Nun frage ich mich nach den Eindrücken des gestrigen Tages, ob es noch zeitgemäß ist, dass da 123 - oder waren es nicht 124 Orchestermusiker? - abgeschirmt zusammensitzen, einen bestimmen und der soll es dann aus dem Stand heraus machen, soll seine gesamte Lebens- und Karriereplanung nach diesem Votum ausrichten, soll einfach Ja sagen, ohne schriftlichen Vertrag, ohne genaue Geldzusagen, ohne Einblick in die vielen Details, ohne Berlin näher zu kennen. Warum denn nur? * Weil es eben kein besseres Orchester geben soll auf der Welt als die Berliner Philharmoniker... ? Ich weiß ja nicht. Die Berliner Philharmoniker sollten über das Verfahren nachdenken, weil es es mir total überholt scheint und an Selbstüberschätzung grenzt.
Völlig richtig, der gestrige Tag bestätigt voll und ganz diese Meinung. Diese Demokratie funktioniert so nicht. Soll wirklich der letzte Pultgeiger eine so existenziell wichtige Frage bestimmen dürfen? Aber da das Orchester nun einmal über das auf der ganzen Welt(!) einmalige Recht verfügt, sich seinen Chef selber aussuchen zu dürfen, werden sie sich dieses Recht nicht nehmen lassen. Wie ist die Lage jetzt? Alle infrage kommenden Kandidaten sind erstmal in irgendeiner Weise beschädigt. Ob Nelsons wirklich abgesagt hat, kann ich mir schwer vorstellen, er wäre ein junger aufstrebender moderner Dirigent, der das von Rattle Aufgebaute fortsetzen könnte. Als ich den "Zarathustra" mit ihm im letzten Oktober erlebte, kam es mir vor, als würde ich dieses Stück zum ersten Mal hören, so grandios fand ich seine Interpretation. Und das Publikum will ihn. Beim umjubelten Nelsons-Konzert vor wenigen Wochen sagte meine Platznachbarin zu mir, wenn Thielemann es wird, kündigt sie ihr Abonnement. Ich bestreite Thielemanns Fähigkeiten in keiner Weise, aber er polarisiert nun einmal und ist musikalisch mit seinem Repertoire schwer vermittelbar. Er kann wunderbaren Bruckner und muss Mahler nicht mögen, das hat er mit anderen gemeinsam (Wand, Celibidache) aber kann er Mozart? Die Dresdner sind wohl zufrieden mit ihm, dann bleibt er eben dort. Jetzt wird es ganz schwer. Wie soll eine Mehrheit bei der nächsten Wahl erreicht werden? Wenn es noch einmal so ausgeht, das wissen alle, werden die Karten irgendwie neu gemischt. Dann muss es eine Entscheidung "von oben" geben. Also diskutieren wir bis dahin munter weiter, aber dass ein völlig neuer Name die Mehrheit finden soll, kann ich mir schwer vorstellen.