Das Gedicht Detlef von Liliencrons (1844-1909), das dieser Liedkomposition Weberns zugrunde liegt, stellt ein durchaus repräsentatives – und zweifellos gelungenes - Beispiel für seine aus dem Geist des Impressionismus kommende Lyrik dar, die es vermag, mit wenigen markanten und ausdrucksstarken sprachlichen Strichen eine Augenblickssituation einzufangen: Den „Heimgang in der Frühe“ des Tages, der auf eine Nacht, die nur mit den knappen Worten „Hör´ ich hinter mir / sacht ein Fenster schließen“ in ihrem Geschehen“ skizzenhaft angedeutet wird. Auf beeindruckende, weil im Gestus der lyrisch-sprachlichen Deskription verbleibende Weise werden nun die Erfahrungen wiedergegeben, die das lyrische Ich in der Begegnung mit dem Morgen aus der Perspektive des Nachklangs dieser Nacht macht. Sie verdichten sich in solchen Bildern wie dem, dass ihm die „Wölkchenherde“ am blauen Morgenhimmel als von den blauen Augen der Geliebten geküsst begegnet und der Gesang der Drossel als das stille Erwachen des Tages aus „Liebesträumen“ erfahren wird. Die Expressivität der lyrischen Sprache Liliencrons speist sich aus diesem Gestus des die Sache gleichsam unverblümt und zart zugleich ins Wort Setzens, - vernehmlich etwa in den Worten: „Klanglos liegt der Weg, und die Bäume schweigen“.
Dieses Gedicht muss – so stelle ich mir vor - dem musikalischen Lyriker Webern wie der Inbegriff der Aufforderung „Komponiere mich“ entgegengetreten sein. Und er kam ihr auf die für ihn ganz typische Weise nach: Mit dem – darin dem lyrischen Gestus Liliencrons voll entsprechenden – Umsetzen der jeweiligen lyrischen Aussage in liedmusikalische Einzelgebilde. Dies – wie oben bei der Beschreibung der Faktur des Liedes aufzuzeigen versucht wurde – in Gestalt einer Abfolge von, in ihrer melodischen und harmonischen Eigenart hochgradig individuellen Liedzeilen, die aber darin in einen musikalischen Kontext eingebunden bleiben.
Wie stark diese Individualität der einzelnen Melodiezeile bei Webern ausgebildet ist, das zeigt sich in diesem Lied darin, dass es einem wie eine Aufeinanderfolge und Fügung von in Struktur und in ihrem klanglichen Charakter höchst unterschiedlichen, zuweilen geradezu konträren melodischen Gebilden begegnet. Zögerlich, wie stockend, weil aus kleinsten und von Pausen isolierten Melodiezeilchen schält sich die lyrische Ausgangssituation aus der aufsteigenden Chromatik des Vorspiels heraus. Und mit einem Mal wird daraus, das lyrische Wort „Morgenweihe“ musikalisch umsetzend, eine wie ein großes klangliches Aufatmen wirkende, weil nun in überraschendes G-Dur gebettete melodisch weil nach oben ausgreifende Bogenbewegung.
In starkem Kontrast dazu dann aber das die morgendliche Stille der zweiten Strophe musikalisch einfangende Verharren der melodischen Linie auf tiefer tonaler Ebene, - und dieses wiederum in Gestalt kleiner Melodiezeilen, die je einen Vers in seiner lyrischen Aussage reflektieren, und die beiden letzten Verse in dieser kompositorischen Intention dann als lyrisch-sprachliche Einheit verstehen.
Wie weit der Kontrast in dieser Vielfalt der einzelnen melodischen Gebilde des Liedes reichen kann, das wird ganz besonders im letzten Teil des Liedes klanglich sinnfällig. Auf die die Aufgipfelung der melodischen Linie im Forte-Fortissimo eines hohen „As“ bei den Worten „fangen Lust und Leben“ folgt das ruhige Ausklingen der nachfolgenden, in ihrer Struktur zum Verharren auf der tonalen Ebene neigenden Melodiezeilen im Übergang vom Pianissimo zum dreifachen Piano. Dur-Harmonik („C“ und „D“) herrscht hier vor. Aber weil das lyrische Ich das Erwachen des Tages als „aus Liebesträumen“ erfährt, kommt es am Ende doch noch einmal zu einem melodischen Quintsprung zu einem hohen „F“, verbunden mit einer – wiederum überraschenden – Rückung von D- nach Des-Dur. Das alles aber piano-pianissimo. Schließlich erwacht er „still“, der Tag, - von einem Drosselruf darin begleitet.
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