War "HIP" ein "trojanisches Pferd" ?

  • Zwischenzeitlich begnügt sich ja HIP nicht mehr mit dem 18. und 19. Jhdt. sondern ist in missionarischen Eifer schon bis ins 20. Jhdt. gekommen.
    Ein schönes Beispiel dafür ist Ravels Bolero in der Interpretation von Jos van Immerseel mit seinem Anima Aeterna Orchester.
    Zugegeben, Immerseel hat einen hervorragenden Bolero abgeliefert, die ganze durchaus dogmatische HIP-Argumentation im Booklet hätte er sich aber sparen können, da der HIP-Aspekt dieser Aufnahme schlicht und einfach redundant ist. Warum? Weil es eine zeitnahe Einspielung des Boleros unter der Leitung des Komponisten selbst gibt und es von dem her HIPer nicht geht.
    Die Aufnahme stammt von 1930, klingt trotz des leicht antiquierten Klangbildes erstaunlich gut, läßt keine Fragen offen und gilt als eine der besten Bolero-Einspielungen überhaupt. Zum Glück hat sich Immerseel diese Aufnahme zum Vorbild genommen, so dass jetzt ein aufnahme- und spieltechnisch einwandfreies Remake dieser alten Aufnahme von 1930 vorliegt.


    Einen anderen Weg ist Francois-Xavier Roth mit seinen Les Siecles bei der Einspielung von Starwinskis Le Sacre du Printemps in HIP gegangen, wollte der doch nicht seine anderen Dirigenten-Kollegen des "Falschspiels" bei diesem Werk überführen, sondern, sondern den Sacre so wiedergeben, wie er bei seiner Uraufführung am 29. Mai 1913 geklungen hat.
    Das war legitim, da sich diese UR-Fassung doch deutlich von den diversen späteren unterscheidet und somit eine discographische Lücke geschlossen wird. Die Wahl des Instrumentariums und der entsprechenden Spielweisen war dabei meines Erachtens zweitrangig, da die Klangunterschiede zu neueren Instrumenten nur marginal sind, aber auf jeden Fall konsequent. Und Roth mast sich auch nicht an, die bis 1967 gehenden Revisionen Strawinskis an diesem Werk zu kritisieren. Letztendlich hat er nur den Ausgangspunkt derselbigen rekonstruiert.




    Von der Interpretation her kann Roth durchaus mit Chailly, Boulez und Strawinski selbst mithalten auch wenn sie fassungsbedingt in keiner Konkurrenz dazu steht.



    John Doe :)

  • Immerseel kann es nicht lassen!



    Eine HIP-Aufnahme eines Werkes von 1937!


    Frage: hat sich Orff jemals nagativ über die in späteren Aufnahmen der Carmina Burana verwendeten Instrumente, Spielweisen, Tempi etc. geäußert? Verlieren dadurch die von Orff authorisierten Aufnahmen jetzt ihre Gültigkeit? Macht diese Aufnahme in HIP überhaupt noch einen Sinn?


    Kennt irgendwer diese Aufnahme?


    Ich hoffe jetzt doch inständig, dass Immerseel Stockhausens Helikopter-Quartett in HIP einspielt, weil ich mich schon tierisch auf seine Argumentation betreffs der richtigen Hubschrauberauswahl freue! :hahahaha:


    John Doe

  • Ich besitze EINIGE Aufnahmen der Carmina Burana. In diese habe ich nur via jpc - Soundschnipsel hineingehört. Das aber hat genügt, mir klarzumachen, daß ich auf diese Aufnahme locker verzichten kann. Das Klangbild ist einerseits einfernt und verwaschen, andrerseits eher "leise". Man vergleiche vorurteilslos mit der alten (analogen) Einspielung unter Eugen Jochum für DGG. Die Autorisierung der Komponisten lassen wir mal beiseite, denn Orff war von seinem Werk so gefesselt, daß er in Folge einige Aufnahmen "autorisiert" hat. Die Aufnahme ist einfach perfekt - sowohl von der Interpretation als auch von der Tontechnik her.
    Eigentlich finde ich alle in meinem Besitz befindlichen Einspielungen besser als die in Beitrag 62 eingestellte Neuaufnahme.


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien.
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe gerade auch in die Aufnahme hineingehört (bei Spotify ist sie komplett). Klingt schon ein wenig dünn und arg leichtgewichtig. Da bleibe ich auch lieber bei Jochum (1968), Previn (1975) und vor allem Hichox (1986). Da sind auch die Tempi m. E. perfekt. Hat man den Schlusschor jemals besser gehört? Die meisten Dirigenten zögern die letzten Sekunden nicht lange genug hinaus.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich besitze EINIGE Aufnahmen der Carmina Burana. In diese habe ich nur via jpc - Soundschnipsel hineingehört. Das aber hat genügt, mir klarzumachen, daß ich auf diese Aufnahme locker verzichten kann. Das Klangbild ist einerseits einfernt und verwaschen, andrerseits eher "leise". Man vergleiche vorurteilslos mit der alten (analogen) Einspielung unter Eugen Jochum für DGG. Die Autorisierung der Komponisten lassen wir mal beiseite, denn Orff war von seinem Werk so gefesselt, daß er in Folge einige Aufnahmen "autorisiert" hat. Die Aufnahme ist einfach perfekt - sowohl von der Interpretation als auch von der Tontechnik her.
    Eigentlich finde ich alle in meinem Besitz befindlichen Einspielungen besser als die in Beitrag 62 eingestellte Neuaufnahme.


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien.
    Alfred


    Die Klangqualität anhand der Clips bei jpc zu beurteilen, finde ich schwierig, aber die Interpretation von Immerseel gefällt mir auch nicht besonders. Die alte Jochum-Einspielung als Klangreferenz zu bezeichnen, ist übrigens sehr gewagt, denn wie schon mal an anderer Stelle ausgeführt, klingt sie für meine Ohren schlecht und ist keineswegs mit neueren Digitalaufnahmen vergleichbar - allen voran die bei Telarc erschienene Aufnahme mit Bernard Shaw und dem Atlanta Symphony Orchestra, die meine Referenz ist und bleibt.


    Hier eine überaus positive Besprechung der Immerseel-Aufnahme von Wolfram Goertz, den ich ansonsten als Musikkritiker sehr schätze: http://www.zeit.de/2014/48/car…rl-orff-jos-van-immerseel Demnach verwendet Immerseel "Instrumente aus Orffs Zeit", was mich nun etwas verwundert hat - unterscheiden die sich so stark von den heutigen?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Immerseels Carmina Burana-Einspielung kenne ich bis jetzt nicht, hab sie mir jetzt aber für 6.- € gebraucht bestellt, alleine schon deswegen, weil ich überprüfen möchte, ob Immerseel im Booklet auch wieder diesen Absolutheitsanspruch erhebt a la "alle spielen falsch, nur ich richtig."
    Laut diverser Rezensionen soll sie ja von der Interpretation her sehr gut sein. Ich bin gespannt.


    John Doe
    :)

  • Eigentlich sind wir ein wenig vom eigentlichen Thema abgekommen, nämlich von der Frage, ob HIP nur als Deckmantel benutzt wurde. um eigene, rhythmisch am ehesten der Moderne verpflichteten Klangbilder der Musik einzuführen, was ansonsten nie gelungen wäre. Der Deckmantel hat seine Schuldigkeit getan - die "modernen" Orchjester spielen nun genau diese Richtung.


    Die "Deckmantel"-Theorie ist eigentlich zu absurd, um eine ernsthafte Antwort zu verdienen. (Was "rhythmisch der Moderne verpflichtet" überhaupt bedeuten soll, ist ebenfalls schleierhaft.)


    Die ersten HIP-Ansätze gehen ins späte 19. Jhd. zurück (zB Arnold Dolmetsch) und betrafen die Wiederentdeckung von Instrumenten wie Blockflöte, Gambe und Cembalo und der entsprechenden Musik. Bis in die 50er Jahre waren das weitgehend Außenseiter. Und selbst die wenigen berühmten Musiker wie Wanda Landowska waren nach heutigen Maßstäben historisch nicht so besonders gut informiert, die Stahlrahmencembali klanglich sehr verschieden von echten historischen Instrumenten. Aber immerhin gab es überhaupt professionelle Musiker, die sich mit diesen Instrumenten und älterer Musik befassten.


    Mehr oder weniger parallel gab es seit den 20er/30er Jahren eine Bewegung im Orgelbau mit verstärktem Interesse an Barockorgeln und Kritik an den romantischen Orgeln des 19. Jhds. Überhaupt gab es in der Zwischenkriegszeit bekanntlich stark "anti-romantische" Strömungen, die auf eigenes Musizieren (oft eben auch alter Musik mit Blockflöten und so) und/oder Komposition in Rückbesinnung auf Bach, Schütz usw. Stravinskys Neobarock gehört da in gewisser Weise auch dazu. Um einen alternativen Aufführungsstil für Mozart oder gar spätere Musik ging es ganz gewiss nicht. (Bei der wenigen Barockmusik, besonders Bach und Händel, die überhaupt verbreitet gespielt wurde, ging es oft, noch vor den Instrumenten, erst einmal darum, die Stücke weitgehend ungekürzt und unbearbeitet zu spielen...)


    Auch als in den 50ern/60ern die ersten Ensembles mit historischen Instrumenten gegründet wurden, stand Musik vor 1750 im Fokus. Dass es eine Zeitlang gedauert hat, bis besonders die Blasinstrumente virtuos beherrscht wurden, und es natürlich auch bei der Spielweise, Artikulation usw. viele Experimente gab, ist klar.
    Man kann daher nicht einfach ein Ensemble wie das Collegium Aureum, das zwar Darmsaiten und historische Blasinstrumente nutzte, aber in Vibrato, Artikulation usw. eher modern spielte und vermutlich aufgrund der Besetzungsstärke, weniger direkter Aufnahme und des Saals sehr "warm" klingt, als " einzig richtiges HIP" der ersten Stunde nehmen. (Man findet im Netz einige Erinnerungen des Musikwissenschaftlers und späteren WDR-Mitarbeiters Jan Reichow, der jahrelang im CA Geige gespielt hat, zu diesen relativ frühen Jahren.)
    Denn Ensembles wie Harnoncourts oder Leonhardts u.a. existierten ja parallel und klingen anders als das CA. In der Tat ist nach den Aufnahmen der 60er bis 80er Jahre, die ich kenne, klanglich weit eher das CA der "Außenseiter", nicht Harnoncourt.


    Wiederum: Moderne Instrumente stehen erst einmal gar nicht zur Diskussion, wobei aber allen Beteiligten klar ist, dass es mit alten Instrumenten allein nicht getan ist, sondern die Spielweise ebenfalls entscheidend ist. Und da gibt es natürlich hunderte von Streitfragen, meistens ohne eindeutige Lösung. Bis ca. 1980 haben wir also mehrere Jahrzehnte Entwicklung, während der die Bewegung die meiste Zeit vom Establishment belächelt oder verspottet worden ist, Musiker mit großem Engagement oft zusätzlich zu ihrem Brotberuf in traditionellen Orchestern o.ä. alles Mögliche ausprobiert haben, natürlich mit unterschiedlich überzeugenden Ergebnissen, wie das bei Experimenten nun mal nicht zu vermeiden ist. Eine Verschwörung zur Unterminierung traditioneller Orchester ist hier gewiss nicht zu erkennen.


    Dass führende HIP-Musiker, als erster in größerem Umfang wohl Harnoncourt, auch mit traditionellen Orchestern zusammenarbeiteten, dürfte unterschiedliche, auch praktische Gründe gehabt haben. Mit einem Teilzeit-Kammerensemble wie der Concentus Musicus kann man nicht alles machen und außerdem hatte das Concertgebouw-Orchester anscheinend auch Interesse an dieser Kooperation.


    Damit, und gleichzeitig mit den ersten historisierenden Aufnahmen von Beethoven und späterer Musik begaben sich die HIPisten nun zum ersten Mal auf das Terrain der traditionellen Symphonie-Orchester. Anscheinend hat sich dafür genügend Resonanz gefunden und so ist es kein Wunder, dass man (auch aus kommerziellen Gründen), versuchte, selbst Musik des späten 19. Jhds. historisierend zu spielen. (Man könnte freilich auch vermuten, dass ein Mangel an kreativer Phantasie sowohl beim Repertoire als auch bei der Interpretation der traditionellen Dirigenten und Orchester eine solche Nische erst geschaffen hat...)


    Dass nun, noch einmal Jahre später, eine jüngere Dirigentengeneration von 50 oder mehr Jahren historischer Aufführungspraxis (und seit bald 30 Jahren auch für Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert usw.) nicht unbeeinflusst geblieben ist und es alle möglichen hybriden oder gemischten Zugänge gibt, sollte kaum verwunderlich sein. Aber das ist m.E. eine ganz normale Entwicklung, sicher nicht auf irgendein bestimmtes Ziel hin geplant.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Das 19. Jahrhundert war geradezu durchdrungen vom "historischen Bewußtseins". Warum hätte sonst Freidrich Nietzsche 1874 eine Schrift verfaßt, wo er ein "Zuviel" an historischem Bewußtsein beklagt: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben - die zweite der "Unzeitgemäßen Betrachtungen". Das historische Bewußtsein war so fest verankert, dass Reflexionen darüber "unzeitgemäß" waren. Nietzsche unterscheidet dort drei Formen des historischen Bewußtseins: die monumentalische, die antiquarische und die kritische Historie. Mir scheint, dass die Romantik eher die Form der "monumentalischen" Historie bevorzugte (die Darstellung des Erhabenen und Großen als Wiederholbarem), wogegen die HIP-Bewegung des 20. Jhd. mit Nietzsche eine Form der "antiquarischen" Historie ist - d.h. der Wertschätzung des Alten, ganz so wie es einst faktisch gewesen ist (dazu gehört das Sammeln von Briefmarken, alten Autos, besonders im alten England beliebt, wo es sogar ein Festival für die Liebhaber von historischen Landmaschinen gibt :D ). Jeder dieser Formen ist einseitig praktiziert lebenszerstörend. Wenn die HIP-Bewegung meint, es müsse die kleine Uraufführungsbesetzung sein, dann mißachtet sie eben das Monumentalische, was so verloren geht und die kritische Historie, die einen Neuanfang macht, um sich vom Ballast der Vergangenheit zu befreien.


    In der Musik ist das in vieler Hinsicht besonders deutlich: Vor dem 19. Jhd. bestand kaum ein Interesse an der Aufführung alter Musik. (Ausnahmen: Kirchenmusik und gewisse private Liebhabereien). Aber auch im 19. Jhd. wurde eine charakteristische Auswahl getroffen und ggf. die Musik durch Bearbeitung zusätzlich "monumentalisiert" (zB. Messiah, eine Ausnahme ist vielleicht Händels pastorales "Acis & Galathea", das durchweg populär (von Mozart und Mendelssohn bearbeitet) und nicht monumental ist.
    (Ein weiterer Punkt im 19. Jhd. wäre die damals neue Musik mit (über-)deutlichem Bezug auf "Alte Meister" wie Mendelssohns Oratorien, Schumanns Fugenstudien, etliches von Brahms, Griegs Holberg-Suite usw.)


    Das setzte sich im 20. Jhd. fort, löste aber nicht ganz unberechtigte Gegenreaktionen aus (von denen das "antiquarische" Interesse nur ein Aspekt ist). Die anti-monumentale Präferenz (die man ja auch in einem Teil der "neoklassizistischen" Strömung der klassischen Moderne hat) geht ja (worauf John Doe vielleicht hinauswollte) so weit, dass man sogar bei Werken, die in ihrer Zeit als der Gipfel des Monumentalen (Händels und Haydns Oratorien, Beethovens Symphonien, besonders die 3. und 9. usw.) wahrgenommen wurden, nicht etwa "antiquarisch korrekt", sondern ("revisonär") "schlank", vergleichsweise wenig monumental, interpretiert.
    Zwar ist es nicht falsch, dass eine wagnerisierende Beethoveninterpretation oder Messiah mit 1000 Sängern eine einseitige Übermonumentalisierung gewesen sind, aber es kann auch kaum angemessen sein, wenn einem Beethovens 9. ggü. Wagner, Bruckner oder Mahler wie ein "laues Lüftchen" vorkommt. Wenn einem Beethovens 9. (und etliche anderer seiner Werke) nicht monumental und extrem vorkommen, haben sie m.E. etwas von ihrer genuinen Wirkung eingebüßt. Klar, diese Wirkung muss (und sollte) nicht in erster Linie durch evtl. unangemessene Mittel oder bloß äußerliche Riesenbesetzung zustande kommen. Nur weil bei einem barocken Concerto die Monumentalisierung in der Regel zu eher grotesken Verzeichnungen geführt hat, muss man nicht Musik, die in ihrer jeweiligen Zeit offensichtlich monumental gedacht war, ebenfalls einer Schlankheitskur unterziehen.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Nur weil bei einem barocken Concerto die Monumentalisierung in der Regel zu eher grotesken Verzeichnungen geführt hat, muss man nicht Musik, die in ihrer jeweiligen Zeit offensichtlich monumental gedacht war, ebenfalls einer Schlankheitskur unterziehen.

    Genau! Zwischen einer solistischen, bzw. einer kammermusikalischen Besetzung und einem modernen Sinfonieorchester wäre viel Platz, um eine ideale, dem jeweiligen Charakter eines bestimmten Werkes entsprechende Besetzung in HIP zu finden. Man macht es jedoch nicht, sondern begnügt sich mit der kleinstmöglichen Lösung, was meines Erachtens die Musik dann um einen wesentlichen Aspekt bringt.
    Besonders unangenehm empfinde ich das beim Messias, wo ich mich in letzter Zeit nicht des Eindruckes erwehren konnte, dass da wohl ein Wettbewerb um die kleinstmögliche, die magerste Besetzung im Gange ist, derweil man schon zu Lebzeiten Händels in England in die entgegengesetzte Richtung gegangen ist, um die Großartigkeit, die Monumentalität dieses Werkes herauszustellen (weswegen für mich die alte Beecham-Goosens-Einspielung immer noch die beste ist, gefolgt von Richter und dann mit einem gewissen Abstand Max).
    Das heißt jetzt nicht, dass ich jetzt diese über das rechte Maß hinausschießenden Mammutaufführungen, sondern viel mehr, dass eine zu kleine Besetzung nicht mehr alle Aspekte eines Werkes zu erfassen vermag.
    Als nicht gar so extremes Beispiel möchte ich die letzten beiden Orchestersuiten von Bach anführen: auch bei denen stellt sich bei solistischer Besetzung ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem Pauken und Trompetenklang und des restlichen Ensembles ein, besonders wenn die mehr gedroschen als gespielt werden.


    John Doe
    :)

  • Zwar ist es nicht falsch, dass eine wagnerisierende Beethoveninterpretation oder Messiah mit 1000 Sängern eine einseitige Übermonumentalisierung gewesen sind, aber es kann auch kaum angemessen sein, wenn einem Beethovens 9. ggü. Wagner, Bruckner oder Mahler wie ein "laues Lüftchen" vorkommt. Wenn einem Beethovens 9. (und etliche anderer seiner Werke) nicht monumental und extrem vorkommen, haben sie m.E. etwas von ihrer genuinen Wirkung eingebüßt. Klar, diese Wirkung muss (und sollte) nicht in erster Linie durch evtl. unangemessene Mittel oder bloß äußerliche Riesenbesetzung zustande kommen.


    Lieber Johannes,


    dazu gibt es eine aufschlußreiche Briefstelle von Gustav Mahler, wo er die Entwicklung von der kleinen zur großen Orchesterbesetzung als Grundzug der Moderne beschreibt - eine Tendenz weg von der Kammermusik. Für Mahler spiegelt das die Bedürfnisse des Komponisten nach einem im Ausdruck immer differenzierteren Klang. Deswegen hat Mahler z.B. Schubert "monumentalisiert", indem er das Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" für Symphonieorchester setzte. Dabei geht es jedoch musikhermeneutisch weniger um die Größe an sich als den Gegensatz privat-öffentlich. Die Musik soll universell und öffentlich sein - zur "Weltmusik" werden, und dafür steht die große symphonische Besetzung. Die Musik mit kleiner Besetzung gehört dagegen in die "Kammer", d.h. sie verbleibt im Privaten. Und das ist für das Symphonieideal der Romantik eine privatio.


    Es gibt natürlich auch die umgekehrte Tendenz, das sind Schönbergs "Kammersymphonien". Diese Verkleinerung und Verschlankung hat aber nichts mit HIP zu tun, sondern damit, dass Schönberg die Konstruktivität und Durchsichtigkeit des Streichquartetts nun zum Ideal auch der Symphonik erhob. Die eigentliche Entdeckung der historischen Aufführungspraxis ist deshalb für meinen Geschmack nicht so sehr die kleine, durchsichtige Besetzung, sondern die Wiederentdeckung der Rhetorik. Wenn das nicht dogmatisch wird sondern dosiert verwendet wird, kommt das auch dem modernen, großen Orchesterklang schon zugute. Gelungen finde ich diesen wohldosierten Einsatz von HIP z.B. bei Abbado. Abbado ist ein Ästhet und er beweist, dass sich Rhetorik und "schöner" Instrumentalklang sehr wohl vertragen (bei den Pianisten wären die Beispiele Wilhelm Kempff und der späte Michelangeli). Harnoncourt ist also durchaus nicht repräsentativ. Von Abbados Schubert in dieser Art habe ich heute die 4. gehört - und war sehr angetan. Das ist "schlank" aber nicht ausgedünnt. Abbados behutsame Hand macht da finde ich alles richtig - da wird eben nicht mit erhobenem pädagogischem Zeigefinger irgend etwas "demonstriert":



    Schöne Grüße
    Holger

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Aktuell bei jpc zu haben diese HIP-Aufnahme des Schumann-Klavierkonzerts. Schon der mechanistisch gespielte Anfang ist einfach zum Weglaufen. Das Orchester ist so affektiert rhetorisch, dass es sich mit rhetorikkritischer Romantik nur so beißt. Diese Schrulligkeit geht an Schumann komplett vorbei. Da reichen mir die Hörschnipsel, dass ich mir so etwas nicht weiter anhöre.



    https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/…vd/hnum/8130663


    Lieber Holger,


    ich lese es erst jetzt und kann Deinem Eindruck nur beipflichten: Es klingt zum Weglaufen.
    Ganz anders als bei den wichtigen und mittlerweile wohl schon selbst als historisch oder klassisch zu bezeichnenden HIP-Aufnahmen der Musiker Leonhardt und Harnoncourt im Bereich der Barockmusik, fehlt hier das entscheidende Element, die entscheidende Brücke über die Zeiten hinweg; nämlich die überzeugende Antwort auf die Frage, was uns diese Musik heute eigentlich noch angeht, ob sie uns innerlich treffen und bewegen kann, ob sie uns etwas sagt. Das Zeitlose, das immer Gültige, ist sicher auch in dieser Musik enthalten. Statt es herauszuarbeiten, versucht man hier genau das Gegenteil: Das Zeitgebundene, das Zeitbedingte soll gezeigt werden.
    Dieses Zeigefingerhafte, dieses "seht, so war es früher" berührt einfach nicht, sondern befriedigt ein Publikum, welches sich durch die Einstellung "an meine Ohren lasse ich nur Wasser und Originalklang".
    Die HIP-Frage ist nicht nur eine wissenschaftliche, nicht nur eine musikalische (das ist sie natürlich sehr und ich wüßte gar nicht, wie ich eine Orgelmesse von Couperin ohne diese Wendung in der Interpretationsgeschichte spielen würde), sondern auch eine philosophische, worin man ja in Dir einen versierten Diskussionspartner finden kann :D


    Schon die Akzente des Anfangs dieses Schumann-Konzerts und auch die melodischen Gesten des Anfangs nehme ich vornehmlich intellektuell wahr, aber weniger musikalisch, sozusagen mit einer Resonanz in Seele und Körper. Man ist froh, dass das JPC-Sample dann irgendwann abbricht...


    Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Das Zeitlose, das immer Gültige, ist sicher auch in dieser Musik enthalten. Statt es herauszuarbeiten, versucht man hier genau das Gegenteil: Das Zeitgebundene, das Zeitbedingte soll gezeigt werden.


    Das hast Du wunderbar formuliert, lieber Glockenton! :) Kunst berührt uns wirklich bleibend letztlich nur, wo - mit Friedrich Schiller - die Zeit in der Zeit aufgehoben wird. Im Falle von HIP ist von daher wohl die Frage nötig: Was ist davon Wert, aufbewahrt zu werden und was nicht? :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Das trifft nicht nur auf die HIP-Aufnahmen zu. Sowohl bei den Aufnahmen klassischer Colour bzw. bei HIP-Produktionen gibt es Licht und Schatten. Entscheidend ist doch ob damit der Zuhörer angesprochen wird oder ob eine Ablehnung erfolgt.


    Ich freue mich über die Vielfalt.



    :hello: LT

  • Man darf ja nicht aus den Augen verlieren, daß der Weg von "zeitgenössischen" Instrumenten ein kontinuierlicher war, daß also auch die "moderne Interpretation" ein historischer Prozess ist. Als erster hat - meiners Wissens nach - Hänssler in Bezug auf die Bach-Kantaten unter Helmut Rilling indirekt darauf hingewiesen. An sich war im Bach Jahr 2000 gerade diese Edition völlig aus der Mode. Hänssler verteidigte aber - soweit mir bekannt ist erfolgreich - diese mutmaßlich "unzeitgemäße" Veröffentlichung mit dem Hinweis, daß sie in einem ziemlich langen Zeitraum entstanden sei, mit den besten Interpreten ihrer Zeit - die Edition stelle also in gewisser Weise einen Spiegel der Zeit - ein Stück Musikgeschichte dar.
    Das gilt übrigens für viele andere Aufnahmeprojekte. HIP kann nicht alle Innovationen auf dem Gebiete des Instrumentenbaus und der Spieltechnik rückgängig machen. Ich betrachte das Spiel mit "historischen Originalinstrumenten" oder deren Nachbauten für eine interessante Alternative - und ich besitze jede Menge davon. Sektierern unter den Musikern, die mir erzählen wollen, wie agressiv, spröde etc etc. Musik zu ihrer Entsehungszeit geklungen habe - stehe ich mit grösster Ablehnung und ebensolchem Mißtrauen gegenüber....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Rillings Einspielungen der Bachschen Kantaten erfolgten von 1969 bis 1999. Sie sind interpretatorisch sehr uneinheitlich, da Rilling sich im Laufe der Zeit der historisch informierten Musikproduktion anpasste. Durch diesen "Misch-Masch" kommt seine Deutung weder für das eine noch für das andere Lager so richtig in Frage.


    :hello: LT

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Ich betrachte das Spiel mit "historischen Originalinstrumenten" oder deren Nachbauten für eine interessante Alternative

    vom Klang her lauter,
    Das alte Instrument wird zwingend notwendig, wenn die Weiterentwicklung desselbigen ein völlig neues geschaffen hat, das vom Klang her auch noch deutlich dominanter ist und so den Charakter eines Werkes ändert.
    Ein ideales Beispiel dafür ist Bachs 2. Brandenburgisches Konzert, ein Gruppenkonzert mit höchst origineller Besetzung, dass mit modernen Instrumenten zu einem Trompetenkonzert mit Begleitung mutiert.
    So war es aber nicht gedacht, genauso wenig wie ich glaube, dass es nicht gedacht war, so rumpelig und polternd gespielt zu werden, wie es von manchen gespielt wird.


    Historische Instrumente, das richtige Spiel mit ihnen und eine schöne Interpretation stehen nämlich nicht im Widerspruch zueinander, was sich zum Glück auch schon bei HIP langsam herumspricht.


    Jedes Werk hat einen gewissen Charakter, eine gewisse Individualität, die es herauszuarbeiten gilt. Dazu gehört die richtige Auswahl der Instrumente, wie sie gespielt werden und eben die Größe des Klangkörpers. Eine solistische Besetzung bei Barockwerken mag damaliger Zeit durchaus Usus gewesen sein, aber eine etwas größere eben auch. Und besonders wenn Pauken und Trompeten mit dabei sind, sollte der ihnen gegenüberstehende Streicherapparat schon etwas umfangreicher sein als ein Quartett.
    Dass ein Orchester auch zu groß sein kann und so der Werkscharakter verfälscht wird, steht außer Frage, jedoch ist mir dieses Problem bei HIP noch nicht untergekommen,


    John Doe

  • ...selbst mir missfällt Melnikov und das FBO mit Schumann.
    Aber richtig: es geht doch nicht allein um ein Instrumentarium, sondern um eine Aussage.
    Und die kann man treffen, unabhängig vom Instrument.


    Vor einer Weile hörte ich mit einem lieben Freund Schumanns Konzert mit Frau Yaffe und Brüggen- und beide treffen eine Aussage.
    Nehmen das Werk sehr rhapsodisch und frei, nirgends so seltsam steif wie das FBO.


    Umgekehrt: gibt es nicht auch genügend "konventionelle" Aufnahmen, die das Stück langweilig bleiben lassen?


    @Alfred: die Bach-Kantaten lernte ich als Kind schon kennen, im RIAS mit Rilling. Jeden Sonntag eine.
    Im SFB auch eine, dort allerdings entweder mit Karl Richter und, wenig später, mit Harnoncourt/Leonhardt.
    Damals war ich acht, neun, zehn Jahre alt! HIP oder nicht- hä? Wat is dat?
    Und doch hat Rilling mich schrecklich gelangweilt, während Richter mich erreicht hat. Harnoncourt/Leonhardt fasziniert wegen des so ganz anderen Klangs. Mit dem ich lange gehadert habe!
    Woraus für mich resultierte, dem Ganzen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, WARUM das so anders klingt.
    Für und Wider zu ergründen und den anderen Weg, diese Musik spannend sein zu lassen ohne das quasi romantische Klangbild.


    Tja, als Kind war ich noch lernfähig.....


    Was blieb ist, auch heute noch zu suchen nach der Aussage des Werkes, unabhängig von Instrumentarium oder Besetzungsstärke.
    Manchmal geht beides Hand in Hand- manchmal auch, wie beim späten Abbado sehr sehr glücklich.
    Manchmal helfen alte Instrumente- wenn man sie spielt und eine Vorstellung von Werk und Klang und nicht Selbstzweck sein lässt.
    Das aber unterscheidet wohl beide Wege nicht voneinander.
    Nicht für mich jedenfalls.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Es bringt zwar m.E. nicht so viel, persönliche Abneigungen und Vorlieben anhand konkreter Aufnahmen durchzugehen, aber bei der Hänsslerschen Bach-2000-Edition hatten viele Aufnahmen eine Art hybriden Charakter. So hat dafür zB Robert Levin, eigentlich Spezialist für alte Tasteninstrumente, die Englischen Suiten auf dem modernen Klavier eingespielt, das WTK dagegen auf unterschiedlichen (historischen) Tasteninstrumenten. Mit Robert Hill gab es Aufnahmen mit einem nachgebauten "Lautenclavier", aber bei den Violinsonaten spielt er mit Sitkovetsky, der eine moderne Geige, ohne jede HIP-Manieren spielt. (Ich kenne diese Edition nicht komplett, aber es dürfte noch einige weitere solcher Mischungen geben.)


    Die Aufnahmen Rillings seit Anfang/Mitte der 1990er waren durchaus HIP-beeinflusst und auch wenn das auch die der 70er/80er nicht zutrifft, wäre Hänssler schlecht beraten gewesen, im Jubiläumsjahr nicht einen von zwei damals komplett vorliegenden Kantatenzyklen anzubieten. Zumal bei Großprojekten dieser Art, ganz egal welcher Zugang gewählt wird, die Ergebnisse immer durchwachsen sein werden.


    Für mich wird es tendenziell immer dann problematisch, wenn einzelne Aspekte aufgrund notwendig bruchstückhafter historischer Information zum zentralen Punkt oder gar Fetisch erhoben werden. Z.B. die Besetzungsstärke. Oder Knaben/Falsettisten vs. Frauenstimmen, oder eine bestimmte Besetzung/Ausführung der Continuo-Gruppe. Es ist sicher im Einklang mit der pragmatischen Einstellung des 17. und 18. Jhds., hier alles mögliche auszuprobieren.


    Symptomatisch für die Musikpraxis dieser Zeit ist ja gerade keine eindeutige und ewige Endfassung, sondern eher ein Werk wie Händels "Messiah", das nahezu bei jeder Neuaufführung geringfügig verändert gegeben wurde, so dass heute in aller Regel Hybridversionen, die gar keiner einzigen historischen Aufführung entsprechen, gegeben werden. (So ähnlich auch Mozarts Don Giovanni, bei dem kaum jemand auf eine der Ottavio-Arien verzichten will.) Wie auch immer, natürlich kann man sich auch ziemlich genau an die "Prager Fassung" oder die "Foundling Hospital"-Version halten, aber sicher wären sowohl Händel wie auch Mozart befremdet, wenn man heute diskutieren wollte, ob eine bestimmte Fassung die einzig "richtige" wäre. Die Idee scheint ihnen völlig fremd gewesen zu sein, da Musik (jedenfalls Oratorien und Opern) IMMER im Kontext konkreter Aufführungen, oft sogar ganz bestimmter Sänger gedacht wurden.


    Unser gesamter Zugang zu solchen Fassungsproblemen zeigt, wie unhistorisch wir oft noch an diese Musik herangehen, wie verschieden unsere Haltung, die, nicht zuletzt durch die Fixierung mittels Schallplatten (und entsprechene Fetischisierung bestimmer Interpretationen) von der der meisten Komponisten bspw. des 18. Jhds. ist.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Johannes, und?
    was willst Du sagen?


    Dass Objektivität die Frage obsolet macht, die Du stellst?
    Antworte mal ohne Fetisch des nur rhetorisch Objektivem bitte.


    Dein Beitrag liest sich, als sei es ohnehin unmöglich, ein Werk zu erschließen, egal mit welchen Mitteln.
    Bezieh mal Stellung statt zu mäandern bitte!
    Oder willst Du Bundeskanzler werden?


    Humorige Grüße,
    Mike

  • Heute ist besagte Immerseel-Aufnahme mit der Post gekommen, und ich habe tatsächlich auch gleich Zeit gehabt, sie mir in Ruhe anzuhören.


    Ich habe die Carmina Burana bis dato nie als Musik für Laien wahrgenommen, die aus diesem Status erlöst werden müsste, genau so wenig, wie als gut zugeschliffene leichte Kost für die Unterhaltungsindustrie, die dringendst eines neuen Ansatzes und einer frischen Auslegung bedarf. Und am Klang großer Sinfonieorchester hab ich mich bei diesem Werk bis jetzt auch noch nicht gestört.
    Ansonsten hält sich das Booklet erstaunlich zurück mit dem ideologischen HIP-Überbau und mehr noch, dem am Ende des Textes ausgesprochenen Lobes Immerseels auf die Bayern kann ich mich nur anschließen, bin ich doch selbst einer. 8-)


    Die Interpretation gehört zu den flotten, Chor und Solisten artikulieren akzentfrei und sauber und werden ihren Partien gerecht, summa summarum also eine sehr gute Aufnahme, die auf jeden Fall im oberen Bereich anzusiedeln ist.


    Aber was ist nun HIP daran? Die Istrumente sollen alle aus den 20er und 30er Jahren stammen, bloß ob sich die noch nenneswert von später hergestellten unterscheiden? Ich merk auf jeden Fall keinen Unterschied.
    Was dagegen sehr wohl auffällt ist das deutlich kleinere Orchester. Immerseel läßt nur 28 Streicher zu 12 Holz- und 13 Blechbläsern plus einem sehr umfangreichen Schlagwerk spielen und der Chor umfasst auch nur 36 Leute, was zur Folge hat, dass man die einzelnen Instrumente und besonders das Schlagwerk, zu dem ich auch die beiden Klaviere rechne, deutlicher vernimmt.


    Mit HIP hat das alles m. E. nicht mehr viel zu tun. Instrumente, Spielweise und Artikulation unterscheiden sich nicht mehr von den gegenwärtigen, er spielt die Carmina Burana halt nur mit einem Kammerorchester und einem adäquaten Chor. Und wenn er weiter diesen Weg beschreitet - und ich geh davon aus, dass er es tut - dann können wir uns bei obsolet werdender HIP auf weitere sehr gute Interpretationen von Werken der klassischen Moderne in kammerorchestraler Besetzung freuen.


    John Doe
    :D

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Für mich wird es tendenziell immer dann problematisch, wenn einzelne Aspekte aufgrund notwendig bruchstückhafter historischer Information zum zentralen Punkt oder gar Fetisch erhoben werden.


    Das ist ein ganz zentraler Punkt. Die Richtigkeit und Klarheit der in Beitrag 78 aufgeführten Inhalte kann ich nur unterstreichen.


    Fetische gibt es viele:


    Manche meinen, Bachs Chor wäre solistisch besetzt gewesen (ich meine das nicht, sondern neige zur Alteration zwischen Solisten und Ripienisten)
    Andere meinen, man dürfe so gut wie gar kein Vibrato spielen ( ein historischer Unsinn, den zum Glück nicht alle HIP-Beeinflussten mitmachen u.a. auch nicht die Musiker Arthur Schoonderwoerds, aber es gibt auch andere ermutigende Beispiele).
    Für andere ist das Doppel-Continuo aus Cembalo und Orgel bei Bach Pflicht (sehe ich nicht so, sondern empfinde vom Affekt her nur für bestimmte Stücke ein zusätzliches Cembalo als Bereicherung, meine aber auch sehr, dass die große Orgel der kleinen Truhenorgel vorzuziehen ist, was aber auch Probleme mit dem Stimmton nach sich ziehen kann)
    Dann gibt es das Fetisch mit der Ausdehnung von HIP bis ins 20.Jahrhundert hinein, gerne auch mit Klavieren, die eher nach Klafünfen klingen.
    Oder wie oft hat man nicht diese unfreiwillig spekulative und als Mantra gepriesene Parole gehört, dass "der Komponist das so im Ohr hatte, der kannte ja unsere Instrumente nicht, sonst hätte er eine andere Musik geschrieben" usw. Das impliziert ja, dass man eine Winterreise nur noch mit so einem Hammerklavier machen dürfte, dass die vielen Symphonieorchester sich eigentlich zu Gunsten von kleinen HIP-Gruppen auflösen müssten, auf andere Instrumente umsteigen müssten, weil sie "in Wirklichkeit nur Bearbeitungen spielen" aber "nicht das Werk selbst". Wer einmal selbst gehört hat, wie unterschiedlich Komponisten je nach Tag und Stimmung ihre eigenen Werke spielen, und manchmal sogar selbst einräumen, dass andere Interpreten eben diese Noten sogar besser spielen als sie selbst ( mit Ideen, auf die sie selbst nicht gekommen wären), der nimmt spätestens dann vom Fetisch der "Werktreue", der möglichst 100%-igen Umsetzung des heiligen Komponistenwillens Abstand. Wer so technokratisch und dogmatisch denkt, der macht aus dem riesigen Wunder, welches Kunstmusik heißt eine kleine, penibel umgesetzte Museumsvorstellung. Mit dem ursprünglichen Ausdrucksimpuls eben jener Musik hat das dann im extremen Einzelfall kaum noch etwas zu tun.


    Ein echtes Kunstwerk kann einen größeren Radius von expressiven Aspekten haben, als es dem Komponisten beim Schreiben selbst bewusst war. Goulds zweite Einspielung der Goldbergvariationen Bachs ist sicher sehr anders, als was sich Bach beim Schreiben vorgestellt hat. Aber ist es deswegen minderwertig oder gar abzulehnen? Nein, keineswegs, eben weil es eine wahrhaft authentische Interpretation ist. Gould ist sehr authentisch mit "seinem" höchstpersönlichem Bach im Reinen, und das hört man, weil er es dann auch präzise umsetzen kann. Diese Authentizität des Bachinterpreten gibt es auch bei HIP-Musikern. Ein Bach von Harnoncourt klingt anders als ein Leonhardt-Bach, ein Suzuki-Bach oder ein Herreweghe-Bach. Selbst die Musiker, die sich vornehmen, sich ganz zurückzunehmen, prägen durch ihre starke Persönlichkeiten immer schnell erkennbar ein Interpretationsprofil. Das kann man z.B. bei Leonhardt so sagen, aber auch bei Böhm oder Wand....


    Dennoch ist an vielen HIP-Dingen ja oft auch sehr viel Richtiges dran, so z.B. an der Sache mit den alten Instrumenten, auf jeden Fall bei der Musik des Mittelalters, der Renaissance, des Frühbarock und auch des Hochbarock. Einen großes Werk von Praetorius, Monteverdi, Schütz und auch von Bach kann man sich nur noch schlecht auf modernen Instrumenten vorstellen, wobei es bei Bach mit dem Willen zur sprechenden Spielweise durchaus noch geht, aber die Klangbalance, die Klangmischung und die Artikulation erfordert mehr künstlichen Aufwand. Mit den alten Geigen, Oboen oder Trompeten geht es dann natürlicher von der Hand.
    Noch Furtwängler benutzte ein Klavier als Continuoinstrument, wobei mir so ein Flügel vielleicht noch lieber gewesen wäre, als diese furchtbaren Dinger (Eierschneider....) die man damals für Cembali hielt. Da waren dann die Ersteinspielungen der Cembalokonzerte mit Gustav Leonhardt eine unfassbare Wohltat und Großtat.
    Als ich Ende der 70-Jahre mit den Aufnahmen Leonhardts, Harnoncourts und Brüggens in Kontakt kam, hat es nach anfänglichem Schock bei mir eingeschlagen. Ich fand es in musikalischer Hinsicht so viel mehr überzeugend als das, was ich von Leuten wie Karl Richter her früher vereehrte (ich fand den immer besser als seine Zeitgenossen, wie z.B. Münchinger....)


    Ebenso ist ein bewusstes, expressives Vibrato oder Nonvibrato sehr sinnvoll, eine abwechslungsreiche Einzeltondynamik, eine sprechende Artikulation und natürlich auch ein Bachchor von nicht mehr als 12 bis 16 guten Sängern (je weniger Sänger man hat, desto besser müssen sie natürlich sein....)


    Das Entscheidende ist m.E. immer die Balance, die Ausgewogenheit, das Natürliche in den verschiedenen Bereichen, wobei man immer das musikalisch bewertende Ohr und nicht das Dogma (oder Fetisch..) das letzte Wort bei den vielen Abwägungen haben sollte. Es gibt Musiker wie Suzuki oder Herreweghe, die im Barockbereich oft zu guten Lösungen gekommen sind, aber es gibt hin und wieder auch so manchen, der da sein Steckenpferdchen reitet, statt dem ebenso sehr historischen Gebot des guten Geschmacks nachzueifern, der ja immer wieder in den zeitgenössischen Standardwerken der Musiktheoretiker erwähnt wird.


    Für die enttäuschenden Beispiele nenne ich ungern Namen, weil ich nicht andere Musiker im Netz herunterschreiben will. Von manchen HIP-Orchestern, von denen ich nur noch einen ruppigen Tempo- und Akzentwettbewerb erwartete, hörte ich dann zwischendurch doch noch durchaus ansprechende, manchmal auch sehr gute Aufnahmen. Man muss mit pauschalen Bewertungen vorsichtig sein.


    Übrigens höre ich bei Thielemanns (!) Beethoven eine Menge Dinge, die es nur durch den bekannten Verlauf der Interpretationsgeschichte so hat geben können - das ist auch gut so. Viele "normale" Musiker haben von den HIP-Kollegen Einiges gelernt. Hier finde ich es besonders gut, wenn das Gute behalten und übernommen wird und man das weniger Überzeugende weglässt.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Dann gibt es das Fetisch mit der Ausdehnung von HIP bis ins 20.Jahrhundert hinein, gerne auch mit Klavieren, die eher nach Klafünfen klingen.

    Eine der Hauptsäulen von HIP ist die Wahl des richtigen Instrumentariums. Bei alten Sachen durchaus angebracht wird es bei Musik des 20. Jahrhunderts unnötig, da sich die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts genutzten Instrumente nicht von denen der zweiten Hälfte unterscheiden. Um diese Hauptsäule nun nicht völlig zu verlieren und den Hörern noch irgendetwas HIPes bieten zu können, nimmt man irgendwelche Schepper- und Dröhnkisten von Klavieren her und preist das als den originalen Klang an. Geht ja nicht anders, denn Fassungs- und Besetzungsfragen sind eben nicht originär HIP!


    John Doe
    :)


  • Da John Doe und Glockenton anscheinend recht genau verstanden haben, was ich gemeint habe (offensichtsichtlich nicht, dass es unmöglich sei, ein Werk zu erschließen, egal mit welchen Mitteln), muss ich Dich wohl bitten, den Text nochmal durchzulesen.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)