Die Einschätzung der Interpretation der „Winterreise“ durch Dietrich Henschel und Erwin Gage, wie ich sie in meinem vorangehenden Beitrag ( 299 ) vorlegte, mündete zwar in die Feststellung, dass hier die künstlerische Aussage der Winterreise verfehlt würde, ich setzte das aber ganz bewusst in den Konjunktiv des einleitenden „Wäre das so…“. Denn ich bin mir diesbezüglich nicht ganz sicher und wünschte mir – wieder einmal – eine Stellungnahme von einem Tamino-Liedfreund, der mir nicht nur auf der Grundlage meiner Ausführungen zustimmt, sondern diese Aufnahme wirklich kennt.
Immerhin kann ich mich damit beruhigen, dass ich das dahinterstehende interpretatorische Konzept und das ihm zugrundeliegende Verständnis des Protagonisten schon erfasst zu haben glaubte (und auch zu Papier brachte), noch bevor ich einen Blick in das Booklet warf. Durch diesen sah ich mich dann bestätigt. Es wurde zwar von einem Bernd Feuchtner verfasst, trägt aber den Untertitel „Dietrich Henschel im Gespräch“, so dass man davon ausgehen kann, dass der Verfasser die Auffassung von diesem wiedergibt. Er zitiert ihn ja auch permanent.
Eines dieser Zitate Henschels lautet:
„Der Wanderer läßt sich treiben, es treibt ihn, seine Emotionen erstarren und erwachen wieder, er erlangt mit jeder Liedstation einen weiterentwickelten Kenntnisstand seiner eigenen Psyche, wobei diese Entwicklung durchaus nicht gradlinig ist und nach Momenten der Erkenntnis auch wieder Situationen der ungesteuerten, panikartigen Getriebenheit eintreten.“
Dieser Thread fragt in seinem Sich-Einlassen auf neue „Winterreise“-Aufnahmen danach, ob der Wandel der Zeit auch einen gewandelten interpretatorischen Blick auf dieses Werk Schuberts mit sich gebracht haben könnte. In einer ganzen Reihe von Aufnahmen konnten hierfür, wie ich denke, schon Belege gefunden und anhand einzelner Lied-Besprechungen auch konkretisiert werden. Um dies methodisch auf einigermaßen sichere Füße zu stellen, erfolgten sie am Beispiel des Liedes „Im Dorfe“ (so auch bei Henschel/Gage).
Diese Aufnahme scheint mir nun ein besonders prägnantes Beispiel für diese neue Sicht, dieses neuen Verständnisses der „Winterreise“ zu sein. Ich denke, dass dieses Bild vom „Wanderer“ der von Station zu Station einen ständig sich weiter entwickelnden Kenntnisstand seiner Psyche gewinnt, ein Reflex des heute als Leitbild propagierten souveränen Individuums ist, das, mit dem Ziel der Selbstverwirklichung, unter Einsatz des Instrumentariums der Rationalität permanent an sich selbst arbeitet.
Nur: Schuberts Protagonist begegnet demjenigen, der sich intensiv und offen auf dieses Werk einlässt, eben gerade nicht als ein solches, einen fortschreitenden Erkenntnisprogress über sich selbst vorführendes Individuum. Ein wesentliches Merkmal seiner Wanderung ist das ziellose äußerliche und innerliche Herum-Irren. Dem Lied „Der Wegweiser“ kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zu.