicht< und den beiden >Kantaten< ausgetragen hat.“
    Warum Webern diese Dehmel-Liedgruppe nicht „gelten ließ“, beantwortet Krellmann im Grunde selbst: In ihnen „deutet sich an“, was später erst voll eingelöst wurde. Und Webern war sich selbst gegenüber äußerst rigoros, was das „Gelten-Lassen“ seines musikalischen Werkes anbelangt.


    Man kann in diesem Lied „Helle Nacht“ – wie auch in allen vorangehenden der Dehmel-Gruppe - diese spezifischen Merkmale von Weberns Liedsprache in ihrer Genese aus der Umsetzung von lyrischer Sprache in Musik vernehmen und liedanalytisch fassen:
    Die Konzentration und Reduktion der Melodik auf die gleichsam inselartig ins klangliche Kontinuum eingelagerte einzelne Zeile und die damit einhergehende Emanzipation der Harmonik vom Prinzip der tonalen Bindung, - dies mit dem Ziel, die jeweilige lyrische Aussage in ihrem Kern zu erfassen. Zur Folge hat dies, dass einem das Lied als klangliches Stenogramm, sich zusammensetzend aus gleichsam gestisch geronnenen klanglichen Elementen begegnet. Das wurde in detaillierter Weise aufzuzeigen versucht. Deshalb hier nur noch einige, das bereits Gesagte ergänzende Hinweise.


    Dehmels Gedicht konstituiert sich in seiner lyrischen Aussage aus Bildern, die allesamt große Ruhe ausstrahlen, in denen es kaum Bewegung gibt. Und wenn sie sich ereignet, dann ist es eine hochgradig zarte, ein Küssen etwa, ein Sich-Neigen. Wenn es Geräusche gibt, dann sind sie leise, ein „Flüstern“ nur. Wenn Farben auftauchen, dann bleiben sie blass: Weiden „schimmern“, Schatten „flimmern“. Und Weite, die durchaus verstören kann, „leuchtet“ nur, sie wird überwunden durch Gesten zarter Berührung, - wenn der weiße Mond die Zweige küsst und die „Niederung“ bleich den „feuchten Schleier hin zum Himmelssaum“ hebt. Das lyrische Ich erfährt all das als emotional-träumerische Entgrenzung, die sich als lyrisch-sprachliches Stammeln artikuliert: „Geliebte du“, „wir träumen, träumen“, o hin, o Traum“.


    Weberns Liedmusik greift all das mit ihren einzelnen, durch Pausen gleichsam exponierten und damit in ihrem hochentwickelten Eigensein akzentuierten Liedzeilen auf. Wie liedmusikalisch „gestisch geronnen“ diese dabei sind, das zeigt sich etwa darin, dass die melodische Linie das Konjunktivische „als ob“ der ersten Strophe mit einer melodischen Linie einfängt, die lange zögerlich in hoher Lage verharrt, immer wieder kleine Anläufe zu einem Fallen nach unten macht und erst dann, wenn das Bild von der „Ruhe“ auftaucht, in die der „Hain“ „sich schweigt“, zu einer Fallbewegung über das Intervall einer None übergeht. Und wenn am Ende der zweiten Strophe der Wind „in Bäumen weint“, dann beschreibt die melodische Linie in hoher Lage eine wellenförmige, in kleinen Sekundschritten auf und ab sich vollziehende Bewegung, die am Ende in einen leicht gedehnten kleinen, aber auf der hohen tonalen Ebene verbleibenden Sekundfall auf dem Wort „Bäumen“ mündet.


    Man empfindet dies als dem lyrischen Bild voll und ganz adäquate Liedmusik, vor allem auch deshalb, weil der Klaviersatz in seiner Struktur und seiner unbestimmten Harmonik aus einer Folge von verminderten Quinten, Sexten und einer Septe dieses gleichsam windhafte Schweben der harmonischen Linie klanglich unterstützt und steigert.


    Und das für Weberns Liedmusik Charakteristische und sie in ihrer liedhistorischen Singularität Auszeichnende ist nun:
    Hier ereignet sich keine Klangmalerei! Hier begegnet man einem vollkommen identischen lyrisch-musikalischen Pendant zur lyrisch-sprachlichen Aussage.
    In den Dehmel-Liedern der Jahre 1906-08 ist diese spezifische Eigenart der Liedsprache Weberns zwar schon vernehmlich, - aber gleichsam nur ansatzweise, wie hier an diesen Passagen des Liedes „Helle Nacht“ aufgezeigt. Vermutlich deshalb hat er sie keiner Opus-Auszeichnung für würdig erachtet. In der nun zur Vorstellung anstehenden Gruppe der George-Lieder op.3 ist sie hingegen voll ausgebildet. Es wird darauf ankommen, sie in eben dieser ihrer Eigenart deskriptiv zu erfassen.

  • Stefan George: „Dies ist ein lied“


    Dies ist ein lied
    Für dich allein:
    Von kindischem wähnen
    Von frommen tränen …
    Durch morgengärten klingt es
    Ein leichtbeschwingtes.
    Nur dir allein
    Möcht es ein lied
    Das rühre sein.



    Anton Webern: „Dies ist ein Lied für dich allein“, op.3, Nr.1

    Dies ist das erste von insgesamt fünf Liedern auf Gedichte aus „Der siebente Ring“ von Stefan George. Die Lieder entstanden in den Jahren 1908 bis 1909 und wurden als Opus 3 publiziert. Webern hat sich hier liedkompositorisch konsequent und kompromisslos vom Prinzip der Tonalität gelöst. Herausgekommen sind dabei auf höchst kunstvolle Weise in atonaler Musik verdichtete Kompositionen, die sich in gleichsam radikaler und darin beeindruckender Weise am für die Lyrik konstitutiven Prinzip des evokativen Äquivalents orientieren. Dieses erste Lied ist ein Musterbeispiel dafür.


    Webern greift die innere Dreigliedrigkeit des lyrischen Textes in der Weise auf, dass er die ersten beiden und die drei letzten Verse in je einer Melodiezeile zusammenfasst, ansonsten aber jedem Vers eine eigene, mit einer Pause von der nachfolgenden abgehobene Melodiezeile zuordnet. Das entspricht insofern dem Aufbau des Gedichts, als in diesen Versen das lyrische Ich von sich selbst und seinen Motiven, das „Lied“ betreffend, spricht, die anderen aber mit ihren Bildern das Wesen des Liedes lyrisch evozieren.


    Dem genauen Hinhören, verbunden mit dem Blick in die Noten, enthüllt sich nun dieses kleine, im Vortrag nur eine gute Minute in Anspruch nehmende Lied als überaus kunstvoll gestaltetes lyrisch-musikalisches Gebilde, - kunstvoll in der Art und Weise, wie die einzelnen Melodiezeilen durch die Wiederkehr von Elementen miteinander verschränkt und in Beziehung gesetzt sind, und wie das Klavier sie seinerseits aufgreift und sie in der Manier des Kanons der melodischen Linie nachklingen lässt oder sie ihr vorausschickt. Kunstvoll aber auch darin, wie die jeweilige lyrisch-sprachliche Aussage im Zusammensiel von melodischer Linie und Klaviersatz musikalisch aufgegriffen wird: Es ereignet sich dabei eine vollkommene Verschmelzung, die zur Folge hat, dass die Musik die lyrische Aussage gleichsam potenziert.


    Höchste klangliche Reduktion und Verdichtung machen das Wesen von Weberns gereifter Liedkomposition aus. Das „Vorspiel“ besteht hier aus einem einzigen, im dreifachen Piano angeschlagenen dissonanten Akkord aus den Tönen „H-Es-B-D“, dem im Bass ein einzelnes tiefes „E“ nachfolgt. Danach setzt die Singstimme mit ihrer ersten Melodiezeile ein, die aus zwei Elementen besteht: Dem Anstieg in zwei kleinen Sekunden und einer kleinen Terz bei den Worten „Dies ist ein Lied“ und der Kombination aus kleinem Terzsprung und einem doppelten verminderten Quartfall bei „für dich allein“. Das Klavier begleitet dies mit einer Modifikation des Anfangsakkords und einer nachfolgenden Figur aus Achteln, in der dieser zweite melodische Schritt der Singstimme nachvollzogen wird.


    Diese beiden melodischen Figuren, aus denen die erste Zeile zusammengesetzt ist, kehren am Ende des Liedes – nur leicht modifiziert – bei den Worten „es ein Lied, das rühre sein“ wieder. Und auch hier vollzieht das Klavier im Diskant in ruhig ausklingender, weil gedehnter Weise die letzten melodischen Schritte noch einmal nach. Bemerkenswert ist aber, dass Webern hier nun zwischen die beiden Teile der Melodiezeile eine Viertel-Pause setzt und zudem ein Ritardando vorschreibt. Auf diese Weise erhält der Wunsch, dass das Lied das Du „rühren“ möge, einen starken musikalischen Akzent.


    Die der letzten Melodiezeile vorgeschaltete melodische Bewegung, die auf den Worten „nur dir allein“, hat in ihrer Grundstruktur ebenfalls Vorgänger. Sie finden sich bei den Worten „von kindischem Wähnen“ und „von frommen Tränen“. Die melodische Linie vollzieht hier eine wellenartige Bewegung, die, bei größer werdenden Intervallen, am Ende in einen Quartfall mündet. Bei den Worten „von frommen Tränen“ ereignet sich diese Bewegung noch einmal, nun allerdings tonal um eine Sekunde angehoben und mit harmonischen Rückungen verbunden.


    Das Zentrum des Liedes bilden die Verse „Durch morgengärten klingt es / Ein leichtbeschwingtes“. Die beiden Melodiezeilen, die auf diesen Versen liegen, sind wiederum bogenförmig angelegt, entfalten aber weitaus mehr klangliche Expressivität als die übrigen des Liedes, da die Singstimme Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle macht, - allerdings auch hier, wie durchweg im Lied, im Pianissimo-Bereich verbleibend. Bei „durch morgengärten“ beschreibt die melodische Linie zunächst einen Sextsprung zu einem hohen „Es“, und hier leuchtet zum ersten und einzigen Mal in diesem Lied in der Begleitung ein Dur-Akkord auf, - das lyrische Bild klanglich imaginierend. Danach geht es noch innerhalb dieses Wortes „morgengärten“ nach einem Sekundfall über eine ganze Oktave abwärts, bevor die melodische Linie dann wieder in mittlere Lage zurückkehrt und dort kurz verharrt.


    Die Worte „ein leicht beschwingtes“ werden ebenfalls auf einer – klanglich beschwingt wirkenden – bogenförmigen melodischen Linie deklamiert, die mit vier Sprüngen eine ganze Oktave übergreift. Auch das Klavier entfaltet in dieser zentralen Passage des Liedes größere klangliche Expressivität. Im Bass erklingen zunächst aus Sechzehnteln gebildete Figuren, die dann, bei der zweiten Melodiezeile in das lebhafte Auf und Ab von Zweiunddreißigsteln übergehen. Am Ende, bei dem Wort “beschwingtes“, erklingt im Klavierbass ein Tonsprung über sechzehn Stufen, - im dreifachen Piano allerdings.


    Das ist ein leises, den Bereich des Pianos niemals verlassendes Lied, in dem die melodische Linie in ihren Bewegungen auch dort, wo sie größere Intervalle nimmt, äußerste Behutsamkeit wahrt, - Ausdruck der Zartheit, die den lyrischen Aussagen innewohnt.

  • Man kann dieses Lied bei YouTube in mehreren Interpretationen hören, auch das ganze Opus 3 ist in zwei Gesamtaufnahmen dort vorhanden. Sie sind aus meiner Sicht aber nicht empfehlenswert. Es ist geradezu verblüffend, was man gesanglich-interpretatorisch mit diesen Liedern anstellen kann.
    Hörenswert scheint mir diese Aufnahme von "Dies ist ein Lied für dich allein" zu sein. Sie hat den Vorteil, dass man auch die Noten mitlesen kann:



    https://www.youtube.com/watch?v=Z_ie7pdlzqk


    Auf diese Aufnahme verweise ich nur, weil sie alle Lieder des Opus 3 enthält. Sie wird, so meine ich, Weberns Kompositionen nicht gerecht.



    https://www.youtube.com/watch?v=rCgB53xIxjk

  • Wenn ich unter der Vorgabe, ein für Anton Weberns Liedsprache repräsentatives Lied zu präsentieren, eine Auswahl aus seinem Liedschaffen treffen sollte, - ich würde durchaus zu diesem hier greifen. Hier ist alles da, voll und ganz, was das Wesen des Webern-Liedes auszeichnet: Die Verdichtung zum musikalischen Stenogramm, das Gerinnen von lyrischer Sprachlichkeit zu musikalisch-lyrischer und das dialogisch überaus zarte und vollkommen ausgewogene Zusammenspiel von eigenständiger Melodik und Klaviersatz. Die Liedmusik entfaltet sich in engster Anbindung an den lyrischen Text, - dies nicht nur, was dessen prosodische Gestalt anbelangt, sondern auch seine Semantik betreffend. Auf beiden Ebenen ist eine derart stark ausgeprägte Nähe gegeben, dass einem das Lied als Wiederkehr des Gedichts in musikalischer Gestalt begegnet, - eben dies der Grund, weshalb Th. W. Adorno von Anton Webern als dem „Lyriker“ unter den Vertretern der Zweiten Wiener Schule sprach. Sein liedkompositorisches Konzept, und das seiner Musik überhaupt, sei, so meinte er, das von „absoluter Lyrik“:
    „Die Idee Weberns (…) ist eine von absoluter Lyrik: der Versuch, alle musikalische Stofflichkeit; auch alle objektiven Momente musikalischer Gestalt aufzulösen im reinen Laut des Subjekts, ohne einen Rest, der diesem fremd, hart unassimiliert gegenüberstünde…“.


    Georges Gedicht weist eine dreiteilige innere Gliederung auf: In den ersten beiden Versen spricht das lyrische Ich das Du an, in den Versen drei bis sechs erfolgt eine Aussage über Inhalt und Wesen des „liedes“ selbst, und die letzten drei Verse sind wieder vom lyrischen Ich an das Du gerichtet, wobei das anfängliche „für dich allein“ nun als „nur dir allein“ wiederkehrt und mit dem Wunsch verknüpft wird, das Lied möge das Du „rühren“. Diese inhaltliche Gliederung schlägt sich auch in der Metrik und im Rhythmus der lyrischen Sprache nieder: Der erste und dritte Teil weist ein jambisches Metrum mit stumpfer Kadenz auf, der Mittelteil ist stark daktylisch geprägt, wirkt rhythmisch beschwingter, ohne den gleichsam konstatierenden Gestus des Eingangs und des Schlusses, und die Kadenzen sind dementsprechend durchgängig klingend.


    All dieses spiegelt sich in der Struktur des Liedes. Die Melodiezeilen auf den Versen eins, zwei und sieben bis neun sind allesamt bogenförmig angelegt: Die melodische Linie steigt an und geht danach in eine Fallbewegung über. Und noch mehr: Sie setzt sich aus wiederkehrenden Figuren zusammen, ganz die Tatsache reflektierend, dass diese Passagen des lyrischen Textes als Äußerungen des lyrischen Ichs ja korrespondieren, - bis in die Wortwahl hinein. Die melodischen Korrespondenzen bestehen zwischen den Worten: „Dies ist ein Lied“ und „es ein Lied“, „für dich allein“ und „das rühre sein“.


    Im Mittelteil des Liedes geht die melodische Linie – darin wiederum die Sprachmelodie reflektierend – von konstatierenden Gestus in den schwingend-klingenden über: Sie nimmt in ihren Bewegungen eine wellenartige Struktur an, die sich dort mit ihren Amplituden in größere Intervalle steigert, wo der lyrische Text vom Schwingen des Liedes durch die „Morgengärten“ spricht, sich darin aber wieder leicht zurücknimmt, wenn nur noch vom „leichten Beschwingt-Sein“ des Liedes die lyrische Rede ist.


    Und auch hier gibt es strukturelle Korrespondenzen: Die melodische Linie auf den Worten „von kindischem Wähnen“ kehrt in fast identischer Weise, nur um eine Sekunde in der tonalen Ebene angehoben, bei den Worten „von frommen Tränen“ wieder; und die bogenförmige Wellenbewegung auf dem Vers „ein leicht beschwingtes“ wirkt wie eine in der Amplitude reduzierte Wiederkehr der auf dem Vers „Durch Morgengärten klingt es“.


    Weberns Komposition weist also in der Tat nicht nur eine hochgradige Engführung zwischen Liedmusik und lyrischem Text in all seinen Ebenen auf, sie geht darüber hinaus. Sie stiftet vollkommene Identität, lässt den lyrischen Text als solchen in musikalischer Gestalt wiederkehren.

  • Stefan George: „Im windesweben“


    Im windesweben
    War meine frage
    Nur träumerei.
    Nur lächeln war
    Was du gegeben.
    Aus nasser nacht
    Ein glanz entfacht –
    Nun drängt der mai,
    Nun muß ich gar
    Um dein aug und haar
    Alle tage
    In sehnen leben.



    Anton Webern: „Im Windesweben“, op.3, Nr.2

    Das Wort „Windesweben“ setzt den maßgeblichen lyrischen Akzent. Im Zentrum des Gedichts steht die Erfahrung der Vergänglichkeit. Den lyrischen Bildern wohnt Bewegtheit und Flüchtigkeit inne: Die Frage war nur „Träumerei“; aus „nasser Nacht“ bleibt nur ein „Lächeln“ zurück; der Mai „drängt“, und das bringt mit sich, dass für das lyrische Ich nur das „Sehnen um Aug und Haar“ des Du bleibt.


    Die Liedmusik reflektiert all das in beeindruckender Weise. Die Vortragsanweisung lautet: „Sehr fließend. Bewegtester Ausdruck“. Hochgradige Bewegtheit, die sich bis zur Flüchtigkeit steigert, prägt vor allem den Klaviersatz. Er besteht durchgehend aus in linearem Auf und Ab dahineilenden Achteln und Sechzehnteln, die sich nur an wenigen Stellen zu – zumeist zweistimmigen – Akkorden komprimieren und in Diskant und Bass große tonale Räume durchlaufen. Das Klavier scheint sich in dieser „Windesweben“ imaginierenden, von Unruhe und Eile getriebenen Bewegtheit in gar keiner Weise um die melodische Linie der Singstimme zu scheren. Der klangliche Eindruck, der sich alsbald hinsichtlich des Verhältnisses von Singstimme und Klavier einstellt, ist der eines völlig disparaten Nebeneinanders.


    Dieser Eindruck kommt vor allem dadurch zustande, dass es nicht nur – bedingt durch die Atonalität – keinerlei harmonische Konkordanz zwischen Vokallinie und Klaviersatz gibt, das ist ja der Normalfall bei diesen Liedern, es gibt auch keine rhythmische, keine, die aus einem Zusammenstimmen der deklamatorischen Bewegungen und der Metrik des Klaviersatzes hervorgehen könnte. Und hierin gründet die liedkompositorische Größe dieses Liedes: In der Eigenart seines Satzes, das Nebeneinander von melodischer Linie und Klaviersatz betreffend, reflektiert die Liedmusik die Situation des lyrischen Ichs, das sich in der Erfahrung der Vergänglichkeit auf das Sich-Sehnen nach dem Du zurückgeworfen sieht.


    Mit einer „ppp“ artikulierten Fallbewegung von Sechzehnteln von einem hohen „Cis“ im Diskant zu einem tiefen „A“ im Bass imaginiert das Klavier das „Windesweben“ und setzt damit den das Lied einleitenden und dann im folgenden bestimmenden klanglichen Akzent. Gleichzeitig wird damit eine melodische Figur vorgegeben, aus der sich dann die Bewegung der melodischen Linie speist und die insofern eine klanglich prägende Wirkung entfaltet. Es ist eine Kombination aus Sextsprung und doppeltem Quartfall. Gleich am Liedanfang lässt sie das Klavier erklingen, und die Singstimme greift sie dann bei den Worten „Nur Lächeln war“, am Anfang der zweiten Melodiezeile also, auf.


    Zwar begegnet sie einem in dieser gleichsam reinen Form nicht wieder, aber Quartfall-Bewegungen spielen, neben denen über das Intervall einer Septe, eine große Rolle in der Art, wie die Vokallinie sich entfaltet, und sie sind wohl als Ausdruck der großen seelischen Erregung des lyrischen Ichs zu verstehen. Dort, wo diese dann ihren Höhepunkt erreicht, bei der Forte- und Fortissimo-Aufgipfelung in der letzten, die drei letzten Verse umfassenden Melodiezeile, beschreibt die melodische Linie diesen Sextsprung wieder: Zu dem Wort „Sehnen“ hin, das fortissimo auf einem hohen „E“ deklamiert wird, das dann auf klanglich reizvolle Weise in eine Fallbewegung aus kleinen Sekunden und einer verminderten Sexte übergeht, wobei der Sekundfall auf dem Wort „leben“ mit Portati versehen ist.


    Das Klavier artikuliert hier eine fortissimo angeschlagene Kette von Sechzehnteln, die aus dem tiefen Bass in große Diskanthöhe emporschießen, und verleiht so diesem Klageton der Singstimme am Ende starken Nachdruck. Ohnehin wollen diese linienförmigen Klangströme aus Achteln und Sechzehnteln im Klaviersatz nicht auf einer tonalen Ebene verbleiben und durchlaufen immer wieder, sowohl nach oben wie nach unten gerichtet, große tonale Räume. Hierin wurzelt wesentlich der Eindruck von Unruhe, der von dem Lied ausgeht.


    Abgesehen von dem vierstimmigen Akkord, der unmittelbar nach dem Einsatz der Singstimme erklingt, gibt es nur eine Stelle im Lied, wo sich eine gewisse, aus staccato angeschlagenen Akkorden im Diskant hervorgehende Statik einstellt, - bei den Worten „Aus nasser Nacht ein Glanz entfacht“ nämlich. Dieser statische Moment ist aber ein höchst flüchtiger. Die melodische Linie der Singstimme beschreibt hier zwei kurze Aufstiegsbewegungen über eine Terz und eine Quarte und geht dann bei „Glanz entfacht“ in einen ausdrucksstarken – und im Grunde überraschenden – Septfall über. Begleitet wird dieser von einer Fallbewegung von Akkorden, und für den Vortrag ist ein Ritardando vorgegeben. Einen Augenblick lang meint man an dieser Stelle die Empfindungen dessen zu haben, was das lyrische Bild beinhaltet.


    Es folgt eine Viertelpause, und mit einem Accelerando setzt sich im Klavier in Gestalt aufsteigender zweistimmiger Akkorde im Diskant und bogenförmig fallender und steigender Achtel im Bass die unruhige Bewegung fort, die für das Lied so typisch ist.

  • Man kann dieses Lied bei YouTube u.a. in den beiden folgenden Aufnahmen hören. Obwohl es sich im zweiten Fall bei der Interpretin um eine bedeutende deutsche Sopranistin handelt – die Aufnahme ist ein Mitschnitt von den Schwetzinger Festspielen 2011 - , würde ich der ersten den Vorzug geben.
    Wer hier die Interpretin ist, lässt sich - leider – wieder einmal nicht feststellen, die Angaben dazu sind rätselhaft. Es handelt sich aber um die gleiche Sängerin, deren Interpretation mich schon beim Lied „Dies ist ein Lied für dich allein“ überzeugt hat.
    Christine Schäfer trägt das Lied in zu raschem Tempo vor. Auf diese Weise kommen die einzelnen Melodiezeilen in ihrer klanglichen Struktur und ihrer musikalischen Aussage nicht hinreichend zur Geltung. Auch der Pianist hat nicht die Möglichkeit, den Klaviersatz in seiner Struktur artikulatorisch voll zum Erklingen zu bringen. Gerade weil aber bei Webern das Lied sich in seiner liedmusikalischen Aussage aus der einzelnen Melodiezeile generiert, vermag die Interpretation von Christine Schäfer ihm – so wie ich das sehe – nicht voll gerecht zu werden.
    Man vergleiche einmal, wie beide Sängerinnen die erste Melodiezeile auf den Worten „Im Windesweben war meine Frage nur Träumerei“ gestalten. Während sie bei Christine Schäfer so rasch deklamiert wird, dass man sie wie flüchtig wahrnimmt, arbeitet die unbekannte Interpretin der ersten Aufnahme die bogenförmige Entfaltung der melodischen Linie in ihrer z.T. triolischen Struktur sehr schön heraus.



    https://www.youtube.com/watch?v=-ZUd_4SJAWg



    https://www.youtube.com/watch?v=sACPV6LUJ9Y

  • Wieder ist es so, dass man dieses Lied als zu Musik gewordene Lyrik aufnimmt und empfindet: In seiner ganz und gar zum Stenogramm gewordenen evokativen Klanglichkeit. Sie begegnet dem Hörer vor allem in der Struktur eines Klaviersatzes, der in seiner linearen, große tonale Räume in der Gestalt von Sechzehntel-Ketten durchlaufenden drängenden Unruhe so wirkt, als würde er der Zeit davonlaufen wollen und eben gerade darin Zeitlichkeit evoziert, - die des lyrischen Ichs nämlich, das sich aus der situativen Gegenwart seiner Daseinsbefindlichkeit artikuliert.


    Diese wird lyrisch-sprachlich mit dem „Nun“ generiert, mit dem die Gruppe der letzten fünf Verse eingeleitet ist. „Nun“ ist Mai, und „nun“ muss dieses lyrische Ich, weil ihm das Du verlustig gegangen ist, im „Sehnen“ um dessen „Aug und Haar“ leben. Was ist geblieben ist, sind die Erinnerungen an eine Begegnung mit diesem, die ebenfalls nun als eine genuin zeitliche gegenwärtig sind. Alles ist flüchtig darin: Die Frage, die an das Du gerichtet wurde, war eine die „im Windesweben“ erfolgte und im Nachhinein als „Träumerei“ erscheint. Und was das Du zu geben hatte, war auch nur ein flüchtiges Lächeln „aus nasser Nacht“, das die Erinnerung als kurz entfachten „Glanz“ festhält.


    Diese situative Befindlichkeit des lyrischen Ichs, seine Erfahrung von Vergänglichkeit in der Vergegenwärtigung von Erinnerungen, die ihrerseits zur Erfahrung von Flüchtigkeit und damit Zeitlichkeit werden, reflektiert das Lied mit der Binnenspannung zwischen melodischer Linie und Klaviersatz, die in ihrem ganz und gar eigenständigen, jedem Dialog aus dem Wege gehenden Nebeneinander eben diesen inneren Dualismus des lyrischen Ichs in der Erfahrung von Zeitlichkeit in Gegenwart und Vergangenheit mit den Mitteln der Musik evoziert. Nur an einer Stelle kommen sich Vokallinie und Klaviersatz ein wenig näher: Bei dem Bild „Aus nasser nacht / ein glanz entfacht“. Und hier zeigt sich, wie tief die Liedmusik in die semantische Ebene des lyrischen Textes vordringt und sie mit ihren Mitteln zu erfassen vermag. Dieses Bild ist das einzige, dem eine gewisse Statik innewohnt, das nicht ganz und gar Flüchtigkeit, und damit Zeitlichkeit, atmet. Und prompt geht der Klaviersatz hier – im Einklang mit der Struktur der melodischen Linie – von seinen geradezu hektisch ausgreifenden Sechzehntel-Bewegungen zu vergleichsweise ruhig wirkenden Folgen von – z.T. triolischen – Achtel-Akkorden im Diskant über.


    Wie in der Intention einer Evokation von Zeitlichkeit zu sich selbst gekommen begegnet einem der Schluss des Liedes. Nachdem die melodische Linie, darin die augenblickliche situative Befindlichkeit des lyrischen Ich reflektierend, sich mittels Nonen- und Dezimen-Sprüngen forte in extrem hohe Lage gesteigert und damit den Höhepunkt ihrer Expressivität erreicht hat, geht sie am Ende, bei den Worten „Sehnen leben“ in eine Fallbewegung aus Sexte und Sekunde über, - und reißt einfach ab. Das Lied endet in klanglich geradezu schroffer Weise, denn die nach oben schießende Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Kette im Klaviersatz endet um eine Achtelpause vor der melodischen Linie.
    Die zentrale Aussage des Liedes wird zum sinnlich-musikalischen Ereignis: Zeitlichkeit, Vergänglichkeit.

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  • Stefan George: „An baches ranft“


    An baches ranft
    Die einzigen frühen
    Die hasel blühen.
    Ein Vogel pfeift
    In kühler au.
    Ein leuchten streift
    Erwärmt uns sanft
    Und zuckt und bleicht.
    Das feld ist brach,
    Der baum noch grau …
    Blumen streut vielleicht
    Der lenz uns nach.



    Anton Webern: „An Bachesranft“, op.3, Nr.3

    In seiner wie punktuell aufblühenden, hingetupft wirkenden kristallinen Klanglichkeit begegnet dieses Lied dem Hörer wie der Inbegriff musikalischer Lyrik. Das lyrische Wort wirkt, als hätte es eine Metamorphose durchlaufen, sei in Musik wiedererstanden. Das Gedicht besteht aus einer Reihung von punktuell gesetzten, nicht in direktem Zusammenhang stehenden Bildern, die Frühling evozieren, darin wesenhaft deskriptiver Art sind, an zwei Stellen jedoch eine ihre Naturbezogenheit transzendierende Perspektive zum Menschen aufweisen: Dort, wo das Personalpronomen „uns“ in die Abfolge der lyrischen Bilder tritt.


    Weberns Liedmusik folgt den Bildern in enger Anbindung an die sprachliche Gestalt ihrer Präsentation und verleiht dabei mit ihrem klanglichen Potential der dichterischen Aussage eine zusätzliche evokative Dimension. Strukturell ergibt sich daraus eine Folge von kleinen Melodiezeilen, die ein hochgradiges evokatives Potential aufweisen, wobei den Pausen, die zwischen die Zeilen geschaltet sind, eine wichtige Funktion zukommt: Sie steigern die musikalische Aussage, indem sie aus den Melodiezeilen klangliche Solitäre machen. Pause und Intervall sind für den auf miniaturhafte Verdichtung des Aussagepotentials ausgerichteten Kompositionsstil Webens wesentliche, gleichsam konstitutive musikalische Ausdrucksmittel.


    Das alles kann man bei diesem Lied auf klanglich wahrlich beeindruckende Weise erleben und erfahren. Nur durch eine Sechzehntelpause ist die erste Melodiezeile von der nachfolgenden abgesetzt. Aber mit ihrem Quartsprung zu einem hohen „B“, das auf der ersten Silbe des Wortes „Bachesranft“ liegt, eine Dehnung trägt und dann in einer Fallbewegung über das gleiche Intervall übergeht lässt sie wie in einer Art musikalischer Eröffnung den Ort aufklingen, an dem die nachfolgenden lyrischen Bilder sich entfalten.


    Die nächste Melodiezeile umfasst die Verse zwei und drei. Hier werden die Worte „einzigen“ und „Hasel“ mittels einer in kleinen Sekundschritten aufgipfelnden Dehnung in hoher Lage mit einem melodischen Akzent versehen. Bemerkenswert ist hier der verminderte Septfall auf dem Wort „frühen“. Es steht bei George am Versende, trägt einen metrischen Akzent und hat von daher Gewicht. Webern aber nimmt das mit seinem Septfall weg und steigert auf diese Weise den klanglichen Akzent der aus einem Terzsprung hervorgehenden Sekundanstiegs-Dehnung bei dem Wort „Hasel“. Diesem Bild will er besonderes Gewicht verleihen, und deshalb lässt das Klavier an dieser Stelle im Diskant ein klanglich lieblich wirkendes Auf und Ab von Achteln und Sechzehnteln erklingen.


    Dieser, wie auch der nachfolgenden Melodiezeile („Ein Vogel pfeift in kühler Au“) liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, der danach von einem Zweivierteltakt abgelöst wird. Auch der Taktwechsel ist ein von Webern häufig eingesetztes, weil der Akzentuierung dienendes Ausdrucksmittel. An der dritten und der vierten Melodiezeile kann man das vernehmen. Mit einem Quartsprung, der mit aufsteigenden Terzen und einer fallenden Quart und einer Quinte begleitet wird, setzt die melodische Linie bei „ein Vogel“ ein. Auf der ersten Silbe von „Vogel“ liegt eine Dehnung, danach beschreibt die Vokallinie einen verminderten Quartfall und bewegt sich in zwei raschen Sekundfall-Sprüngen nach oben in mittlere tonale Lage. Bei den Worten „Ein Leuchten streift und erwärmt uns…“ ereignet sich dann, nun im Zweivierteltakt und aus diesem Grund deklamatorisch entsprechend akzentuiert, eine Aufwärtsbewegung der Vokallinie über ein großes Intervall. Die einzelnen lyrischen Worte entfalten hier eine starke musikalische Expressivität, - besonders die Worte „erwärmt uns“: Durch die hohe Dehnung, die auf der zweiten Silbe von „erwärmt“ liegt und dann in einen Sextfallt übergeht.


    Die Worte „sanft und zuckt und bleicht“ werden auf Sprung- und Fallbewegungen in kleinen Sekunden in Gestalt von Achteln und Sechzehnteln deklamiert, wobei in diese kleine Melodiezeile zwei Sechzehntel-Pausen eingeschoben sind, so dass sie klanglich so zerstückelt wirkt, dass man das „Zucken“ zu vernehmen meint. Die letzten drei Melodiezeilen (Verse 9, 10, 11 und 12), die eine Einheit bilden, werden in noch stärker ausgeprägter Weise mittels Pausen zu singulären musikalisch-lyrischen Gebilden von hoher Expressivität gemacht. Bei „Das Feld ist brach“ steigt die melodische Linie über einen Quart- und einen Sekundsprung zu einem „Gis“ in mittlerer tonaler Lage auf und verharrt dort in einer Dehnung.


    Danach folgt für die Singstimme eine Viertelpause, in der sich „ppp“ eine Aufstiegsbewegung von Sechzehnteln von einem sehr tiefen viergestrichenen „Cis“ im Klavierbass zu einem extrem hohen zweigestrichenen „F“ im Diskant ereignet, - Vorbote der späteren Hinwendung Weberns zum Zwölftonprinzip. Bei den Worten „Baum noch grau“, die auf einer in Sekunden fallenden melodischen Linie deklamiert werden, artikuliert das Klavier eine im Intervall ähnlich große Fallbewegung von Achteln.


    Sie erstreckt sich bis in die ganztaktige Pause für die Singstimme vor der letzten Melodiezeile, die wiederum von hoher musikalischer Expressivität ist. Im dreifachen Piano soll „langsam, äußerst zart, zögernd“ deklamiert werden. Die Begleitung besteht jetzt nur noch aus länger gehaltenen dissonanten Akkorden. Bei den Worten „Blumen streut“ macht die melodische Linie einen ausdrucksstarken Sturz über eine None, steigt dann in raschen Schritten (Quinte, Sekunde, Terz) zu einem „C“ bei dem Wort „Lenz“ auf, das eine Dehnung trägt. Das letzte Wort „nach“ wird auf einem tiefen „Fis“ deklamiert, das durch eine Achtelpause von dem vorangehenden „uns“ abgehoben ist. Man empfindet das als musikalischen Ausdruck jener Ungewissheit, die mit dem Wort „vielleicht“ in die Aussage der Verse gekommen ist.

  • Alle lyrischen Bilder von Georges Gedicht evozieren die Erfahrung von Vorfrühling, gemacht am Rand eines Baches. Eigen ist ihnen allesamt eine Zartheit, die aus ihrem Wesen hervorgeht: Es ist das der Andeutung, der Verheißung, ja des „Vielleicht“, wie es der zweitletzte Vers zum Ausdruck bringt, das „Vielleicht“ von Blumen, die der Lenz streuen wird. Aus dem Dualismus zwischen „noch“ und „jetzt“, zwischen Winterszeit und der Verheißung von Frühling bezieht das Gedicht seinen ganz spezifischen Reiz und seine poetische Aussage. Alles ist lyrische Skizze früher Verheißung. Ein Vogel pfeift, aber er tut es „in kühler Au“, es gibt ein „Leuchten“, aber das vermag nur zu „streifen“ und „sanft“ zu erwärmen. Und schon zuckt es und „bleicht“ wieder, denn das Feld ist ja noch „brach“ und der Baum „grau“.


    Lyrische Skizze in zarten, aus der Verheißung ihr Leben beziehenden Bildern ist das Wesen des Gedichts, - und das Wesen von Weberns Lied. Es begegnet einem wieder wie alle seine, die kompositorische Vollendung erreicht habenden Kompositionen: Der lyrische Text kehrt in seiner lyrisch-sprachlichen Gestalt in Musik verwandelt wieder, darin auf eine neue semantische Ebene gehoben und auf diese Weise bereichert. Bei den drei ersten Versen, denen zwei Melodiezeilen zugeordnet sind, reflektiert die Liedmusik die Ruhe des lyrischen Bildes vom „Blühen der Hasel“. Allerdings ist bemerkenswert, dass die melodische Linie bei den Worten „die Hasel“ aus einer Fallbewegung bei dem Wort „frühen“ mit einem Mal zu einer Kombination aus Sext- und Terzsprung ansetzt. Es ist eben dieses Signal der Verheißung kommenden Frühlings, das mit einem melodischen Akzent versehen werden will.


    In dem Augenblick, wo Bewegung in die lyrischen Bilder kommt, beim „Pfeifen“ des Vogels „in kühler Au“ und beim „Leuchten“, das „erwärmt“ zugleich aber „zuckt“ und „verbleicht“, schlägt sich diese Vielfalt von lyrischen Aussagen in einem hochkomplexen, bis in die Rhythmisierung reichenden Zusammenspiel von lebhaft sich bewegender Melodik und einem aus vielfältigen Achtel- und Sechzehntel-Figuren und Akkorden bestehenden Klaviersatz nieder. Der auf das evokative Potential von klanglichen Einzelelementen angelegte, und eben darin genuin lyrische, Charakter dieser Liedmusik wird besonders sinnfällig bei den Worten „Ein Vogel pfeift in kühler Au“. Melodische Linie und Klaviersatz artikulieren beide nur Klangtupfer, und dies in völlig eigenständiger Weise, die so weit geht, dass das Klavier zwischen seine akkordischen und Sechzehntel-Figuren kurze Pausen einschiebt, während die Singstimme nach einem gedehnten verminderten Quartfall bei dem Wort Vogel zu geradezu hektischen Sprungbewegungen in Gestalt von Sechzehnteln übergeht, wobei dann das Wort „Au“ am Ende wie isoliert auf einem „Fis“ erklingt, - isoliert, weil das Klavier schweigt und das „Fis“ nun den vergleichsweise gewichtigen Wert eines Achtels hat.


    Das alles wirkt klanglich wie skizziert und reflektiert darin das Wesen des lyrischen Bildes: Seinen Charakter als Andeutung, als Verheißung von Frühling. Und diese vollkommene Einheit von lyrischer Sprache und Liedmusikerlebt man dann am Ende des Liedes in wiederum beeindruckender Weise noch einmal, - im Zu-Musik-Werden“ dieses lyrisch so zentralen Wortes „vielleicht“.


    Es ist ja doch keine Gewissheit, die sich hier lyrisch artikuliert, eher nur eine Hoffnung des lyrischen Ichs. In der Melodik drückt sich das so aus, dass sich vor eben diesem Wort „vielleicht“ ein Fall über das Intervall einer verminderten Oktave ereignet, dann die Vokallinie sich wieder über das gleiche Intervall nach oben erhebt, um dann nicht nur in eine Fallbewegung überzugehen, sondern auch in den letzten verminderten Quartfall eine Achtelpause zu legen. Das Wort „auch“ erklingt deklamatorisch in höchst markanter Weise isoliert, denn das Klavier hat seinen sechsstimmigen Akkord längst angeschlagen und lässt ihn ausklingen.
    Ein Bruch in der Melodik in Gestalt einer winzigen Pause, die ein Wort in die klangliche Isolation setzt: Musikalische Evokation des lyrischen Wortes „vielleicht“, aus dem Georges Gedicht wie aus einer Quelle seinen Gehalt bezieht.

  • Stefan George: „Im morgentaun“


    Im morgentaun
    Trittst du hervor
    Den kirschenflor
    Mit mir zu schaun,
    Duft einzuziehn
    Des rasenbeetes.
    Fern fliegt der staub …
    Durch die natur
    Noch nichts gediehn
    Von frucht und laub –
    Rings blüte nur …
    Von süden weht es.



    Anton Webern: „Im Morgentaun“, op.3, Nr.4

    Das Lied setzt sich aus sechs unterschiedlich großen Melodiezeilen zusammen, die wieder wie atonal hochexpessive, klanglich verdichtete und darin gleichsam insulare Gebilde die Aussagen des lyrischen Textes in seiner sprachlichen Struktur musikalisch reflektieren. Die erste Zeile umgreift die Verse eins bis vier, die zweite die Verse fünf und sechs, die dritte besteht nur aus dem siebenten Vers („Fern fliegt der Staub“), der damit in besonderer Weise musikalisch exponiert wird, die vierte Zeile umfasst die Verse acht bis zehn, und die beiden letzten Zeilen bestehen wiederum aus nur einem Vers. Dieser innere Aufbau des Liedes ist musikalischer Niederschlag der Struktur des lyrischen Textes: Die größeren Liedzeilen reflektieren die höhere Komplexität der sich in den jeweiligen Versgruppen konstituierenden lyrischen Bilder.


    Auch hier ist der Taktwechsel und sind die Pausen wieder wesentliche, weil die musikalische Aussage der einzelnen Melodiezeilen maßgebliche prägende kompositorische Elemente. In diesem miniaturhaften Lied wechselt der Takt insgesamt sieben Mal, was deutliche Auswirkungen auf die Rhythmisierung des Klaviersatzes und die deklamatorische Struktur der melodischen Linie hat. Im Dreiviertakt setzt es ein. Aus hoher Diskantlage fällt eine Zweiunddreißigstel-Quintole pianissimo in die Tiefe. Der letzte Ton, ein tiefes „Des“, trägt eine Fermate. Nun setzt die Singstimme, ebenfalls pianissimo, auf einem tiefen „F“ ein und bewegt sich bei den Worten „im Morgentaun trittst du hervor“ in zwei ruhig deklamierten Anläufen in den von Webern bevorzugt eingesetzten kleinen Sekundschritten über das Intervall einer Terz nach oben, beschreibt aber beim letzten Schritt wieder einen Sekundfall.


    Die lyrische Situation wird mit dieser ruhigen Bewegung in beeindruckender Weise musikalisch evoziert. Dann kommt ein Viervierteltakt in den zweiten Teil der Melodiezeile, der in die Vokallinie etwas mehr Bewegung bringt. Sie macht zu dem Wort „Kirschenflor“ hin einen verminderten Sextsprung, der noch innerhalb dieses Wortes in einen Terz- und einen kleinen Sekundfall übergeht. Es erhält auf diese Weise einen eigenartigen klanglichen Akzent, bei dem das anfängliche Aufleuchten wie in eine Verschattung übergeht. Und tatsächlich fällt die melodische Linie danach zu dem Wort „schaun“ hin in drei Schritten über das Intervall einer kleinen Quinte ab.


    Die Worte „Duft einzuziehn“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die mit einer relativ langen Dehnung (Fermate) auf einem hohen „G“ einsetzt und danach einen regelrechten Sturz über das Intervall von dreizehn Tonschritten (bis zu einem tiefen „H“) vollzieht. Das Klavier begleitet diese ungewöhnliche melodische Bewegung, die klanglich wohl dieses Bild vom „Einziehen“ imaginiert, mit einem arpeggierten dissonanten Akkord. Die Worte „des Rosenbeetes“ wirken mit den beiden Fallbewegungen von kleiner Terz und kleiner Sekunde in tiefer Lage wie ein Nachklang dieser kleinen, aber höchst expressiven melodischen Passage.


    Ebenso beeindruckend und höchst treffend wird das Bild „fern fliegt der Staub“ klanglich evoziert. Die melodische Linie vollzieht „ppp“ nur drei Tonschritte in unterer Mittellage: Einen kleinen Sekundfall, einen kleinen Terzsprung und erneut einen kleinen Sekundfall. Dort, auf einem „G“ (bei dem Wort „Staub“), verharrt sie lange - ein Ritardando ist hier vorgeschrieben – und danach folgt über eine lange Pause Stille in der Melodik, derweilen das Klavier die anfänglich in extrem hoher Diskantlage einsetzende Fallbewegung von Zweiunddreißigsteln in tiefer Lage „verklingen“ (Anweisung) lässt. Es ist, als würde man dem Staub bei seinem Flug in der Ferne nachlauschen.


    „Etwas langsamer als zu Beginn“ sollen die letzten drei Melodiezeilen vorgetragen werden. Die erste, die Verse acht bis zehn umfassend, setzt im Dreivierteltakt ein, der aber bei „nichts gediehn“ in einen Viervierteltakt übergeht. Die Vokallinie steigt, aus einem kleinen Terzfall kommend, in hohe Lage auf, gipfelt bei dem Wort „nichts“ auf und verleiht ihm dadurch einen Akzent. Die Worte „von Frucht“ und „und Laub“ werden auf zwei Terzschritten deklamiert, wobei beim zweiten das „Gis“ zu einem „G“ abfällt, was das Bild des „nichts gediehn“ klanglich in Stille münden lässt. Eine Pause folgt auch tatsächlich nach.


    Die beiden letzten Melodiezeilen wirken wie zwei durch eine Pause voneinander abgehobene klangliche Miniaturen, bei denen die Vokallinie aus einer weit ausgreifenden, über eine None sich erstreckende „Sprung- und Fallbewegung in ein in kleinen Sekunden und Terzen sich vollziehendes Auf und Ab in tiefer Lage übergeht. Dies bei den Worten „Von Süden weht es“. Das Lied klingt auf höchst beeindruckende Weise „wie ein Hauch“ aus.

  • Georges Gedicht weist eine innere Zweigliedrigkeit auf. Die beiden Teile umfassen jeweils sechs Verse, so dass sich eine innere Ausgewogenheit der lyrischen Aussagen, der ihnen zugrundeliegenden Intention und der daraus sich ergebenden Perspektive einstellt. Der ersten Teil gibt sich wie eine epische Eröffnung in Gestalt eines deskriptiven Entwurfs einer Ausgangssituation: Das Du tritt „im Morgentaun“ hervor, um mit dem lyrischen Ich zusammen frühlingshafte Natur zu erfahren. Hier aber schon treten genuin lyrische Elemente in den episch-sprachlichen Gestus der Eröffnung des Gedichts: Es ist ein „Schauen“, was sich hier ereignet, und der „Duft des Rasenbeetes“ wird „eingezogen“, - nicht „eingesogen“, denn das wäre zu wenig des aktiven Willens, Natur zu erfahren, sie in sich aufzunehmen.


    Nach dem Wort „rasenbeetes“ setzt George einen Punkt. Was folgt, im zweiten Teil des Gedichts, sind lyrisch-bildhafte, gleichsam impressionistische Evokationen von Erfahrungen, die sich nach dem „Hervortreten“ im „Morgentaun“ beim lyrischen Ich in der Gemeinsamkeit mit dem Du einstellen. Sie sind in eine Art Rahmen gestellt, der Ferne zu Nähe werden lässt: Staub „fliegt fern“ und „Von Süden weht es“. Das sind Bilder von gleichsam unorganischer Natur. Denen, die sich dazwischen finden, ist hingegen schon organisches Leben eigen, - freilich nur ein gerade erwachendes, noch keines, das wirklich „gediehen“ ist, sich erst in Blüten zeigt, denen die Verheißung von „Frucht“ innewohnt.


    Liest man Georges Gedicht, macht sich dabei dessen lyrisch-sprachliche Struktur und die Aussage seiner Metaphorik bewusst und hört dann Weberns Lied, dann wird einem auf geradezu verblüffende, und zugleich beeindruckende Weise bewusst, wie konkret sich all das in der Struktur der Liedmusik und ihrer Klanglichkeit niederschlägt. Man findet die innere Gliederung des Gedichts in seiner perspektivischen Zweigliedrigkeit wieder, und man vernimmt zugleich den unterschiedlichen Ton, in dem die Liedmusik die epischen Elemente der lyrischen Sprache und die genuin evokativen ihrer Metaphorik reflektiert.


    Das Klavier setzt mit seiner aus hoher Diskantlage in den Bass fallenden Zweiunddreißigstel-Quintole zunächst einmal, wie in einer Art Mini-Vorspiel, den klanglichen Akzent, der allen nachfolgenden, die lyrischen Bilder aufgreifenden kleinen Melodiezeilen eigen ist: Es der einer Folge von in feinen Strichen skizzierten, durch Pausen in den Rang von gleichsam singulären Gebilden erhobenen Impressionen, denen durch die Atonalität der Liedsprache eine die emotionale Tiefe der Bilder erschließende Expressivität verliehen wird, die ihre Eindringlichkeit gerade daraus gewinnt, dass sie sich im zweifachen und dreifachen Piano bewegt.


    Jeder lyrische Aussage und jedem lyrischen Bild wird eine je ganz und gar eigene Liedmusik zugeordnet, die in der Radikalität, mit der sie es in seinem evokativen Potential auslotet, dazu führt, dass sie zu einem gleichsam autonomen Gebilde wird, das keine Rücksicht auf den melodischen Kontext nehmen möchte. Der stellt sich freilich dennoch ein, und darin besteht das eigentliche Wunder der Liedkomposition Weberns.


    Die Worte „Duft einzuziehn / des Rasenbeetes“ evozieren einen ganzen Komplex von affektiven, weil aktiv, geradezu süchtig in sich aufgenommenen Frühlingserfahrungen. Die Liedmusik wird dem gerecht mit einer melodischen Linie, die mit einem gewaltigen Sprung und einer Dehnung in sehr hoher Lage einsetzt, in eine Fallbewegung über ein noch größeres Intervall, eines Duodezime nämlich, übergeht und bei dem Wort „Rasenbeetes“ dann ein wie statisch wirkendes Auf und Ab in tiefer Lage über das Intervall einer Sekunde und einer Terz beschreibt.
    Das wird vom Klavier begleitet mit einer ebenso expressiven Kombination aus atonal sechsstimmig arpeggiertem Akkord, einer in extrem hohe Lage aufsteigenden atonalen Akkordfolge und eine Sturz von Sechzehntel in extrem tiefe Basslage, der daraus hervorgeht.


    Das ist ein in der Tat liedmusikalisch singuläres Gebilde, das das affektive Potential dieses lyrischen Bildes im Sinne eines außerordentlichen Ereignisses nicht nur voll erfasst, sondern gleichsam potenziert. Gleichwohl bleibt es in alle seiner klanglichen Autonomie eingebunden in den Gang der melodischen Linie und das Kontinuum, in dem der Klaviersatz sich entfaltet.

  • Stefan George: „Kahl reckt der baum“


    Kahl reckt der baum
    Im winterdunst
    Sein frierend leben,
    Laß deinen traum
    Auf stiller reise
    Vor ihm sich heben!
    Er dehnt die arme –
    Bedenk ihn oft
    Mit dieser gunst
    Daß er im harme
    Daß er im eise
    Noch frühling hofft!



    Anton Webern: „Kahl reckt der Baum“, Op.3, Nr.5

    Die ersten drei Verse setzen das zentrale, die Thematik des Gedichts bestimmende Bild. Der kahle Baum, das seiner lebensspenden Quellen beraubte frierende Wesen, das wie um Zuwendung bittend, seine Arme breitet, bedarf, in eben dieser Zuwendung durch den Menschen, der „Träume“, auf dass er Frühlingshoffnung schöpfen kann, - Träume von Frühling, die das Eis des Winters überstehen helfen.


    Dieses lyrische Bild und das, was sich an appellativen Aussagen darum rankt, fängt die Liedmusik mit einem Grundton ein, der stark elegisch geprägt ist. In diesem Zusammenhang kommt dem Klaviersatz eine maßgebliche Rolle zu. Er begegnet dem Hörer als permanente Abfolge von stark sextenbetonten harmonischen Rückungen, die sich vorwiegend auf fallender Linie ereignen. Aber auch die melodische Linie der Singstimme atmet stark diesen elegischen Ton. Alle Melodiezeilen enden in einer intervallmäßig mehr oder weniger großen Fallbewegung. Eine Rolle spielt dabei aber auch die klangliche Wirkung, die von den atonal erfolgenden deklamatorischen Schritten ausgeht.


    Mit einer Aufeinanderfolge von zwei „ppp“ angeschlagenen Akkorden setzt das Lied ein, - der eine im Wert eines Achtels, der andere in dem mit einer Fermate versehenen Viertels. Ein einsames tiefes „F“ folgt im Bass. Das ist auch die Grundstruktur des Klaviersatzes in den folgenden drei Takten. Das Wort „kahl“ wird von der Singstimme auf einem „A“ in mittlerer Lage deklamiert. Danach folgt eine Achtelpause, bevor die melodische Linie ihre Bewegung fortsetzt. Es ist eine, die sich in ruhigen Schritten in mittlerer tonaler Lage und mit nur kleinen Intervallen entfaltet, am Ende des dritten Verses (so weit reicht diese Melodiezeile) bei „frierend“ und „Leben“ dann jeweils in einen Terz- und einen Quartfall übergeht.


    Die nächste Melodiezeile umfasst die Verse vier bis sechs, danach folgt eine Pause von drei Achteln. Die Worte „vor ihm sich heben“ erhalten durch eine erstmals in höhere Lage (zu einem hohen „D“) ausgreifende, dann aber in eine Fallbewegung im Intervall einer Sexte übergehende melodische Linie einen besonderen Akzent. Er wird dadurch verstärkt, dass das Klavier mit Akkorden diese Bewegung gleichsam echohaft mitvollzieht, - um den Wert eines Achtels versetzt. Wie ein singuläres melodisches Ereignis erklingt die kleine Liedzeile „Er dehnt die Arme“. In vier Schritten fällt die Vokallinie von einem hohen „E“ zu einem tiefen „G“ ab, einen Augenblick darin nur aufgehalten von einem kleinen Sekundsprung. Und in der langen (der Viertel-) Pause danach ereignet sich im Klaviersatz eine noch größere, aus hoher Diskantlage in den tiefen Bass reichende Fallbewegung von Oktaven. Dies alles forte, - das einzige Mal in einem Lied, das sich ansonsten ausschließlich im Pianissimo-Bereich entfaltet.


    Während die Worte „Bedenk ihn oft mit dieser Gunst“ noch in einer ruhigen, in mittlerer Lage verbleibenden Bogenbewegung deklamiert werden, kommt es in der letzten, die drei letzten Verse umfassenden Melodiezeile zu einer leichten Steigerung der Expressivität. Nun beschreibt die melodische Linie gleich zwei aufwärtsgerichtete Bewegungen, die allerdings am Ende dann doch wieder in einen Fall münden. Es ist allerdings nur der einer kleinen Sekunde, so dass man den zweimal (beim dritt- und zweitletzten Vers) sich in Sekunden und Terzen ereignenden Anstieg der Vokallinie als Ausdruck von Hoffnung aufnimmt, die hier in die Liedmusik kommt. Und der lyrische Text endet ja auch mit diesem Wort.


    Wie eine Bestätigung dieser Anmutung vernimmt man dann den für dieses Lied ungewöhnlichen, weil hochexpressiven verminderten Quartsprung zu dem Wort „Frühling“ hin. Die Singstimme deklamiert hier den höchsten Ton des Liedes, ein „A“, - das allerdings im dreifachen Piano. Es wird – in Gestalt eines punktierten Viertels – lange gehalten, bevor die melodische Linie dann wieder in eine Fallbewegung übergeht. Zur zweiten Silbe des Wortes „Frühling“ hin ereignet sich ein Terzfall, und das letzte Wort „hofft“ wird auf einem „B“ in mittlerer Lage deklamiert. Schon das Wort „Frühling“ erleidet einen leichten melodischen Bruch. Bei dem Wort „hofft“ wird daraus ein verminderter Quintfall.

  • Ein hochgradig expressives Bild steht im Zentrum von Georges Versen: Das des Baumes, den das lyrische Ich als ein Wesen erlebt, das mit Armen sein „frierend Leben“ im eisigen „Winterdunst“ reckt. Es erfährt diesen Baum als ein elementar bedürftiges, aber auch zugleich Hoffnung spendendes Wesen. So sind die Worte „bedenk ihn oft“ zu verstehen. Ihnen wohnt eine Ambivalenz inne. Da ist die mitfühlende Zuwendung auf der einen Seite, auf der anderen aber auch der aus der Begegnung mit ihm sich ergebende Glaube, dass „im harme“ und „in eise“, Bildern, denen ja auch eine existenzielle Dimension innewohnt, Hoffnung auf Frühling möglich ist.


    Man spürt im Hören von Weberns Liedmusik, dass er Georges Gedicht wohl so gelesen haben muss. Ein ausgeprägt elegischer, leicht schmerzlich angehauchter Ton ist ihm eigen, der über einen stark akkordisch geprägten atonalen Satz des Liedes zum Ausdruck gebracht wird. Keines von den fünf Liedern dieses Opus 3 weist im Klaviersatz eine solche Dichte und einen solchen Reichtum an sehr stark vermindert-sextenbetonten Akkorden auf. Und hier vermag man – wieder einmal, aber nun in besonders beeindruckender und überzeugender Weise – zu erfahren und zu erkennen, welche Bereicherung die Atonalität für die Liedmusik mit sich gebracht hat, - im Sinne einer Erweiterung ihres klanglichen Ausdruckspotentials.


    Die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs in seiner Begegnung mit einem kahlen Baum in eisig-winterlicher Landschaft vermag Webern mit einer Liedsprache, die sich in die Emanzipation der Dissonanz vorgewagt hat, in klanglich treffender und umfassender Weise musikalisch zum Ausdruck zu bringen, als dies mit den traditionellen Mitteln der harmonischen Chromatik möglich wäre. Das Wort „kahl“, mit dem das Gedicht einsetzt und das dem ersten lyrischen Bild den maßgeblichen Akzent verleiht, ist in der ersten Melodiezeile auf ein klanglich befremdlich wirkendes einsames A“ in mittlerer Lage gesetzt.


    Einsam, weil ihm in seiner Einsilbigkeit gleich eine Achtelpause nachfolgt, befremdlich, weil es mitten in diese nun von zwei Achtelpausen voneinander abgehobene und rhythmisierte Aufeinanderfolge von zwei hochgradig dissonanten Akkorden hineingesetzt wird: In Gestalt von Achteln „Cis-E-Fis-C-Es“ und unmittelbar darauf in Gestalt punktierter Viertel „C-Es-G-Cis-E“. Die Struktur von melodischer Linie und Klaviersatz vermag in eben dieser Atonalität ihrer Harmonik dem ersten Bild eine semantische Bereicherung im Sinne seiner lyrischen Aussage zu verleihen, wie das eine tonale Liedsprache nur schwerlich vermocht hätte.


    Es ist aber nicht nur die Atonalität, die Weberns Liedmusik ihren liedkompositorisch singulären Charakter verleiht. Noch stärkeres Gewicht hat unter diesem Aspekt die klangstenogrammartige Verdichtung der Liedmusik in Gestalt gleichsam singulärer kleiner Melodiezeilen. Man begegnet dem auch hier, erfasst beim bewussten Hinhören den Sinn der Sache, - und ist überzeugt. Etwa anlässlich der kleinen Melodiezeile auf den Worten: „Er dehnt die Arme“.


    Das im Zentrum des lyrischen Bildes stehende Bild des Baumes gewinnt in der Geste des „Dehnens“ der Arme seine das lyrische Ich in besonderer Weise anrührende Expressivität. Webern hat dies in seiner hochgradigen Sensibilität für lyrische Sprache natürlich sehr wohl erfasst und reagiert kompositorisch in der Weise darauf, dass er diesen Vers in ganz besonderer Weise liedmusikalisch exponiert. Eine Pause für die Singstimme im Wert von drei Achteln geht voraus. Dann beschreibt die melodische Linie eine auf einem hohen „E“ ansetzende Fallbewegung über eine verminderte Terz, eine kleine Sekund und eine große Quarte. Das Klavier begleitet das ebenfalls mit einer atonalen Fallbewegung von dissonanten Akkorden und setzt diese, nachdem in die Melodik wieder eine längere Pause, nun im Wert von drei Vierteln, eingetreten ist, in Gestalt von Oktaven bis in Basslage fort.


    Das „Recken“ der Arme wird hier auf wahrlich beeindruckende Weise gleichsam gestisch in Musik umgesetzt und gleichzeitig in seiner Einsamkeit – die Pausen rings um die kleine Melodiezeile – und in seiner ins Leere greifenden Vergeblichkeit sinnlich-musikalisch erfahrbar und nacherlebbar gemacht.

  • Stefan George: „Eingang“


    Welt der gestalten lang lebewohl!..
    Öffne dich wald voll schlohweißer stämme!
    Oben im blau nur tragen die kämme
    Laubwerk und früchte: gold karneol.


    Mitten beginnt beim marmornen male
    Langsame quelle blumige spiele
    Rinnt aus der Wölbung sachte als fiele
    Korn um korn auf silberne schale.


    Schauernde kühle schließt einen ring,
    Dämmer der frühe wölkt in den kronen,
    Ahnendes schweigen bannt die hier wohnen ...
    Traumfittich rausche! Traumharfe kling!



    Anton Webern: „Eingang“, op.4, Nr.1

    Das Opus 4 entstand in den Jahren 1908/09, seine letzte Fassung erhielt es 1920. Zwar ist die Harmonik auch hier durchgehend atonal, Melodik und Klaviersatz wirken aber in ihrem Zusammenspiel etwas weiträumiger phrasiert, weniger stark auf die punktuelle musikalische Aussage zugespitzt und verdichtet, wie das im Opus 3 der Fall ist. Man könnte von einer stärkeren Orientierung an der Faktur des traditionellen romantischen Klavierliedes sprechen.


    Nun weist allerdings in diesem Fall – aber auch bei den anderen Liedern des Opus 4 – der zugrunde liegende lyrische Text eine andere sprachliche Struktur auf. Nicht nur dass die Verse länger sind, auch die lyrische Aussage und die sie tragenden Bilder sind gleichsam weiträumiger angelegt. Das lyrische Ich spricht ein „lang Lebewohl“ zu einer „Welt der Gestalten“, nimmt „Eingang“ zu einer anderen, und in den nachfolgenden Versen wird diese Welt, von der gesagt wird, dass „ahnendes Schweigen“ die banne, die hier wohnen, mit zauberisch wirkenden Gartenbildern evoziert. Die Liedmusik greift sie mit permanent sich wandelnden, weil den Gehalt der Bilder reflektierenden tonmalerischen Mitteln auf. Sie verbleibt dabei durchweg im Bereich des Pianissimos und des dreifachen Pinos. Nur einmal, bei den Worten „wölkt in den Kronen“ (dritte Strophe), wagt sich dieses so überaus stille Lied ins Mezzoforte vor, um dann allerdings gleich wieder ins Piano zurückzukehren


    Mit einem Akkord, gebildet aus den Tönen „Gis-Cis-F“, setzt das Lied ein. Dem folgt eine tiefes und lang gehaltenes oktavisches „E“ im Bass. Ohnehin spielen tiefe Basstöne in diesem Lied eine große Rolle. In der ersten und der dritten Strophe begleiten sie die melodische Linie der Singstimme permanent, und bemerkenswerterweise schließt das Lied auch mit einem E-Akkord. Sollte Webern hier in die atonal schweifende Harmonik so etwas wie einen harmonischen Ruhepunkt gesetzt haben? Der Klaviersatz ist stark akkordisch geprägt, und je mehr Bewegung in die lyrischen Bilder kommt, desto bewegter wirken auch die Akkordfolgen. Teilweise lösen sie sich sogar in Achtelfiguren auf. Besonders ausgeprägt ist das in der zweiten Strophe.


    In ruhiger Bewegung und mit Dehnungen auf den Worten „Welt“ und „Gestalten“, begleitet von nur wenigen lang gehaltenen Akkorden setzt die melodische Linie ein. Bei der Silbe „-wohl“ kommt sie auf einem fermatierten „B“ in mittlerer Lage erst einmal zur Ruhe. Eine halbtaktige Pause folgt. Im nächsten Vers werden die Worte „Wald“ und „Stämme“ jeweils durch einen Sekundfall mit einem melodischen Akzent versehen. Auf dem Wort „schlohweißer“ liegt ein triolischer Sekundanstieg. Wie sehr Weberns Liedkomposition in ihrem Wesen musikalische Lyrik ist, zeigt sich in diesem Lied immer wieder auf beeindruckende Weise. Bei den Worten „Oben im Blau nur tragen die Kämme / Laubwerk und Früchte“ stellt sich der Eindruck ein, als öffne sich die melodische Linie im Einklang mit dem Klaviersatz in ihrer Bewegung nach oben hin zu dem Bild von „Laubwerk und Früchten“, denn dort entfaltet sie in ein filigranes Auf und Ab. Und bei den Worten „gold Karneol“ geht sie aus einer Fallbewegung zu einem Sprung und einer langen Dehnung auf der Silbe „-ol“ über, so dass man meint, sie beginne zu leuchten.


    Geradezu faszinierend ist die Klanglichkeit von Singstimme und Klavier bei dem Bild von den „blumigen Spielen“ der „langsamen Quelle“. Alles wirkt wie klanglich nur hingetupft: Die staccato deklamierten triolischen Fall- und Sprungbewegungen der melodischen Linie verlaufen rhythmisch divergent zu den ebenfalls staccato artikulierten Sechzehntel-Figuren im Diskant und dem triolischen Auf und Ab von Achteln und Sechzehnteln im Bass. Und dies alles im dreifachen Piano.


    Bei den Worten „Rinnt aus der Wölbung sachte als fiele / Korn um Korn auf silberne Schale“ Reflektiert die melodische Linie das lyrische Bild in all seinen Details: Mit einer doppelten Fallbewegung, die sich bei dem Wort „sachte“ in ein Sekundintervall verengt, und mit einer wie hingetupft wirkenden Abfolge von Achteln, die in Sekundschritten um ein „G“ in mittlerer Lage pendeln. Seinen expressiven Höhepunkt erreicht das Lied bei dem Bild vom „Dämmer der Frühe“, der „in den Kronen wölkt“. Zu dem Wirt „Kronen“ hin steigt die melodische Linie in Sekundschritten an und gipfelt dann mezzoforte mit einem Sekundfall auf einem hohen „Fis“ auf, um danach bei den Worten „ahnendes Schweigen bannt, die hier wohnen“ wie taumelnd in tiefe Lage abzufallen.


    Einen beschwörenden Ton nimmt die Liedmusik beim letzten Vers an. Sechsstimmige Akkorde begleiten die melodische Linie, die jeweils bei den Worten „rausche“ und „kling“ einen durch eine Achtelpause abgesetzten und damit in seinem appellativen Charakter hervorgehobenen Quartfall beschreibt.

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