Schuberts „Winterreise“ post Fischer-Dieskau

  • Die Einschätzung der Interpretation der „Winterreise“ durch Dietrich Henschel und Erwin Gage, wie ich sie in meinem vorangehenden Beitrag ( 299 ) vorlegte, mündete zwar in die Feststellung, dass hier die künstlerische Aussage der Winterreise verfehlt würde, ich setzte das aber ganz bewusst in den Konjunktiv des einleitenden „Wäre das so…“. Denn ich bin mir diesbezüglich nicht ganz sicher und wünschte mir – wieder einmal – eine Stellungnahme von einem Tamino-Liedfreund, der mir nicht nur auf der Grundlage meiner Ausführungen zustimmt, sondern diese Aufnahme wirklich kennt.


    Immerhin kann ich mich damit beruhigen, dass ich das dahinterstehende interpretatorische Konzept und das ihm zugrundeliegende Verständnis des Protagonisten schon erfasst zu haben glaubte (und auch zu Papier brachte), noch bevor ich einen Blick in das Booklet warf. Durch diesen sah ich mich dann bestätigt. Es wurde zwar von einem Bernd Feuchtner verfasst, trägt aber den Untertitel „Dietrich Henschel im Gespräch“, so dass man davon ausgehen kann, dass der Verfasser die Auffassung von diesem wiedergibt. Er zitiert ihn ja auch permanent.


    Eines dieser Zitate Henschels lautet:
    „Der Wanderer läßt sich treiben, es treibt ihn, seine Emotionen erstarren und erwachen wieder, er erlangt mit jeder Liedstation einen weiterentwickelten Kenntnisstand seiner eigenen Psyche, wobei diese Entwicklung durchaus nicht gradlinig ist und nach Momenten der Erkenntnis auch wieder Situationen der ungesteuerten, panikartigen Getriebenheit eintreten.“


    Dieser Thread fragt in seinem Sich-Einlassen auf neue „Winterreise“-Aufnahmen danach, ob der Wandel der Zeit auch einen gewandelten interpretatorischen Blick auf dieses Werk Schuberts mit sich gebracht haben könnte. In einer ganzen Reihe von Aufnahmen konnten hierfür, wie ich denke, schon Belege gefunden und anhand einzelner Lied-Besprechungen auch konkretisiert werden. Um dies methodisch auf einigermaßen sichere Füße zu stellen, erfolgten sie am Beispiel des Liedes „Im Dorfe“ (so auch bei Henschel/Gage).


    Diese Aufnahme scheint mir nun ein besonders prägnantes Beispiel für diese neue Sicht, dieses neuen Verständnisses der „Winterreise“ zu sein. Ich denke, dass dieses Bild vom „Wanderer“ der von Station zu Station einen ständig sich weiter entwickelnden Kenntnisstand seiner Psyche gewinnt, ein Reflex des heute als Leitbild propagierten souveränen Individuums ist, das, mit dem Ziel der Selbstverwirklichung, unter Einsatz des Instrumentariums der Rationalität permanent an sich selbst arbeitet.


    Nur: Schuberts Protagonist begegnet demjenigen, der sich intensiv und offen auf dieses Werk einlässt, eben gerade nicht als ein solches, einen fortschreitenden Erkenntnisprogress über sich selbst vorführendes Individuum. Ein wesentliches Merkmal seiner Wanderung ist das ziellose äußerliche und innerliche Herum-Irren. Dem Lied „Der Wegweiser“ kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zu.

  • Eines dieser Zitate Henschels lautet:
    „Der Wanderer läßt sich treiben, es treibt ihn, seine Emotionen erstarren und erwachen wieder, er erlangt mit jeder Liedstation einen weiterentwickelten Kenntnisstand seiner eigenen Psyche, wobei diese Entwicklung durchaus nicht gradlinig ist und nach Momenten der Erkenntnis auch wieder Situationen der ungesteuerten, panikartigen Getriebenheit eintreten.“

    Und das scheint mir doch in sich etwas widersprüchlich zu sein. Die emotionale Befindlichkeit des Protagonisten bleibt im Verlauf der Winterreise nicht gleich, das ist klar (und das ist ja auch ziemlich menschlich und »normal«). Dass das aber jeweils mit einem »weiterentwickelten Kenntnisstand« seiner Psyche verbunden sein soll, das erschließt sich mir beim Anhören (und Lesen) nicht. Ich sehe da nur – wie Du geschrieben hast – ein »zielloses äußerliches und innerliches Herum-Irren«. Oder wird die Weiterentwicklung im Beiheft doch etwas näher erklärt?

  • "Oder wird die Weiterentwicklung im Beiheft doch etwas näher erklärt?"

    Nein, lieber Dieter, das wird sie nicht. Kann sie ja auch gar nicht. Denn ein solcher "Entwicklungsprozess" in der kognitiven Verarbeitung der eigenen existenziellen Situation ereignet sich in Schuberts "Winterreise" doch gar nicht.


    Das ist ja die Problematik dieses Interpretationsansatzes. Er wird - ich versuchte das aufzuzeigen - der künstlerischen Aussage von Schuberts Werk nicht gerecht. Was sich ereignet, ist ein permanentes Sich-im-Kreise-Drehen des Protagonisten in der seelischen und kognitiven Auseinandersetzung mit der existenziellen Situation, in die er sich geworfen sieht, - ja "geworfen". (Mit diesem Begriff knüpfe ich an meine Interpretation von Schuberts Werk im Thread "Die Winterreise in liedanalytischer Betrachtung" an.)


    Hierin gründet das zutiefst Schrecken-Erregende der "Winterreise". Und manchmal habe ich das Gefühl, dass die heutigen Interpretationen das nicht wahrhaben wollen und es regelrecht deklamatorisch übertönen.
    Scheut man sich heute davor, musikalisch zum Ausdruck zu bringen, dass es so etwas gibt: Existenzielle Ausweglosigkeit?
    Das frage ich mich eben gerade, in der Beschäftigung mit diesem Thread und seiner zentralen Zielsetzung.
    (Aber vielleicht bewege ich mich dabei ja auf musikwissenschaftlich höchst unsolidem, weil populärphilosophischem Feld.)

  • Scheut man sich heute davor, musikalisch zum Ausdruck zu bringen, dass es so etwas gibt: Existenzielle Ausweglosigkeit?

    Wie bringt man das zum Ausdruck? Für mein Empfinden jedenfalls nicht mit der großen kunstlied- oder opernhaften Geste eines »FiDi«, das wirkt für mich unglaubwürdig.

  • Darin, lieber Dieter, liegen wir beide - und nur wir? - hier weit auseinander.
    Ob wir wohl darin zusammenkommen werden?
    Ich möchte es versuchen.


    In Deinem Urteil über Fischer-Dieskau und seine Kunst der Liedinterpretation gehst Du - aus meiner Sicht - völlig fehl.
    Und überdies auch in der Annahme, dass ein Kunstlied die von mir angesprochene existenzielle Grunderfahrung nicht zum Ausdruck bringen könne.
    Das kann es sehr wohl! Die "Winterreise" ist der beste Beweis dafür.

  • Für mein Empfinden jedenfalls nicht mit der großen kunstlied- oder opernhaften Geste eines »FiDi«, das wirkt für mich unglaubwürdig.

    Dein FiDi-Bashing wird beim 35. diesbezüglichen Beitrag auch nicht mehr interessanter - und wird die, die es anders hören und erleben als du (wie mich und viele andere) auch beim 36. Mal nicht wirklich überzeugen...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Wie wär`s, lieber Stimmenliebhaber, wenn wir beide versuchen würden, Dieter Stockert davon zu überzeugen, dass er sich in seinem Urteil über Fischer-Dieskau irrt?


    Wäre das nicht besser, als ihm ein "FiDi-Bashing" vorzuhalten?
    Ich möchte es jedenfalls versuchen.

  • Wie wär´s lieber Stimmenliebhaber, wenn wir beide versuchen würden, Dieter Stockert davon zu überzeugen, dass er sich in seinem Urteil über Fischer-Dieskau irrt?


    Wäre das nicht besser, als ihm ein "FIDI-Bashing" vorzuhalten?

    Ich halte eine solche Überzeugungsarbeit, die hier nur verbal geleistet werden kann, gerade im Falle von Stimmen und dem, was sie emotional auslösen, für relativ aussichtslos - so herum und andersherum auch.


    Hier hat mich halt geärgert, dass mal wieder mit plattesten und vieldeutigsten Begriffen um sich geworfen wurde, um etwas oder jemanden generell und pauschal zu diskreditieren, ohne konkreten Anlass und ohne konkretes Beispiel - eine herzlich schlechte Grundlage für eine "Diskussion"...


    Im Übrigen, lieber Helmut: Hätte ich deinen Beitrag von 22.50 Uhr schon gelesen gehabt, hätte ich meinen gar nicht geschrieben, ich bin bei der Bewertung von Fischer-Dieskau ja ganz bei dir. :) :yes: :hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich sehe gerade, dass ich gar nicht so falsch damit lag, diesen Thread allmählich auf seinen eigentlichen Punkt zu bringen:
    Die Betrachtung neuer "Winterreise"-Aufnahmen unter dem Aspekt der interpretatorischen Erschließung des künstlerischen Potentials dieses Schubert-Werkes.

  • ....nicht mit der großen kunstlied- oder opernhaften Geste eines »FiDi«, das wirkt für mich unglaubwürdig.


    Mit opernhaftem Singen im schlechten Sinne verbindet man in der Regel ein massives "auf Stimme singen" , Intonationsschwächen durch ein sehr amplitudenstarkes und schon mehrere Töne umfassendes Vibrato, hohle Gestik, hin- und herschleifende Portamenti, Einförmigkeit im Ausdruck, und die Abwesehneit von Interpretation durch Feinheiten in der Aussprache, Detaildynamik, Vokalfärbungen, sinnvolle Phrasierungen oder fein austarierte Agogik. Solche Dinge ergeben sich in der Oper u.a. auch durch den Zwang zur puren Lautstärke.


    Das alles ist nun aber das genaue Gegenteil von dem, was der Liedsänger Fischer-Dieskau gemacht hat. Hier reden wir nun schon über Dinge, die nicht mehr im Bereich des persönlichen Geschmacks und des individuellen Eindrucks liegen, sondern hier gibt es musikalische Parameter, deren Existenz bzw. Abwesenheit klar und eindeutig nachzuweisen sind. Es ist mir überhaupt kein krasseres Gegenstück zum "typisch opernhaften" Gesang im negativen Sinne denkbar, als ausgerechnet die feine und detailreiche Gestaltungskunst eines Fischer-Dieskau.


    Und was ist nun die "kunstliedhafte Geste"?
    Genau dieses Distanzierte i.S.v."hier singen wir jetzt schön und nett ein Kunstlied" (also im Extremfall so, wie die Mutter Loriots in Ödipussi) kann man doch gerade so manchem Sänger der Nachgeneration vorwerfen, aber keineswegs Fischer-Dieskau. Wenn man jemanden hört und sieht, und nur einen Sänger und Pianisten wahrnimmt, der uns mehr oder weniger (klang)schön und vielleicht sogar irgendwie manieriert (siehe Threadverlauf) Noten von Schubert vorträgt, dann ist das wohl die bürgerlisch-biedere "kunstliedhafte Geste".
    Auch diesbezüglich geschah bei Fischer-Dieskau genau das Gegenteil.


    Hört man diesen Sänger, so spürt man, dass der da vorne der Wanderer ist (und der Pianist gleich mit...). Es dauert nicht lange, und Du fühlst es so, als wenn sogar Du selbst zum Wanderer wirst, als wenn Du seinen Film mit einem Rollentausch in der Weise erlebst, dass Dir selbst diese Gedanken und Gefühle hochkommen. Man ist ergriffen, erschüttert und angesichts der sich auftuenden Abgründe entsetzt. Ich kenne keinen Komponisten, der die Intensität des Grauens so erschreckend in Töne fassen konnte, wie gerade Franz Schubert. Beim ihm kann selbst Dur tieftraurig und tragisch sein, ohne Aussicht auf wirkliches Glück.
    Durch die hohe musikalische Kunst Schuberts, des Sängers und des Pianisten können die Inhalte des Textes unmittelbar zu Eindrücken und Emotionen des Hörers werden. Man muss sich zwischendurch daran erinnern, dass man ja "nur" Musik hört, dass das jetzt nicht wirklich geschieht. Wenn es in der Seele des Zuhörers zur Wirklichkeit wird, dann gehört das zum Besten, was Kunst an sich leisten kann.
    Das war bei Fischer-Dieskau oft der Fall, und das kann m.E. überhaupt nur der tiefere Sinn sein, weshalb man sich derart alte Musik hernimmt und sie auch heute noch aufführt.


    Wie wär`s, lieber Stimmenliebhaber, wenn wir beide versuchen würden, Dieter Stockert davon zu überzeugen, dass er sich in seinem Urteil über Fischer-Dieskau irrt?


    Nun bin ich ja nicht ganz unerfahren, was so ein Klassikforum anbelangt. Der Versuch, jemanden anderen vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was er für wahr und richtig ansieht und vielleicht schon immer angesehen hat, führt meistens zu noch stärkerem Beharren auf dem eigenen Standpunkt.
    Das kann man so hinnehmen oder tragisch finden, aber es ist nun einmal so.
    Wie gesagt, man muss sich hier auch nicht einigen, sondern man muss im Sinne der Toleranz andere Meinungen ertragen lernen. Trotzdem kann man ja seine Auffassungen begründet dagegensetzen, wenn es sich für den Gesprächstverlauf lohnen könnte.


    . Und manchmal habe ich das Gefühl, dass die heutigen Interpretationen das nicht wahrhaben wollen und es regelrecht deklamatorisch übertönen.
    Scheut man sich heute davor, musikalisch zum Ausdruck zu bringen, dass es so etwas gibt: Existenzielle Ausweglosigkeit?


    Für mich ist die Winterreise Ausdruck eines radikalen Scheiterns.


    Diesen beiden Aussagen stimme ich voll zu, weshalb ich auch diesem Satz, bezogen auf einen Beitrag des Kollegen Stockert, inhaltlich nichts hinzufügen kann:


    In Deinem Urteil über Fischer-Dieskau und seine Kunst der Liedinterpretation gehst Du - aus meiner Sicht - völlig fehl.



    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Mit opernhaftem Singen im schlechten Sinne verbindet man in der Regel ein massives "auf Stimme singen" , Intonationsschwächen durch ein sehr amplitudenstarkes und schon mehrere Töne umfassendes Vibrato, hohle Gestik, hin- und herschleifende Portamenti, Einförmigkeit im Ausdruck, und die Abwesehneit von Interpretation durch Feinheiten in der Aussprache, Detaildynamik, Vokalfärbungen, sinnvolle Phrasierungen oder fein austarierte Agogik. Solche Dinge ergeben sich in der Oper u.a. auch durch den Zwang zur puren Lautstärke.


    Das alles ist nun aber das genaue Gegenteil von dem, was der Liedsänger Fischer-Dieskau gemacht hat. Hier reden wir nun schon über Dinge, die nicht mehr im Bereich des persönlichen Geschmacks und des individuellen Eindrucks liegen, sondern hier gibt es musikalische Parameter, deren Existenz bzw. Abwesenheit klar und eindeutig nachzuweisen sind. Es gibt mir überhaupt kein krasseres Gegenstück zum "typisch opernhaften" Gesang im negativen Sinne denkbar, als ausgerechnet die feine und detailreiche Gestaltungskunst eines Fischer-Dieskau.

    :jubel:


    Und was ist nun die "kunstliedhafte Geste"?
    Genau dieses Distanzierte i.S.v."hier singen wir jetzt schön und nett ein Kunstlied" (also im Extremfall so, wie die Mutter Loriots in Ödipussi) kann man doch gerade so manchem Sänger der Nachgeneration vorwerfen, aber keineswegs Fischer-Dieskau. Wenn man jemanden hört und sieht, und nur einen Sänger und Pianisten wahrnimmt, der uns mehr oder weniger (klang)schön und vielleicht sogar irgendwie manieriert (siehe Threadverlauf) Noten von Schubert vorträgt, dann ist das wohl die bürgerlisch-biedere kunstliedhafte Geste.
    Auch diesbezüglich geschah bei Fischer-Dieskau genau das Gegenteil.


    Hört man diesen Sänger, so spürt man, dass der da vorne der Wanderer ist (und der Pianist gleich mit...). Es dauert nicht lange, und Du fühlst es so, als wenn sogar Du selbst zum Wanderer wirst, als wenn Du seinen Film mit einem Rollentausch in der Weise erlebst, dass Dir selbst diese Gedanken und Gefühle hochkommen. Man ist ergriffen, erschüttert und angesichts der sich auftuenden Abgründe entsetzt. Ich kenne keinen Komponisten, der die Intensität des Grauens so erschreckend in Töne fassen konnte, wie gerade Franz Schubert. Beim ihm kann selbst Dur tieftraurig und tragisch sein, ohne Aussicht auf wirkliches Glück.
    Durch die hohe musikalische Kunst Schuberts, des Sängers und des Pianisten können die Inhalte des Textes unmittelbar zu Eindrücken und Emotionen des Hörers werden. Man muss sich zwischendurch daran erinnern, dass man ja "nur" Musik hört, dass das jetzt nicht wirklich geschieht. Wenn es in der Seele des Zuhörers zur Wirklichkeit wird, dann gehört das zum Besten, was Kunst an sich leisten kann.
    Das war bei Fischer-Dieskau oft der Fall, und das kann m.E. überhaupt nur der tiefere Sinn sein, weshalb man sich derart alte Musik hernimmt und sie auch heute noch aufführt.

    :jubel:


    Alles ganz wunderbar beschrieben, dem habe ich nichts hinzuzufügen!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Scheut man sich heute davor, musikalisch zum Ausdruck zu bringen, dass es so etwas gibt: Existenzielle Ausweglosigkeit?


    Darauf wird es wohl keine eindeutige Antwort geben.
    Man müsste wählen unter den verschiedensten Motiven wie zum Beispiel:


    - der Interpret kann es nicht.
    - der Begleiter kann es nicht.
    - man sucht die Abwechslung.
    - man will die Aufmerksamkeit von technischen Mängeln ablenken.
    - man will dem Hörer demonstrieren, dass er bisher alles falsch verstanden hat.
    - man hat einen Gelehrten um seine Meinung gefragt.
    - man ist der Einzige, der die Intentionen Müllers und Schuberts begreift.
    - man hofft, dass die Kritiker das auch so sehen.
    - man beruft sich auf den Zeitgeist.
    - man hat sich über die Steuererklärung geärgert.
    - man verwechselt das Sujet mit dem der "Lieder eines fahrenden Gesellen".


    und im Idealfall, nach fast 200 Jahren doch eher unwahrscheinlich:


    - man hat entdeckt, was bisher verborgen war.

  • Zu meiner Frage: „Scheut man sich heute davor, musikalisch zum Ausdruck zu bringen, dass es so etwas gibt: Existenzielle Ausweglosigkeit?“


    Sie drängte sich mir auf, - im Laufe der Beschäftigung mit den vielen Neu-Aufnahmen der „Winterreise, von denen zehn hier ja schon vorgestellt sind (ich möchte mindestens noch zwei weitere hinzufügen).
    Meine letzten Gedanken und Überlegungen zu diesem Fragenkomplex stützten sich ja auf die Aufnahme von Dietrich Henschel und Irwin Gage. Und hier nun kann man – gestützt auf ein sorgfältiges Hinhören und Henschels Äußerungen selbst – mit Sicherheit feststellen, dass hinter diesem interpretatorischen Konzept eine sehr gründliche künstlerisch-reflexive Auseinandersetzung mit Schuberts Werk steht.
    Ob das bei allen anderen hier vorgestellten Interpreten in gleicher Weise der Fall ist, das weiß ich nicht, gehe aber mal davon aus, dass keiner sich mal eben so aus dem Handgelenk an die gesangliche und pianistische Realisierung der „Winterreise“ heranwagt. Irgendwo las ich in einem Booklet mal den Satz: „Schuberts Winterreise stellte die(!) große Herausforderung für ihn dar“. So dürfte das jeder Liedsänger sehen.


    Das aber bedeutet, dass man eine solche Aufnahme wie die von Dietrich Henschel/Erwin Gage ernst nehmen muss in der Art und Weise, wie hier die „Winterreise“ interpretatorisch präsentiert wird und wie deren Protgagonist gesehen und als Figur künstlerisch gestaltet wird. Und man wird dabei, wenn man das, was man hört, reflexiv begleitet, mit einer gewissen Notwendigkeit vor die Frage gestellt, was den Sänger bewogen haben mag, den Protagonisten so zu sehen und dieses Verständnis in die gesangliche Interpretation der Lieder einfließen zu lassen. Dazu gehört dann natürlich auch die Frage nach der Adäquatheit: Die Frage also, ob Schuberts Notentext ein solches Verständnis hergibt, - um´s mal salopp zu formulieren.


    Wenn sich im – von Henschel inspirieren – Booklet die Feststellung findet: „Der Wanderer macht sich auf, seine eigene Position zu erforschen. Sowohl seine Position gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen (..) als auch seine Position sich selbst gegenüber“, so meint man dieses Verständnis des Protagonisten in Henschels Interpretation wirklich vernehmen zu können. Es ist, wenn man so will, ein – das Wort „erforschen“ verrät es - ausgeprägt rationalistisches Verständnis der Wanderer-Gestalt.


    Ich habe nur erhebliche Zweifel, ob man damit ihr Wesen erfasst, - so wie Schubert es in diesen Liedern gestaltet hat. Schuberts Wanderer „erforscht“ nicht, sucht nicht nach einer „Position“ sich selbst und der Gesellschaft gegenüber. Das ist ein Verständnis dieser literarischen und musikalischen Figur, in dem sich, wie ich meine, tatsächlich der heutige Zeitgeist niederschlägt.


    Und von dort kommt meine Vermutung – es ist tatsächlich nur eine Hypothese - , dass hinter einer solchen Interpretation der „Winterreise“ eine bewusste Abkehr von dem gleichsam traditionellen Bild des Wanderers als eines in die existenzielle Ausweglosigkeit geworfenen Menschen steht. Bei Christian Gerhahers Winterreise hatte ich ja zum ersten Mal auf dieses Grundverständnis der Winterreise“ hingewiesen.

  • Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich (als Laie) mit meiner Wortwahl (kunstlied- oder opernhaft) Missverständnisse ausgelöst habe.Gemeint hatte ich damit, dass Fischer-Dieskau sein großes sängerisches Vermögen so ausspielt, dass es für mich bei der Winterreise einfach zu viel ist. Konkret zu einzelnen Liedern habe ich bisher nur zu »Im Dorfe« und zum »Lindenbaum« etwas gesagt, nämlich (in Beitrag 134), dass ich bei »Im Dorfe« im ersten Moment beeindruckend fand, was Fischer-Dieskau daraus gemacht hat, und dass ich dann beim »Lindenbaum« regelrecht erschrocken bin, weil mir das nach Geraerts nur noch übertrieben vorkam, dass ich da allenfalls den kunstvollen Vortrag »bewundern«, aber nicht mehr mitempfinden konnte. Ich muss gestehen, dass ich die ganze Winterreise noch nie von Fischer-Dieskau gehört habe (ich kaufe mir eben nur Aufnahmen mit »authentischen« Instrumenten). Ich muss weiter gestehen, dass ich grundsätzlich kein besonderer Liebhaber der klassischen Vokalmusik bin (Schuberts Lieder und speziell die Winterreise als große Ausnahme), und mein Zugang von daher ein etwas beschränkter sein mag. Aber ich sollte mich bemühen, offen zu sein, und so habe ich gestern den Link von farinelli zu Fischer-Dieskaus »Wanderer« in Beitrag 291 angeklickt. Was soll ich sagen? Das hat mir gefallen. Ich fand den Vortrag da durchaus nicht übertrieben. Es hat mich berührt. Also stellt sich die Frage, was ist bei der Winterreise anders, dass ich es da als dermaßen unangemessen empfinde? (Und schon gleich, nachdem ich den letzten Satz geschrieben habe, möchte ich ihn doch teilweise wieder zurücknehmen, denn es geht mir eben nicht nur um die »große Geste«, um das Ausschöpfen der gesanglichen Mittel an sich, sondern darum, wie ich das bei Fischer-Dieskau erlebe: nämlich dass die Betonungen, die Stellen, wo er beim »Lindenbaum« laut wird oder wieder ganz leise singt, auf mich so wirken, als würde das »auf Effekt« gemacht sein, wo ich das einfach nicht mit dem Text zusammenbringe.)

  • Zit.: " und dass ich dann beim »Lindenbaum« regelrecht erschrocken bin, weil mir das nach Geraerts nur noch übertrieben vorkam, dass ich da allenfalls den kunstvollen Vortrag »bewundern«, aber nicht mehr mitempfinden konnte."


    Dein "Problem", lieber Dieter, scheint zu sein, dass Du von der Geraerts-Winterreise an die von Fischer-Dieskau geraten bist. Da ist es gar nicht verwunderlich, dass Du dabei eine Art "Schock"-Erlebnis hattest. Jeder, der die Geraerts-Aufnahme kennt - es sind leider nur wenige hier - wird verstehen, was ich meine.


    Was Dich nachdenklich machen sollte, ist dieses: Mir ging es umgekehrt genauso. Als zum ersten Mal Harry Geraerts das Lied "Im Dorfe" singen hörte, stand mir vor Verwunderung der Mund offen. Ich wollte nicht glauben, was ich da hörte.
    Und was habe ich gemacht: Ich hörte mich erst einmal gründlich in diese Winterreise ein, und dann habe ich versucht, diese Art des Singens und Interpretierens der Lieder an zwei Beispielen genauer zu beschreiben und zu analysieren und - das ist jetzt das Wichtigste! - zu verstehen, warum Geraerts so singt, wie er das tut. Im Falle von "Im Dorfe" ist das ja hier nachzulesen.
    Ich bin sogar noch weitergegangen und habe ein weiteres Lied in drei Aufnahmen verglichen: Fischer-Dieskau, Christian Gerhaher und Harry Geraerts. Darüber werde ich noch berichten.
    Man muss also - so denke ich - erst einmal gründlich eintauchen in einen solchen Liedgesang, bevor man sich ein Urteil darüber bilden kann.


    Bei Fischer-Dieskaus Liedgesang von "Übertreibung" zu sprechen wäre dann angebracht, wenn er bei der Deklamation der melodischen Linie mit aufgesetzten Effekten arbeitete. Das aber tut er gerade nicht, sondern er lässt die semantische Dimension des lyrischen Textes in die gesangliche Gestaltung der melodischen Linie einfließen, darin dem folgend, was Schubert im Notentext vorgegeben hat. Ein Beispiel: Man kann eine melodische Sprungbewegung, die einen klanglichen Akzent auf ein bestimmtes Wort setzt, gesanglich deutlich hervorheben, man kann sie aber deklamatorisch auch gleichsam überspielen, weil einem der Fluss der melodischen Linie wichtiger ist. Die Frage ist jetzt, wer Schubert da richtiger interpretiert, - der Eine oder der Andere. Das aber kann man nur im konkreten Einzelfall entscheiden. Und aus diesem Grund habe ich diesen Vergleich dreier Aufnahmen angestellt.


    Ich muss aber gestehen - und bitte dafür um Verständnis -: Diese rein gesanglichen Fragen interessieren mich - ganz einfach von der Zielsetzung dieses Threads her- weniger, als die Frage der Interpretation der Winterreise als Gesamtwerk mit Blick auf das Verständnis ihres Protagonisten. Und es wäre mir ganz lieb, wenn es darüber hier zu einer Diskussion käme. Die Betrachtung der Art und Weise, wie einer die Winterreise gesanglich gestaltet, ist für mich nur Mittel zum Zweck. Der Zweck ist: Ich möchte herausfinden, welches Verständnis der Winterreise dahintersteht.


  • Hier sieht man sehr schön, dass die Dynamikspanne von pp (später sogar ppp) bis f geht - was der Pianist gar nicht realisiert. Am Anfang ist er viel zu hölzern und laut. Und zum f im Klavier gehört auch eine entsprechend kräftige Stimme! :hello:

  • Lieber Holger Kaletha


    Wer sind Sänger und Pianist in dieser Aufnahme?


    lg moderato


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich glaube, um an meinen vorangehenden Beitrag anzuknüpfen und in dem gleichsam bilanzierenden Sich-Einlassen auf die Fragestellung dieses Threads fortzufahren:


    Unter den hier besprochenen Neuaufnahmen der „Winterreise“ gibt es nur wenige, bei denen ich einen neuen interpretatorischen Ansatz zu vernehmen und zu erkennen vermeine. Es sind die von


    Christian Gerhaher
    Jan van Elsacker
    Ian Bostridge
    Harry Geraerts und
    Dietrich Henschel


    Alle anderen bewegen sich, was das die künstlerische Aussage des Werkes und das Verständnis des Protagonisten anbelangt, im Rahmen des Herkömmlichen.
    Dieser Begriff ist nicht abwertend gemeint. Er ist im Sinne einer rein sachlichen Feststellung gebraucht, die sich an solch herausragenden und interpretatorische Maßstäbe setzenden Aufnahmen wie denen von Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey oder etwa Christoph Prégardien orientiert.


    Wie diese wirklichen „Neu“-Aufnahmen nun im einzelnen zu beurteilen und zu bewerten sind, das sollte – für mich - Gegenstand der letzten Beiträge zu diesem Thread sein. Im Augenblick neige ich dazu, nur eine für interpretatorisch wirklich relevant zu halten. Das wäre freilich noch gründlich zu reflektieren.
    Zuvor möchte ich aber noch zwei weitere dieser „Neu-Aufnahmen“ hier vorstellen.
    Um es gleich vorweg zu sagen: Für wirklich relevant, was die Erschließung neuer Dimensionen der "Winterreise" anbelangt, halte ich sie nicht.

  • Wer sind Sänger und Pianist in dieser Aufnahme?

    Lieber Moderato,


    ich vermute, es handelt sich um ein Lehrvideo von einem Konservatorium aus Frankreich oder Belgien. Dafür sprechen natürlich die französischen Kommentare, die Aufnahmetechnik (der Flügel klingt wie ein Übungsinstrument) und der Sänger hat einen deutlichen Akzent.


    Interessant finde ich ja, dass im Unterschied zum Klavier bei der Singstimme fast nichts notiert ist außer den nackten Noten. Hat Schubert die Ausführung wie J. S. Bach etwa im WTK der Aufführungspraxis überlassen (nach dem Motto: der Sänger weiß, wie er es machen muß mit Phrasierung, Dynamik usw., wozu es dann aufschreiben?)? :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wer schöne, wohlklingende Stimmen liebt, dürfte an dieser Winterreise“ seine Freude haben. Der österreichische Bass-Bariton verfügt über eine solche und vermag die Leder der „Winterreise“ in ihrer musikalisch-klanglichen Substanz zu vollem Leben zu erwecken. Malcolm Martineau begleitet ihn dabei mit einem höchst subtilen, die Feinheiten des Klaviersatzes in perfekter Weise berücksichtigenden Klavierspiel. Die mit der kleinen Sekunde fallende melodische Linie auf den Worten „Fremd bin ich eingezogen“ kommt einem hier in einem so sonor-kräftigen Ton entgegen, dass man gar nicht glauben mag, dass hier ein seelisch angeschlagener Mensch, einer, dem die Welt nun „trübe“ geworden ist, der schlafenden Geliebten ein Abschieds-Gute-Nacht singt. Alsbald aber zeigt sich, dass dieser Sänger sehr wohl zu einem sehr differenzierten Vortrag der melodischen Linie in der Lage ist. Die nächtlich-winterlichen Bilder vom Mondenschatten, der als Gefährte mitzieht, kommen stimmlich fein gezeichnet, und beim dem Will dich im Traum nicht stören“ wird die Stimme in beindruckender Weise ins Pianissimo zurückgenommen.


    Aber es soll hier ja um das Lied „Im Dorfe“ gehen. Ich möchte, wie angekündigt, mich nicht mehr so ausführlich und ins Detail gehend zu den Aufnahmen äußern. Es hat sich, da kommentierende Stellungahmen darauf erfahrungsgemäß nicht Bezug nehmen, als wenig sinnvoll erwiesen.
    Die Sechzehntel-Figur im Bass des Vorspiels wird von Martineau sehr sanft artikuliert, ohne jegliche Schroffheit im Anschlag und im jeweiligen Abschluss. Florian Boeschs Deklamation der melodischen Linie der ersten Strophe kommt bedächtig daher. Es werden fast überdeutlich anmutende deklamatorische Akzente gesetzt. Fast jedes syntaktisch bedeutsame Wort trägt einen: „Hunde“, „rasseln“, „Ketten“. Das aus einem Sextsprung hervorgehende hohe „D“ bei dem Wort „schlafen“ wird in auffälliger Weise gedehnt, und in den Septfall zu dem Wort „Menschen“ wird ein – von Schubert nicht vorgesehener – Bogen gelegt, der dem Bild die Anmutung von Alltäglichkeit der Szenerie verleiht. Und nun wirklich maßlos übertrieben wirkt – auf mich – der höhnisch herüberkommende Akzent auf dem Wort „ihren“ („Betten). Auch da wird wieder ein melodischer Bogen in den Septfall gelegt. Boesch bringt in die melodische Linie dieser Strophe eine Schuberts Liedmusik nicht gerecht werdende Expressivität: Er verfehlt deklamatorisch die konstatierende Nüchternheit der Melodik.


    Und das setzt sich so fort. In die melodische Linie bei den Worten „Träumen sich manches, was sie nicht haben“ legt er einen mit Dehnungen und Bögen erzeugten, sich in der Expressivität steigernden Spannungsbogen, der wohl auf eine Ironisierung der lyrischen Aussage abzielt. Dementsprechend wird dann dem Wort „erlaben“ mit einer wie gehaucht wirkenden Dehnung wiederum ein besonderer Akzent verliehen. Bei den Worten „morgen früh“ kommt ein ganz leichtes Tremolo in die Stimme, und das Wort „zerflossen“ wird Silbe für Silbe deklamatorisch ausgekostet. Ähnlich ist das bei dem Wort „Kissen“ am Ende der zweiten Strophe. Auch hier wirkt die Deklamation in einer Weise expressiv, die man – jedenfalls ich – als aufgesetzt empfindet.


    Bei den Worten „Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde“ singt Boesch die Dehnungen voll aus, legt aber dann auf das hohe „D“ bei dem Wort „lasst“ wieder einen starken Akzent. Dem „Ich bin zu Ende“ wird mittels einer vibratofreien, wie melodisch starr wirkenden Deklamation des tiefen „E“ hoher Nachdruck verliehen. Der Sänger will die Emotionen und Gedanken des lyrischen Ichs in geradezu überdeutlicher Weise zum Ausdruck bringen, und deshalb legt er bei der Deklamation der Worte „allen Träumen“ wieder ein leichtes Tremolo in die mit einem Hauch angereicherte und stark zurückgenommene Stimme.


    Ganz bezeichnend und aufschlussreich, was seine interpretatorische Intention anbelangt ist – wie ich finde -, dass er bei der Wiederholung des „Ich bin zu Ende“ die Tatsache völlig ignoriert, dass der kleine Sekundfall der harmonischen Linie und ihre Rückung nach B-Dur eine Rücknahme der Stimme in die Innerlichkeit des Singens erfordert. Er behält deklamatorisch den expressiven Grundton bei, den er bei der sängerischen Gestaltung der beiden Schlussverse am Anfang angeschlagen hat. Es ist der der Mitteilung seelischer Befindlichkeit an die Außenwelt. Und dazu passt, dass er dem Wort „Träumen“ wieder einen starken Akzent verleiht und dass er die Dehnung auf dem Wort „säumen“ über die Maßen lange hält und sie dann mit einem ins extreme Pianissimo mündenden Terzfall ausklingen lässt.


    Ich mag mich irren, aber ich wage die Feststellung: Das ist keine Schuberts Musik gerecht werdende gesangliche Interpretation dieses Liedes.

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  • Für alle, die die CD nicht zufällig haben, aber dennoch mitreden wollen, gibt es die von Helmut Hofmann benannte Musik im Netz zu hören:



    Das Lied "Im Dorfe" beginnt bei 53.14


    Zu Helmut Hofmanns Kommentaren möchte ich in Stichproben Stellung nehmen und beschreiben, ob ich es auch so höre oder nicht.


    Wer schöne, wohlklingende Stimmen liebt, dürfte an dieser Winterreise“ seine Freude haben.


    Auf jeden Fall ist das so. Boesch verfügt über ein angenehm sonores Timbre.


    Ich möchte, wie angekündigt, mich nicht mehr so ausführlich und ins Detail gehend zu den Aufnahmen äußern. Es hat sich, da kommentierende Stellungahmen darauf erfahrungsgemäß nicht Bezug nehmen, als wenig sinnvoll erwiesen.


    Die Ankündigung wurde ja nun doch nicht eingehalten.... ;)
    Es geht selten so, dass Leute nachhören, was ich beschrieb, jedoch kommt es ab und zu doch vor. Bei diesem Thema hier kommt ja auch erschwerend hinzu, dass nicht alle so viele Aufnahmen der Winterreise besitzen und nur ein Teil der Einspielungen online frei zu hören sind.


    Die Sechzehntel-Figur im Bass des Vorspiels wird von Martineau sehr sanft artikuliert, ohne jegliche Schroffheit im Anschlag und im jeweiligen Abschluss.


    Alles andere als Legato wäre hier auch schlimm. Hinzufügen möchte ich, dass der Pianist durch seine subtile dynamische Gestaltung die kurzen Blöcke des Vorspiels mit Spannung und Leben erfüllt. Sehr gut auch die musikalisch-organische Gestaltung der Spannungspausen. Es ist eine Bewegung, die unterbrochen wird, sich im Kopf mit neuem Einsatz etc. fortsetzt und dann wieder neu beginnt. Das kann überzeugen.


    Es werden fast überdeutlich anmutende deklamatorische Akzente gesetzt. Fast jedes syntaktisch bedeutsame Wort trägt einen: „Hunde“, „rasseln“, „Ketten“.


    Dem kann ich nun nicht folgen. Vielleicht gibt es ein textangepasst kräftiges Einsteigen bei "Es bellen..." (was auch m.E. angemessen sein kann), aber ein Akzent auf "Hunde" liegt doch nicht vor. Im Gegenteil fügt er dieses Wort durch ein kleines Crescendo in einen Phrasenzusammenhang mit "....es rasseln", wodurch auf dem Wort "Hunde" die erste Silbe "Hun" gegenüber der zweiten "de" gerade keinen Akzent bekommt, weil ja ein Zusammenhang mit "...de_es rasseln..." gebaut wird. Das "..de" von "Hunde" wird dabei fast lauter als die erste Silbe.
    "Rasseln" wird nicht extra akzentuiert, aber durch den Aufgang der Melodie und dem rollenden R auf "rasseln" entsteht zwangsläufig eine gewisse Betonung. Dass hier ein rollendes R für das Wort "rasseln" etwas ausgekostet wird, ist in diesem lautmalerischen Zusammenhang m.E. nur mehr als sinnvoll.
    Zu den Ketten hin wird angemessen abphrasiert, auch hier höre ich keinen unnatürlichen oder aufgesetzten Akzent.


    Das aus einem Sextsprung hervorgehende hohe „D“ bei dem Wort „schlafen“ wird in auffälliger Weise gedehnt, und in den Septfall zu dem Wort „Menschen“ wird ein – von Schubert nicht vorgesehener – Bogen gelegt, der dem Bild die Anmutung von Alltäglichkeit der Szenerie verleiht.


    Obwohl ein Legatobogen von Schubert nicht eingetragen wurde, heißt das ja ganz und gar nicht, dass hier ein Legato verboten wäre.
    Im Verhältnis zum erforderlichen Ausdruck enthält der Notentext in der Gesangslinie eigentlich sehr sehr wenig Anweisungen. Es wäre ja töricht, fast die gesamte Winterreise ausdruckslos zu singen, nur weil die Noten eben nur ein Gerüst darstellen, keineswegs eine genaue Ausführungsanweisung.
    Aus meiner Sicht hat Boesch also durchaus die Freiheit, in Takt 8 ff. einen Ausdruck zu gestalten, der ihm angemessen erscheint.
    Die Absicht des Sängers leuchtet mir eigentlich ein: Erst hört man die bellenden Hunde (mit fester, kräftiger Stimme vorgetragen), dann rasseln die Ketten (lautmalerisch gedeutet, so dass der Hörer sich eine Vorstellung machen kann).....dann aber der leichte Nebenaffektwechsel, vom abweisend Ungemütlichen, potentiell Brutalem hin zum Weichen: "Es schlafen die Menschen in ihren Betten".
    Sie schlafen ja nicht auf kalten Steinen unter den Hunden mit ihren Ketten, sondern sie schlafen faktisch weich und süß in ihren bequemen Betten.
    Schubert setzt hier wiederholend die typische Rufterz, die ja gerne auch von spielenden Kindern auf dem Schulhof verwendet wird 5 - 3 (von der Quint auf die Terz) um die so alltägliche wie abweisende sichtbare Szenerie mit den in Ketten bellenden Hunden auszudeuten. Das ganze Lied könnte wie ein Singsang mit diesen Tönen so weitergehen (man könnte ja die Begleitung durch harmonische Änderungen variieren), doch Schubert unterbricht dieses So-Mi-Spielchen durch eine wesentlich ausdruckstärkere Melodieführung. Die Terz (der letzte, untere Ton der Drehfigur) wird auftaktig zu einem Sextsprung nach "schlafen" verwendet, so dass die Melodielinie von der Terzlage hin zur Oktavlage einen weichen Bedeutungsakzent bekommt. Von dort oben geht es hinunter auf die 2te Stufe der unterliegenden diatonischen Skala, sodass der Sänger hier das sehr ausdrucksstarke Intervall der kleinen Septime bewältigen muss (Melodieverlauf 8 ->2). Sowohl melodisch also auch textlich kann man hier durchaus einen leichte Affektverschiebung erkennen, wenn man will. Harmonisch geschieht auf "Menschen" in Takt 9 ja auch mehr, als in den Takten 7-8 ( mit den Worten Hunde und Ketten auf der jeweiligen Takteins).


    Dort verharrt die Musik nur in der Tonika T, und wechselt am Figurende jeweils zur Tonika mit Terz im Bass T / 3.
    So könnte es noch sehr lange weitergehen. Doch in Takt 9 setzt Schubert die Subdominante als vermollten Quintsextakkord in einem sehr schönen Voicing mit der 5 und der 6 nebeneinander in Sekundreibung und der Mollterz in Sopranlage ohne Dopplung des Grundtons. Eigentlich könnte man einen normalen S 5/6 erwarten, aber Schubert bevorzugt den ausdruckstärkeren, leicht irritierenden und größere harmonische Zusammenhänge schaffenden Mollstellvertreter des Quintsextakkords. Beim figurativ analogen Aufstieg der Bassmelodie zur Mollterz verzichtet Schubert auf den eigentlich zu erwartenden Grundton im Tenor, was die Figur eleganter klingen, aber auch vom harmonischen Eindruck her etwas dissonanter macht, weil ja nur noch die Sekundreibung Quintsext in der rechten Hand übrigbleibt.
    Das kann schon (muss nicht) als Indikator gewertet werden, hier mit Hilfe von Legatissimo, leichter Agogik und lyrisch weichem Klang ein molto dolce zu machen.
    Bach verwendete übrigens auch ein gespreiztes Intervall (früher im Stück nur auftaktig 5 ->1 zur Tonika, dann aber 5->11, also ein Septaufgang zur Dominante mit Terz im Bass und mit Bogenvibrato weich begleitenden Streichern) in einem bekannten Konzert, nämlich im ersten Satz des 6. Brandenburgischen Konzerts. Auch hier wird durch die Intervallspreizung und die Änderung der harmonischen Grundsituation ein Affektwechsel eingeleitet. Bach schreibt hier eine weiche Artikulation (Bogenvibrato) im Gegensatz zum Staccato-Geschrubbe von Takt 1 an vor (Leider kann man das bis heute nur in der Interpretation Harnoncourts aus den 80er Jahren, also in seiner zweiten Aufnahme deutlich hören)
    Schubert tat dies für die Vokallinie nicht, aber er schloss die Variation in der Artikulation auch nicht aus.
    Aufgrund der vorgebrachten Erkenntnisse meiner Analyse komme ich zum Ergebnis, dass der Wechsel hin zum dolce, den Boesch hier vornimmt, aus der Partitur heraus sinnvoll begründet werden kann.


    Und nun wirklich maßlos übertrieben wirkt – auf mich – der höhnisch herüberkommende Akzent auf dem Wort „ihren“ („Betten). Auch da wird wieder ein melodischer Bogen in den Septfall gelegt. Boesch bringt in die melodische Linie dieser Strophe eine Schuberts Liedmusik nicht gerecht werdende Expressivität: Er verfehlt deklamatorisch die konstatierende Nüchternheit der Melodik.


    "Ihren" wird hier nicht im Sinne eines sforzato akzentuiert, sondern es wird vielmehr weich ziehend gesungen. Die Menschen liegen weich und bequem in ihren Betten. Die Tongebung folgt diesem Bild. Ich höre das nicht als höhnisch, sondern vielleicht eher so, dass dem Wanderer bewusst wird, dass die Menschen über "ihre" Betten verfügen können, während er nun einmal keines besitzt und sich in der Kälte die bellenden Hunde mit den rasselnden Ketten ansehen darf. Er fühlt, wie sehr er nicht mehr dazugehört. Schubert hat das Wort "ihren" ja allein schon durch den hohen Ton betont. Boesch betont den Ton gerade nicht auch noch extra, sondern lässt ihn durch ein sanftes Ziehen für sich wirken, um von der Quinte (eine Oktave höher) ein weites Intervall (eine kleine Septime abwärts) hinunterzufallen, nämlich auf die 6 des Akkords. Das klingt zugleich weich und süß, aber auch irgendwie unterschwellig entsetzlich, weil dissonant, denn wenn man das Intervall umkehrt, dann wird aus dem kleinen Septimfall eine Sekunde, also ein recht dissonantes Intervall. Von daher kommt wohl der zwiespältige Eindruck der Stelle. Einerseits ist es ja weich und schön, so eine Bett zu haben, andererseits gilt das ja für die Menschen, und eben nicht für den Wanderer. Der einen Freud ist des anderen Leid. Das kommt hier harmonisch zum Ausdruck und kann durchaus etwas expressiv bedacht werden.
    Würde Boesch hier nichts machen, dann könnte man ihm wieder andererseits den Vorwurf machen, dass er diese Dinge nicht erkennt und über all das Ausdruckspotential unmusikalisch hinwegsingt. Das ist bei ihm aber nicht der Fall.


    In die melodische Linie bei den Worten „Träumen sich manches, was sie nicht haben“ legt er einen mit Dehnungen und Bögen erzeugten, sich in der Expressivität steigernden Spannungsbogen, der wohl auf eine Ironisierung der lyrischen Aussage abzielt.


    Das höre ich nicht so. Boesch setzt hier das Bild der schlafenden Menschen mit seinem dolce-Ausdruck weiter in Klang um. Auch hier meine ich, dass man von der Interpretation der Interpretation her über das Ziel hinausschießt, wenn man das als einen ironischen Ausdruck deutet.
    Ein bisschen bissig ist der Text ja auch, denn wer "erlabt" sich schon am Argen, weshalb der kleine und kurze Akzent auf "Argen" mit etwas rollendem r m.E. gut begründet werden kann.


    Bei den Worten „morgen früh“ kommt ein ganz leichtes Tremolo in die Stimme, und das Wort „zerflossen“ wird Silbe für Silbe deklamatorisch ausgekostet.


    Gerade die Stelle hat Boesch in meinen Ohren sehr überzeugend gestaltet. Dem wirklich sehr sehr leichte Tremolo in der Stimme bei "morgen früh" möchte ich jetzt nichts Bedeutungsschwangeres andichten. Boesch versucht hier bei der gesamten Phrase, die Atmosphäre der Leere (also nachdem man erkennt, dass alles nur ein Traum war) durch Non-Vibratogesang zu vermitteln, was ihm für mich sehr gut gelingt. Diese superkleine Zittern der Stimme geschieht nun einmal natürlich, wenn man singt.
    Ein weiterer Grund für die Stimmungseintrübung entlang des Textes sieht man in Schuberts Harmonien: von Takt 15 auf 16 hören wir etwas Unerwartetes: Bei "erlaben" setzt er die Dominante mit 4 / 6 Vorhalten, die sich eigentlich zur normalen Dominante ( 3 / 5) auflösen müsste. Stattdessen kommt aber die Vermollung des Dominaten 4/6-Akkords, wodurch die Ernüchterung, dieses Resignative, jenes Schulternhängenlassen des Textes eindrucksvoll ausgedrückt wird. Boesch trägt dem durch seine fahle Tongebung Rechnung. Dass er das erkannt hat, beurteile ich als musikalisch, nicht als aufgesetzt. Sehr gut finde ich auch, dass er den A-Vokal von "alles" nicht "opernhaft" (da haben wir es wieder, jenes Wort...) langzieht, sondern einen kurzen aber weichen Akzent darauf macht. Dadurch wird die resignative, in die Erkenntnis der Sinnlosigkeit kippende Stimmung sehr gut vermittelt.


    Ähnlich ist das bei dem Wort „Kissen“ am Ende der zweiten Strophe. Auch hier wirkt die Deklamation in einer Weise expressiv, die man – jedenfalls ich – als aufgesetzt empfindet.


    Auch das kann man anders hören, denn auf "Kissen" findet die höchste Note des Lieds statt, nicht auf einer Durchgangsnote, sondern auf einem betonten Takteil und als punktiertes Viertel auch relativ lange. Boesch möchte dem Wort keinen dramatischen Akzent geben, sondern will es weich.....kissenweich singen, was ja durchaus sehr richtig ist. Sänge er aber mit normaler Stimme den hohen Ton, dann müsste er stützen und in der Höhe recht laut singen, was dem gewünschten Ausdruck zuwiderliefe. Er entschied sich also dafür, ein Falsett einzusetzen, wodurch diese Klangfarbe entstand. Ich finde, dass es vom Ausdrucksgehalt des Wortes und von der Notwendigkeit, am Phrasenende etwas abzuphrasieren durchaus eine gute, künstlerisch vertretbare Entscheidung war, das so zu machen.


    "Bellt mich nur fort" wird wieder mit kraftvoller Stimme gesungen, was vom Text her erst einmal geboten erscheint.


    Bei den Worten „Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde“ singt Boesch die Dehnungen voll aus, legt aber dann auf das hohe „D“ bei dem Wort „lasst“ wieder einen starken Akzent.


    Er verwendet hier keine agogischen Dehnungen, sondern singt den Rhythmus so, wie er da steht und wie es dem Tempo des Pianisten entspricht.
    Bei ihm ist das hohe D übrigens ein c2, weil er eine transponierte Version singt.
    Jedenfalls macht er bei "lasst mich nur ruhn" einen wunderschöne, kantabel zusammenhängende Phrase, wozu auch gehört, dass er den hohen Ton auf "lasst" nicht sofort mit voller Dynamik aussingt, sondern die Endlautstärke auf diesem Ton etwas später einsetzen lässt.
    Das ist eigentlich sehr schön und an der Stelle geradezu großartig!



    Ich mag mich irren, aber ich wage die Feststellung: Das ist keine Schuberts Musik gerecht werdende gesangliche Interpretation dieses Liedes.


    Nachdem was ich gehört habe, lieber Helmut, täte eine solche Feststellung dem guten Manne sehr unrecht, weshalb ich die Ergebnisse meines Hörens Deinem Text gegenüberstelle.


    Es wäre sicherlich interessant und spannend, wenn noch weitere Taminos die entsprechenden Stellen nachhören.


    An diesem Lied kann ich nicht viel kritisieren, ausser einer Sache: In Takt 19 spielt der Pianist auf den Tonrepititionen der rechten Hand ein Portato.
    Schubert schrieb hier Punkte über den Noten mit einem Bogen über allen 12 Achteln und einem cres. --> dim. als dynamischer Anweisung.
    Hier hätte der Begleiter ein durch das Pedalspiel nachempfundenes Bogenvibrato von Streichern spielen sollen, was dem Fremissement der Bläser entspricht. Diesen aus dem Barock kommenden starken Effekt gibt es immer noch bei Mozart und Beethoven, weshalb ich sehr annehme, das Schubert mit dieser konventionellen Notationsweise auch genau das gemeint hat, was diese meinten.
    Das Bogenvibrato ist ja eine rhythmisch wellenartige Druckbetonung in einem Bogenstrich, wobei die Betonungen auf den jeweiligen Noten liegen.
    Man kann das mit dem Sustainpedal und einem kontrolliertem Anschlag auf dem Klavier durchaus nachempfinden.



    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zit. "Nachdem was ich gehört habe (...) täte eine solche Feststellung dem guten Manne sehr unrecht, weshalb ich die Ergebnisse meines Hörens Deinem Text gegenüberstelle."

    Daran hast Du gut getan, lieber Glockenton, - und das auch noch in einem bewundernswert detaillierten, differenzierten und fundierten Kommentar. Ich hatte ja mein Fazit eingeleitet mit den Worten "Ich mag mich irren". Und das nicht ohne Grund: Ich fühle mich im Urteil über Liedgesang außerordentlich unsicher und sollte deshalb besser die Finger davon lassen.


    Das werde ich auch tun und nur noch eine weitere Winterreise-Aufnahme hier vorstellen, - einfach weil ich mich durch diesen Thread dazu verpflichtet fühle. Die mündet nun allerdings in ein positives Urteil, und ich fände es gar nicht verwunderlich, wenn ich mich nun auch darin wieder irren würde. Danach hätte ich insgesamt zwölf Neu-Aufnahmen der "Winterreise" hier vorgestellt und damit - für mein Gefühl - die Aufgabe erfüllt, die ich mit dem Starten dieses Threads übernommen habe.


    Weshalb ich Dir ganz besonders für Deinen ausführlichen Kommentar zu meinem Beitrag dankbar bin: Ich will auf gar keinen Fall, dass durch mich dem "guten Mann" Unrecht widerfährt.

  • Ich habe beide Beiträge, Rede und Gegenrede, mit großem Interesse gelesen und werde mir frühstmöglich eine eigene Meinung bilden! :hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • "...und werde mir frühstmöglich eine eigene Meinung bilden!"


    Daran wäre ich sehr interessiert, lieber Stimmenliebhaber. Denn ich habe mir eben diese Aufnahme noch einmal angehört, - und kann ganz einfach nicht warm mit ihr werden. Will sagen: Ich konnte beim neuerlichen Hören nachvollziehen, warum ich zu diesem Urteil gekommen bin. Das bezieht sich allerdings nur das Lied "Im Dorfe".
    Aber wie gesagt: Mir fehlt jegliche Kompetenz in Sachen Liedgesang und des Urteilens darüber. Das ist mir nach dem Lesen des Beitrags von Glockenton auf eindrückliche Weise klar geworden. Und Du bist ja auch einer von jenen hier, die etwas von der Sache verstehen.

  • Lieber Helmut,


    was richtig und falsch ist, kann man bei dieser Kunst nicht so festschreiben wie Naturgesetze. Es kann auch sein, dass ich mit der Zeit meine Meinung zu diesem "Im Dorfe" ändere.
    Die Analyse kann einem als Musiker helfen zu verstehen, wie denn der Schubert das gesehen hat, wie er es im Kopf gehört hat, wie er uns mit seiner Musik den Text auslegt. Wenn aber ein Kunstwerk fertig ist, dann hat selbst der Komponist nicht mehr das alleinige Recht auf "die eine, die richtige Interpretation". Es kann sein, dass in dem Werk Dinge enthalten sind, die Andere durch die Beschäftigung mit dem Werk ans Licht bringen, und an die selbst Schubert nicht gedacht hat. Dann haben diese Anderen nicht Unrecht, wenn es denn in sich stimmig ist.
    Mir ist es schon vorgekommen, dass Interpreten ein Werk besser gespielt haben, als der Komponist selbst, was dieser sogar zugab....


    Ich habe jetzt im Dorfe von verschiedenen Interpreten im Netz gehört, auch auf CD meine Lieblingsaufnahme Fischer-Dieskau/Brendel,



    ebenso Fischer-Dieskau mit Perahia bei Youtube. Davon kann man lernen, dass man es so und so überzeugend machen kann, und was im Detail ggf. noch überzeugender sein mag.
    Wie gesagt, es sollte jedenfalls in sich stimmig sein.
    Deswegen kann man aufgrund einer wie oben angestellten kleinen Analyse eher selten sagen "weil ich das so herausgefunden habe, muss man es so und nicht anders machen". Man kann aber herausfinden, ob man es ggf. so machen kann.
    Solche Stellen gibt es zwar auch, aber sie sind die Ausnahme. Es gibt meistens genügend Freiräume, bei denen sehr viel möglich ist, was ja auch das Schöne an der Kunst ist.


    Finley klang für mich in den Ausschnitten schön dahergesungen, allerdings ohne das einem der Inhalt wirklich nahegebracht wird.
    Ziemlich gut finde ich auch Goerne/Eschenbach, was mich überraschte, denn ich wusste gar nicht, dass Goerne nach Brendel es noch einmal aufgenommen hat. Doch ja, mir gefällt das ziemlich gut. Ich werde dort, während ich diesen Beitrag schreibe, noch weiter hineinhören.


    Man muss auch aufpassen, dass man von einem Lied wie "Im Dorfe" auf die ganze Winterreise schließt.


    Immerhin hat Dein Thread mir jetzt auch zu denken gegeben, ob ich mir nicht doch eine Winterreise zulegen sollte, die bei der nicht Fischer-Dieskau vorne draufsteht.....als Alternative, sozusagen zur Abwechslung.
    Boesch hat gute Momente, aber es gibt auch Zweifelhaftes. Warum z.B. muss man so eine Unterbrechung der Linie machen, wenn es heißt..." da dacht ich mir im meinem Wahne, sie pfiff den armen...."
    Pianist und Sänger halten hier vor "sie pfiff" an, und es klingt so, als wenn dann ein Doppelpunkt mit Anführungsstrichen unten käme.
    Das wirkt auf mich aufgesetzt, unatürlich, jedenfalls im Moment.


    Der Pianist hat das Klavier für meinen Geschmack zu metallisch vom Klaviertechniker intonieren lassen. Man kann damit leben, aber klanglich finde ich es bei anderen wohlklingender.


    Das Vorspiel von "Rückblick" ist von Martimeau so unrhythmisch, verhastet und wegen des agogischen Chaos nahezu verquast (der arme Sänger...) das ich es schon als misslungen höre.
    Brendel macht das in seinen Aufnahmen mit Fischer-Dieskau dahingehend ideal, finde ich.
    Bei "bis ich nicht mehr die Türme seh" fehlt es mir etwas an dramatischer Emphase bei Boesch. Es ist nicht schlecht, aber dieser Charakter des wütend aufbegehrenden Selbstgesprächs kommt bei Fischer-Dieskau mit seinen rollenden Türrrmen doch immer noch am besten zur Geltung, so wie ich es empfinde. Boesch überzeugt mich am meisten in der sonoren Tiefe.


    Es gibt also meistens Licht und Schatten.


    Möglicherweise fiele meine Wahl für die erste Nicht-Fischer-Dieskau-Winterreise auf Goerne/Eschenbach.
    Ich mag den vollen, romantisch-weichen und orchestralen und sehr breiten Klavierklang und auch die für meine Begriffe romantische Grundhaltung des Pianisten.
    Allerdings geht er mir mit seinen agogischen Anhaltern hier und da zu weit. Weniger wäre da manchmal mehr gewesen, so Takt 4 mit Auftakt bei "Gefrorne Tränen". Er hat ja recht mit dem fp in der linken Hand, aber wie gesagt: etwas weniger wäre hier m.E. mehr.
    Die Vorteile der Aufnahme (von den Auschnitten her gehört!) überwiegen für mich jedoch sehr.
    Auch der Anfang des Lindenbaums ist sehr schön gespielt, sowohl musikalisch als auch vom Klang her.
    Goerne hat von den "neuen" Post-Fischer-Dieskau-Sängern für meinen Geschmack die angenehmste Stimme und singt nicht nur schön-ausdruckslos darüberhinweg, wie ich es in den Auschnitten bei Finley hörte. Man könnte noch viel mehr zu Goernes Gesang auf dieser Aufnahme sagen, aber das schaffe ich jetzt zeitlich nicht. Zudem kenne ich nur die Auschnitte und nicht die ganze Aufnahme. Da kann sich ein Eindruck vom Gesamten her doch noch ändern.


    Auch "Im Dorfe" finde ich dort übrigens sehr ordentlich. Ja, momentan glaube ich, dass das meine Wahl wäre, wenn es denn Post-FiDi sein soll.



    Sie ist in meinen Ohren noch besser geglückt als die Live-Aufnahme mit Brendel, den ich ja eigentlich bei Schubert so sehr mag.
    Aber ich bevorzuge für die CD ohnehin meistens die durch Schnitte perfektionierte Studio-Aufnahme, die in diesem Fall auch aufnahmetechnisch der trockenen Goerne/Brendel-Aufnahme überlegen sein wird.


    Wenn ich sie irgendwo preiswert finde, dann werde ich wohl bestellen....



    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Du sagst, lieber Glockenton, das Lied „Im Dorfe“ betreffend:
    „Meine Lieblingsaufnahme (ist) Fischer-Dieskau/Brendel.“
    Und darin bin ich ganz und gar eins mit Dir. Sie lag meinem Beitrag Nummer 21, der Vorstellung des Liedes „Im Dorfe“ in der Interpretation durch Fischer-Dieskau, zugrunde, und sie ist seit eh und je meine Referenz-Aufnahme der „Winterreise“. Nur ist mir angesichts dieses Sachverhalts nicht recht begreiflich, wie Du zu einer solch positiven Beurteilung der Interpretation dieses Liedes durch Florian Boesch gelangen kannst. Aber ich will diese Sache hier nicht weiterverfolgen und breittreten. Nur dieses noch:


    Wenn ich bei meinem eigenen Urteil über diese den Begriff „übertrieben“, bzw. „Übertreibung“ benutzte, so geschah das auf dem Hintergrund dessen, was ich Dieter Stockert in Beitrag 315, auf seine Beurteilung von Fischer-Dieskaus Liedinterpretation Bezug nehmend, zu bedenken gab. Ich meinte dort:


    „Bei Fischer-Dieskaus Liedgesang von "Übertreibung" zu sprechen wäre dann angebracht, wenn er bei der Deklamation der melodischen Linie mit aufgesetzten Effekten arbeitete. Das aber tut er gerade nicht, sondern er lässt die semantische Dimension des lyrischen Textes in die gesangliche Gestaltung der melodischen Linie einfließen, darin dem folgend, was Schubert im Notentext vorgegeben hat.“


    Genau diese gesanglich-liedinterpretatorische Tugend vermisse ich bei Boesch: Die Anbindung der deklamatorischen Akzente an die Semantik des lyrischen Textes und die diese reflektierende Struktur der melodischen Linie, wie man sie bei Fischer-Dieskau in höchst beeindruckender Weise vernimmt. „Anbindung“ in diesem Sinne hat ja sozusagen zwangsläufig eine strikte Kontrolle des Einsatzes solcher deklamatorischen Akzente zur Folge. Sie können dann nicht zu der melodischen Linie in ihrer gesanglichen Realisierung aufgesetzten Effekten werden


    Das aber war mein Eindruck beim Hören der Interpretation des Liedes „Im Dorfe“ durch Florian Boesch. Und ich habe auch versucht zu begründen, warum ich sie diesbezüglich als so „danebengehend“ empfand. Nun sehe ich: Ich habe mich geirrt. Und ich akzeptiere das natürlich als das „Augen-und Ohren-Öffnen“ durch einen Experten. Was aber liegt näher, als dass man daraus die Schlussfolgerung zieht, sich künftig fernzuhalten von dem, wovon man ganz offensichtlich nichts versteht? (Es war ohnehin im Grunde ein Unding, dass ausgerechnet ich diesen Thread hier gestartet habe!)


    In diesem Falle bleibt einer zurück, der sich im Falle von „Im Dorfe“ bei der rezeptiven Begegnung mit dem Liedgesang Florian Boeschs von diesem in seinem von Fischer-Dieskau geschulten und geprägten Ohr regelrecht befremdet, ja konsterniert fühlte.

  • Immerhin hat Dein Thread mir jetzt auch zu denken gegeben, ob ich mir nicht doch eine Winterreise zulegen sollte, die bei der nicht Fischer-Dieskau vorne draufsteht.....als Alternative, sozusagen zur Abwechslung.

    Den Effekt hätte die für mich sehr bewegende Aufnahme Britten/Pears glaube ich bestimmt, lieber Glockenton. :) Ich überlege, mir Pregardien mit der Zender-Version zuzulegen. Das hat mich bei Youtube sehr beeindruckt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Im Nachtrag, - Zit. Glockenton:
    "Immerhin hat Dein Thread mir jetzt auch zu denken gegeben, ob ich mir nicht doch eine Winterreise zulegen sollte, die bei der nicht Fischer-Dieskau vorne draufsteht.....als Alternative, sozusagen zur Abwechslung."

    Nicht als "Abwechslung" - dieses Wort möchte ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden -, eher als "Bereicherung" möchte ich die Aufnahme von Jochen Kupfer und Susanne Giesa vorschlagen.
    Ich werde sie morgen - als meine letzte hier - vorstellen.

  • Ich bevorzuge die DVD mit FiDi, live aus dem SFB.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Der Leiermann


    Drüben hinterm Dorfe
    Steht ein Leiermann
    Und mit starren Fingern
    Dreht er was er kann.


    Barfuß auf dem Eise
    Schwankt er hin und her;
    Und sein kleiner Teller
    Bleibt ihm immer leer.


    Keiner mag ihn hören,
    Keiner sieht in an;
    Und die Hunde brummen
    Um den alten Mann.


    Und er lässt es gehen
    Alles, wie es will,
    Dreht, und seine Leier
    Steht ihm nimmer still.


    Wunderlicher Alter,
    Soll ich mit dir gehn?
    Willst zu meinen Liedern
    Deine Leier drehn?


    (Wilhelm Müller)



    Angeregt durch Eure Diskussionen las ich nur die Gedichte der Winterreise und mir wurde wieder bewusst, welch große Kunst allein die Dichtung von Wilhelm Müller ist. Zum vollendeten Kunstwerk wird der Liedzyklus allerdings erst durch die Symbiose von Dichtung, Musik, Wort, Gestaltung und Vortrag. Unter diesen Prämissen hörte ich einige der von Euch analysierten und besprochenen Interpretationen. Trotz der interessanten und diskussionswürdigen neuen Deutungsversuche bleibt für mich die Winterreise, wie sie von Dietrich Fischer-Dieskau geboten wird ,maßstabsetzend. Neben stimmlichem Wohlklang, hoher Musikalität, perfekter Diktion und Artikulation gelingt es ihm, die Zerrissenheit, die Orientierungslosigkeit und das Suchen des Wanderers - suchend bis zum Schluss der letzten Strophe des Leiermanns- nach wie vor am tiefsinnigsten und glaubwürdigsten zu interpretieren und den Liedzyklus zum geschlossenen und ergreifenden Gesamtkunstwerk zu formen.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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