Einführungstext für die Sonate Nr. 28 A-dur op. 101
Diese Sonate beschäftigte Beethoven schon seit 1813. Er schrieb sie aber erst im November 1816 nieder. Sie ist die erste Sonate seines sogenannten "Spätstils". Sie ist nach Nr. 26 und 27 die nächste, die (auch) deutsche Satzbezeichnungen enthält, die Beethoven ohnehin für besser geeignet hielt als die bloßen lateinischen. Er widmete sie seiner Schülerin Dorothea von Ertmann.
Die Sonate hat vier Sätze:
1. Satz: Etwas lebhaft und mit der innigsten Empfindung, Allegretto ma non troppo, 6/8-Takt,102 Takte;
2. Satz: Lebhaft, Marschmäßig, Vivace alla Marcia, F-dur, 4/4-Takt, 8+8,+4+42+42+10+10+30+54 = 208 Takte (incl. Wiederholungen + Da Capo);
3. Satz: Langsam und sehnsuchtsvoll, Adagio ma non troppo con affetto, a-moll, 2/4-Takt, 28 Takte;
4. Satz: Geschwinde, doch nicht zu sehr, mit Entschlossenheit, Allegro, A-dur, 2/4-Takt, 81+81+248= 410 Takte;
Gesamtlänge: 720 Takte;
Aufbau der einzelnen Sätze:
Es wird schon am ersten Satz deutlich, dass wir es hier nicht mehr mit einem gewöhnlichen Sonatenhauptsatz zu tun haben, weder vom eher langsameren Tempo her, noch von den fehlenden klaren Satzteilen anderer Sätze in anderen Sonaten, die ganz exakt ausgebildet und klar erkennbar waren mit geradezu mathematischen Strukturen. Beethovens "Sonatenarchitektur" hat sich gewandelt, eine Auflösung der klaren Form an der Schwelle zur Romantik deutet sich m. E. an. Dennoch kann man den Beginn der Durchführung in Takt 35 ansetzen und die Reprise in Takt 58.
Die Coda wächst aus den drei neunstimmigen Orgeltontakten 85 bis 87 heraus.
Ein weiteres Charakteristikum ist, wie schon in der Nr. 27 e-moll op. 90 des Fehlen jeglicher Wiederholungszeichen sowie viele lyrischen Wendungen, die sonst eher in langsamen Sätzen zu finden sind.
Interessant ist auch in diesem Satz die spezielle Rhythmik mit den vielen Synkopen, die auch als Kontrast zum lyrisch-melodischen Verlauf des Satzes angesehen werden kann. Dass Beethoven hier nicht einen kontrastarmen lyrischen Satz komponiert hat, machen die vielen dynamischen Akzente , schon in der Exposition deutlich (Takte 1, 2, 5 ,6, 7-9, 19, 21, 23, 24), die in der Durchführung noch verstärkt werden, besonders in den Taten 41, 42, 43, 45 bis 50, und in der Reprise etwas weniger, aber noch einmal besonders deutlich am Übergang zur Coda in den neunstimmigen Orgelpunkten Takt 85 bis 87. Wenn hier der erste Teil der Satzbezeichnung "etwas lebhaft" in der Interpretation zu wenig ernst genommen wird, das Lyrische zu sehr betont wird, werden die dynamischen Kontraste automatisch eingeebnet und fällt das rhythmische Element der Synkopen als Kontrast unter den Tisch.
Der furiose zweite Satz, der hier scherzoartigen Charakter hat, ist allein deshalb schon einfacher zu strukturieren, weil der Aufbau dem anderer Scherzo-oder Menuetto-Sätze ähnelt und die Teile auch wiederholt werden, bis auf den "zweiten Teil" des Trios, worüber aber noch zu sprechen sein wird.
Der Aufbau:
1. Teil (scherzoartig):
Thema: Takt 1 bis 8,
Schlussgruppe: Takt 8 bis 11,
Durchführung: Takt 12 bis 29,
Überleitung: Takt 30 bis 34,
Reprise: Takt 35 bis 43,
Coda: Takt 44 bis 54
2. Teil: B-dur-Trio (das auch eine Sonatensatzform im Kleinformat darstellt):
Themenbeginn: Takt 55 bis 59,
zweiter Gedanke: Takt 60 bis 64 (Beides wird wiederholt),
Durchführung modulierend: Takt 65 bis 75,
Reprise: Takt 76 bis 83
Überleitung zum Da Capo: Takt 84 bis 94 (die letzten drei Abschnitte werden nicht wiederholt
3. Teil:
Da Capo Takt 1 bis 54,
Beim zweiten Satz handelt es sich nicht um einen Marsch im herkömmlichen Sinne (wie etwa um den Marsch im Fidelio, der den Auftritt Pizarros einleitet), sondern um ein marschartiges Gebilde, eben "alla Marcia", dem eine gewisse rhythmische Schwere fehlt. Vielleicht gerade deshalb, gehärt er mit dem Finale zu den Sätzen, die, wie Beethoven selber es formulierte, die Nr. 28 zu einer "schwer zu exequierenden Sonate" macht.
Wenn der Satz allerdings zu langsam gespielt wird, obwohl doch "vivace" vorgegeben ist, wird der rhythmische Charakter des Scherzos schwerlich erreicht.
Der dritte Satz, langsam und sehnsuchtsvoll, besteht aus nur 20 Takten:
Beginn: Takt 1 bis 4,
Nur Harmonik: Takt 5 bis 6,
Wieder Melodie: Takt 7 bis 8,
kanonischer Verkürzungsprozess des Themenmaterials über
Takt 9 bis 11.
Takt 11/12,
Takt 12/13,
Takt 13 bis Ende,
Übergang Takt 20 in den Quintolen und dem anschließenden Crescendo;
Takte 21 bis 27 im Tempo des ersten Satzes, aber kein Originalzitat desselben, sondern quasi eine "Erinnerung";
Takt 28, Presto, Übergang zum
vierten Satz,
der innerhalb einer Trillerkette (Takt 28 bis 32 "irgendwann" beginnt, und endlich auch zum ersten Mal in dieser Sonate in A-dur beginnt.
Exponierender Teil: Takt 33 bis 108 (wird wiederholt
Erstes Thema: Takt 33 bis 65,
Überleitung (gleichzeitig 1. Hälfte des zweiten Themas) : Takt 66 bis 80)
Dolcethema: Takt 81 bis 86,
Überleitung zur Schlussgruppe: Takt 87 bis 90,
Schlussgruppe: Beginn Takt 91
Überleitung zur Durchführung: Takt 114 bis 122,
dreiteilige Durchführung:
1. Teil: Takt 123 bis 172 (im Zeichen einer Abwärtsströmung),
2. Teil: Takt 173 bis 208 (in der Gegenbewegung),
3. Teil: Takt 209 bis 239,
Reprise: Takt 240 bis 303,
Coda: Takt 303 bis 361;
Die Schlussakkorde könnten den Kreis zu den Auftaktakkorden des Finales ab Takt 29 bis 32 schließen.
(Quellen: - Jürgen Uhde, Seite 763 bis 812,- Siegfried Mauser, Seite 125 bis 129;
- Joachim Kaiser, Seite 475 bis 501).
Diese Sonate stellt sicherlich für den Hörer die bisher größte Schwierigkeit im Erfassen des Aufbaus dar, aber andererseits auch für den Interpreten im richtigen Erfassen der Trias Tempo-Rhythmus-Dynamik, weil sie trotz des teilweise klaren Sonatensatzaufbaus etwas unerhört Neues darstellte.
Beethoven selbst sprach ja (siehe oben) von einer "scher zu exequierenden Sonate" (Mauser, S. 127)
Viel Spaß beim Hören der Sonate und beim Lesen der Beiträge, und keine Angst vor eigenen Beiträgen, seien sie kommentierender oder rezensierender Art.
Liebe Grüße
Willi