Regietheater und künstlerische Freiheit

  • Hallo Dieter,


    statt mich an dieser - wie üblich - fruchtlosen Diskussion über das Für und Wider des Regietheaters zu beteiligen (deren stets gleichen Wider-Argumentationslinien Du im übrigen tatsächlich recht schnell durchschaut zu haben scheinst ... ;) ), möchte ich auf den von Dir in den Raum geworfenen Ausgangspunkt zurückkommen, nämlich


    Eigentlich finde ich es interessanter, dass ich einerseits nur sogenannte »HIP«-Einspielungen von Werken älterer Komponisten kaufe, dass ich aber andererseits von den wenigen Opern, die ich gesehen habe, nur diejenigen erträglich – oder besser: spannend, packend, schlüssig statt einfach nur lächerlich – fand, die eben modern inszeniert waren. Wie kann ich diesen Widerspruch auflösen?


    und fragen, warum Du hier überhaupt einen Widerspruch vermutest? - Eine Erklärung (vermutlich neben vielen anderen) wäre z.B. folgende: Eine Idee der historisch informierten Aufführungspraxis besteht wohl darin, die Musik durch das Zurückspiegeln auf die Zeit ihrer Enstehung zugleich auf ihren ursprünglichen Kern zurückzuwerfen; es geht ja nicht nur um historisches Instrumentarium, sondern auch um Vorstellungen von Tempo, Dynamik etc. zum Zeitpunkt der Entstehung und damit schlußendlich wieder um Interpretation. Das ein solcher HIP-Ansatz nicht immer zum Erfolg gereicht bzw. auf Gegenliebe stößt, liegt wohl in der Natur der Sache und sei deshalb nur am Rande erwähnt :untertauch: Bzgl. des Regietheaters oder besser der damit verfolgten Intention könnte man nun behaupten, daß auch dort oftmals - mal in gelungener, mal in missratener Art und Weise - versucht wird, ein Werk auf seinen wesentlichen oder ursprünglichen Gehalt zu "reduzieren" und diesen explizit zu machen. Was dabei tatsächlich der wesentliche Gehalt ist und es gibt vermutlich derer viele, liegt wiederum im Auge des Betrachters bzw. Regisseurs.


    Insgesamt könnte man also von beiden Interpretationsansätzen - HIP und Regietheater - sagen, sie versuchten hinter das äußere eines Werkes und vor allem auch hinter eine tradierte Aufführung- bzw. Interpretationspraxis zu schauen, um so bisher Ungehörtes bzw. Ungesehenes hör- bzw. sichtbar zu machen.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • um so bisher Ungehörtes bzw. Ungesehenes hör- bzw. sichtbar zu machen.


    Gehört dazu die Information, dass die Chinesen mit enormen Umweltverschmutzungsproblemen konfrontiert sind?
    Wenn doch nur einmal ein RT-Freund auf eine konkrete Frage antworten würde.
    Bertarido und Dieter Stockert sind dazu offenbar nicht in der Lage.

  • Insgesamt könnte man also von beiden Interpretationsansätzen - HIP und Regietheater - sagen, sie versuchten hinter das äußere eines Werkes und vor allem auch hinter eine tradierte Aufführung- bzw. Interpretationspraxis zu schauen, um so bisher Ungehörtes bzw. Ungesehenes hör- bzw. sichtbar zu machen.

    Sorry, aber die von dir hier aufzuzeigen versuchte(!) angebliche Parallelität von Regietheater und HIP finde ich geradezu absurd, denn während die HIP versucht, sich den Intentionen des Komponisten so weit wie möglich anzunähern, streben die Regietheateregisseure nicht selten danach, sich so weit wie möglich von Autor und Komponist zu entfernen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Regietheater ist jedenfalls keine "Kunst" - nicht mal in Ansätzen - es ist - milde gesprochen - schlechter Geschmack.


    D'accord (mal abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen). Aber ich pflichte bei, was den schlechten Geschmack angeht. Der dominiert die heutige Welt ja leider allenthalben. Die meisten Leute, besonders aber Männer, legen heutzutage keinerlei Wert mehr auf ihre äußere Erscheinung. Selbst im Casual Dress ist man mittlerweile in gewissen Situationen overdressed. Geschmack hat man eben — oder nicht. Dazwischen gibt es nichts. Heutige Neureiche haben zwar das nötige Kleingeld, aber keinen Geschmack in den allermeisten Fällen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • denn wärhend die HIP versucht, sich den Intentionen des Komponisten so weit wie möglich anzunähern, streben die Regietheateregisseure nicht selten danach, sich so weit wie möglich von Autor und Komponist zu entfernen.


    Dürfte den Kern ziemlich genau treffen. Besonders ermüdend sind die Versuche der RT-Regisseure, wehrlose Opern auf Biegen und Brechen aktuellen Ereignissen anzupassen.
    So muss für die Grausamkeiten der Isis die Entführung aus dem Serail büßen, obwohl diese Oper doch ein Hohelied auf menschliche Großzügigkeit ist.

  • Zitat

    Zitat von Dieter Stockert: große Kunst zeichnet sich häufig dadurch aus, dass mehr darin steckt als ihrem Schöpfer bewusst ist.

    Und deswegen erklärt sie sich auch von selbst und benötigt keinen Scharlatan, der ein Kunstwerk einfach überschmiert und uns dann weismachen will, dass der Künstler eigentlich mit seinem Werk das meint, was dem Schmierer ein Hirngespinst eingegeben hat.
    Das beste Beispiel, dass so etwas nicht nötig ist, hat Bertarido jetzt mit seinem Auszug aus der Entführung gebracht: "Erst geköpft, dann gehangen....". Hier braucht es wahrhaftig keiner weiteren Interpretation mehr, um das zu verstehen.
    Für mich nimmt ein Bieito eben die Oper nicht ernst, sondern nur zum Anlass, seine schmutzigen Phantasien auszutoben.
    Da es hier im Thema um künstlerische Freiheit geht, betone ich noch einmal, dass diese für mich nur gelten kann, wenn der Künstler ein vollständig eigenes Werk schafft, aber nicht wenn er ein fremdes Werk verschandelt.
    Ein Bieito und manche andere Möchtegernkünstler sind für mich eben keineswegs Künstler. Die Aufgabe eines Regisseurs kann nur sein, dem Werk zu dienen. Und da sie das nicht tun, sind sie in meinen Augen völlig ungeeignet.
    Wenn sie Künstler genannt werden sollen, dann möchte ich - bitteschön - auch ein in allen Teilen von ihnen geschaffenes eigenes Werk sehen. Dann kann ich entscheiden, ob ich es mir ansehe oder nicht. Aber wenn mir die "Entführung" von Mozart angekündigt wird, dann möchte ich auch das Werk sehen, wie es Mozart geschaffen hat.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Sorry, aber die von dir hier aufzuzeigen versuchte(!) angebliche Parallelität von Regietheater und HIP finde ich geradezu absurd, denn während die HIP versucht, sich den Intentionen des Komponisten so weit wie möglich anzunähern, streben die Regietheateregisseure nicht selten danach, sich so weit wie möglich von Autor und Komponist zu entfernen.


    Das es sich hier um einen Erklärungsversuch handelt, ist unbestritten; mithin das "(!)" überflüssig - oder habe ich behauptet, mein Ansatz sei der einzig Wahre? - Was ich für absurd halte, ist die Unterstellung, daß Regietheaterregiesseure danach streben, "sich so weit wie möglich von Autor und Komponist zu entfernen.". Wenn du einen Interpretationsansatz - sei es die interpretatorische Inszenierung einer Oper oder meine These zu einem Möglichen Zusammenhang zwische HIP und Regietheater - entweder nicht verstehst oder nicht teilst, ist dies natürlich dein gutes Recht. Jedoch dürfte der Schluß, der Ansatz sei somit falsch, argumentativ nicht tragfähig sein.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Wenn doch nur einmal ein RT-Freund auf eine konkrete Frage antworten würde.


    Na ja, Dieters konkrete Frage lautete, wie er den Widerspruch zwischen seiner Vorliebe für HIP einerseits und seine nicht-Abneigung gegen das Regietheater aufzulösen vermag. Darauf meine ich, habe ich eine konkrete Antwort zu geben versucht. Zu allem anderen habe ich mich an dieser Stelle absichtlich nicht geäußert, wo ist also das Problem?

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • wo ist also das Problem?


    Das Problem ist, dass ich schon einigemale angefragt habe, worin die Kunst besteht, auf etwas hinzuweisen, was den meisten bekannt sein dürfte.
    Was also haben die chinesischen Umweltprobleme mit Turandot zu tun?
    Wieso muss man im Lohengrin fortwährend Würfel aufbauen mit der Aufschrift: Nie sollst Du mich befragen?
    Wie erklärt man, dass aus einem besorgten und liebevollen Wassermann ein Vergewaltiger wird, wenn sich dafür weder im Text noch in den Noten die geringste Andeutung findet?


    Mich interessiert eben, warum das, was ich als Banalität betrachte, von gewisser Seite so uneingeschränkt bewundert wird. Ich würde ja gerne meine Meinung ändern,
    wenn mir jemand einen plausiblen Anlass liefert.
    Diese Aufforderung erging, wie Du weißt, allerdings nicht an Dich.

  • @Michael Schenk und Dieter Stockert!


    Ihr seid Befürworter des RT. Daher frage ich euch jetzt direkt: Lest bitte meinen Beitrag 105 und beantwortet ganz deutlich die beiden Fragen (darf man auch bzw. muss man nicht auch die Musik zerstören):


    1. Darf man statt des Schlusses der Götterdämmerung auch den Schluss von Zimmermanns Soldaten spielen?


    2. Emila Marty in der Sache Makropulos von Janacek ist Sängerin. Darf ich den 2. Akt der Oper so verändern, dass die Marty ständig die Salomé probt?


    Dass hier die Ablehner des RT diese Frage nicht beantworten, versteht sich von selbst. Auf eure Antwort aber bin ich gespannt. Solltet ihr nichts dazu sagen, ist es völlig in Ordnung, ich kann euch ja nicht zwingen. Aber ich muss dann alle eure Beiträge als irrelevant betrachten und werde sie nicht mehr lesen.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

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  • Lieber dr.pingel,


    tatsächlich habe ich derartige Fragen bereits mehrfach beantwortet und die Antwort ist m.E. sogar relativ einfach: Ja, man darf! - Und auch die darauf folgende Frage nach dem Warum? ist ebenso einfach zu beantworten: Freiheit der Kunst!


    Worum es Dir aber eigentlich geht, so vermute ich jedenfalls, ob ein solcher Eingriff sinnvoll ist? Und diese Frage kann ich Dir in ihrer Allgemeinheit schlicht nicht beantworten, bis ich es in einer konkreten Ausprägung selber gesehen habe. Und auch dann vermag ich keine allgemein gültige Antwort, sondern nur eine solche auf den konkreten Fall bezogene zu geben.


    Im übrigen sei mir erlaubt anzumerken, dass ich dir diese Antwort nicht gebe, weil mir die m.E. vollkommen sinnlose und überflüssige Drohung, du würdest sonst meine Beiträge nicht mehr lesen, Angst eingejagt hätte ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Ich bin zwar keiner von beiden, aber ich wage mal eine Antwort: Na klar doch! Wagner und Janacek waren sich zum Zeitpunkt der Komposition dessen bloß noch nicht bewusst, das sie das eigentlich wollten!

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)


  • Das es sich hier um einen Erklärungsversuch handelt, ist unbestritten; mithin das "(!)" überflüssig - oder habe ich behauptet, mein Ansatz sei der einzig Wahre? - Was ich für absurd halte, ist die Unterstellung, daß Regietheaterregiesseure danach streben, "sich so weit wie möglich von Autor und Komponist zu entfernen.". Wenn du einen Interpretationsansatz - sei es die interpretatorische Inszenierung einer Oper oder meine These zu einem Möglichen Zusammenhang zwische HIP und Regietheater - entweder nicht verstehst oder nicht teilst, ist dies natürlich dein gutes Recht. Jedoch dürfte der Schluß, der Ansatz sei somit falsch, argumentativ nicht tragfähig sein.

    Sorry, aber bei so großen Scheuklappen fällt mir nicht mehr viel ein! Wenn man die vorgegebene Szene visuell verfremdet, alles mögliche auf die Bühne bringt, aber um Gotten Willen bloß nicht das, was in den Regieanweisungen steht, wenn man den Text ändert und in die Musik eingreift, entfernt man sich nicht von dem, was Autor und Komponist vorgeben? Aha... :no:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • 1. Darf man statt des Schlusses der Götterdämmerung auch den Schluss von Zimmermanns Soldaten spielen?


    2. Emila Marty in der Sache Makropulos von Janacek ist Sängerin. Darf ich den 2. Akt der Oper so verändern, dass die Marty ständig die Salomé probt?


    Was mir hierzu noch einfällt, ist die Gegenfrage, ob man z.B. Ligettis Atmosphères und Wagners Lohengrin-Vorspiel (Rattle/Luzern) oder Schostakowitschs Kammersymphonie op.110a[i] und Brahms [i]Deutsches Requiem (Hengelbrock, Hamburg) in einem Konzert attacca spielen darf? Oder gar Teile aus Schuberts Rosamunde D797 mit Weberns Sechs Orchesterstücken op.6 (Gielen u.a. auf CD) vermischen darf? - Nein, weil eine derartige Vermischung den jeweiligen Einzelstücken nicht gerecht wird! oder Ja, da der neu erfundene Zusammenhang für jedes Einzelstück neue Perspektiven eröffnet! - Man suche sich die persönlich jeweils passende Antwort aus ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Sorry, aber bei so großen Scheuklappen fällt mir nicht mehr viel ein!


    Dann bleibt uns wohl nicht viel mehr übrig, als einvernehmlich den Dissens festzustellen ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • ... und gerade das ist doch ein wesentlicher Aspekt von Kunst, dass dadurch »wirkliche« Realität gespiegelt, überhöht, neu gesehen wird. Ich verstehe nicht, warum man das gerade beim sogenannten Regietheater kritisiert, nur weil das dort vielleicht weiter geht und man es als geschmacklos empfindet. Geht es bei Kunst um Geschmack? Darf man Kunst so herabwürdigen wie es hier oft geschieht, weil es nicht dem persönlichen Geschmacksempfinden entspricht? Freilich, wenn man leugnet, dass es sich bei Regietheater um – mehr oder weniger gelungene – Kunst handelt, braucht man nicht mehr zu diskutieren.


    Offenbar scheint dir entgangen zu sein, dass Puccinis Intentionen von den zeitgeistigen Regisseuren mit bewundernswerter Verachtung ignoriert, ja richtiggehend verfälscht werden. Das, lieber Dieter, ist der Stein des Anstoßes! Deshalb ist die Frage, ob es sich sich hier, wie du schreibst, um mehr oder weniger gelungene Kunst handelt, obsolet.


    Wenn ein Regisseur nicht fähig ist, seine Intentionen mit dem Werk in Einklang zu bringen, hat er seinen Beruf verfehlt.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Was mir hierzu noch einfällt, ist die Gegenfrage, ob man z.B. Ligettis Atmosphères und Wagners Lohengrin-Vorspiel (Rattle/Luzern) oder Schostakowitschs Kammersymphonie op.110a und Brahms Deutsches Requiem (Hengelbrock, Hamburg) in einem Konzert attacca spielen darf? Oder gar Teile aus Schuberts Rosamunde D797 mit Weberns Sechs Orchesterstücken op.6 (Gielen u.a. auf CD) vermischen darf? - Nein, weil eine derartige Vermischung den jeweiligen Einzelstücken nicht gerecht wird! oder Ja, da der neu erfundene Zusammenhang für jedes Einzelstück neue Perspektiven eröffnet! - Man suche sich die persönlich jeweils passende Antwort aus ...



    Die Antwort braucht man sich nicht auszusuchen, weil sich die Frage gar nicht stellt. Ein aus Einzelstücken zusammengewürfelten Konzert ist kein homogenes Gefüge wie eine Oper. Dementsprechend sind auch die Erwartungen nicht dieselben.


    Wenn es für Dich erlaubt ist, Lohengrin im ersten, Carmen im zweiten und Aida im dritten Akt zu bringen, dann bin jedenfalls ich mir nicht im Klaren darüber, welchen Titel ich dieser Oper geben soll.
    Nach den zur Zeit geltenden Regeln würde man sie vermutlich immer noch Lohengrin nennen. Damit hätte man aber nicht nur ein neues Werk, sondern auch eine neue Logik geschaffen.
    Eine andere Frage wäre, ob man die Freiheit in der Kunst nicht missbrauchen kann. Ich denke, zwischen den starren Regeln a la Beckmesser und totaler Anarchie haben die Götter die Vernunft gesetzt. So funktioniert es jedenfalls auf anderen Gebieten.
    Es ist ja auch nicht verboten, in einem Lokal laut zu rülpsen, ob man es aber tut, ist Frage des persönlichen Stils.


  • Die Antwort braucht man sich nicht auszusuchen, weil sich die Frage gar nicht stellt. Ein aus Einzelstücken zusammengewürfelten Konzert ist kein homogenes Gefüge wie eine Oper. Dementsprechend sind auch die Erwartungen nicht dieselben.


    Macht man es sich mit der a priori-Behauptung, die Frage stelle sicht gar nicht, nicht etwas zu einfach? - Sicher ist eine Oper etwas anderes, als ein Konzert und doch versucht der Dirigent bei der Programmierung eines Konzertes eines gewissen Zusammenhang zwischen den einzelnen Stücken herzustellen (welcher dann im Programmheft erläutert werden sollte). Ob der Zuhörer diesen Zusammenhang ebenfalls als nachvollziehbar empfindet, muss ihm selbst überlassen bleiben. Und was die Homogenität einer Oper als solches angeht, schert sich bei einem Recital auch niemand darum ...


    Wenn es für Dich erlaubt ist, Lohengrin im ersten, Carmen im zweiten und Aida im dritten Akt zu bringen, [...] Damit hätte man aber nicht nur ein neues Werk, sondern auch eine neue Logik geschaffen.


    Vollkommen richtig! Und wieder hat letztlich der Zuschauer zu entscheiden, ob er dieser Logik folgen mag oder nicht. - Wohlgemerkt: Ich habe nicht behauptet, daß eine solche Kombination, wie du sie anführst, notwendig sinnvoll ist (siehe meinen Beitrag 131); ich behaupte lediglich, sie ist durch den Rahmen der Kunstfreiheit gedeckt. Aber wie wäre es mit einem vielleicht weniger abseitigen Beispiel:
    Man nehme den ersten Aufzug der Walküre (der ja auch häufiger zumindest konzertant alleine aufgeführt wird) und kombiniere ihn mit dem Zemlinsky-Einakter Eine florentinische Tragödie. In beiden Handlungen spielt Eifersuchts ein Rolle (bei der Walküre nicht das Hauptmotiv, sicher jedoch ein Aspekt der Handlung), das jeweilige Personal ist durchaus aufeinander abbildbar und musikalisch lassen sich eventuell Bezüge herstellen. Der Unterschied liegt in der Konsequenz der dramatischen Entwicklung, d.h. bei Wagner ist der jugendliche Liebhaber der Held oder der Held der jugendliche Liebhaber, ganz, wie es einem gefällt. Bei Zemlinsky triumphiert am Ende der gehörnte Ehemann (gemeinsam mit seiner Gattin). Die Idee einer Verbindung beider Werke in Form einer stetigen Transformation des einen in das andere, quasi live auf der Bühne und vor den Augen des Zuschauers finde ich absolut faszinierend. - Wie bzw. unter welchem Namen eine solche Aufführung zu plakatieren wäre interessiert mich dabei nicht einmal am Rande.


    Eine andere Frage wäre, ob man die Freiheit in der Kunst nicht missbrauchen kann. Ich denke, zwischen den starren Regeln a la Beckmesser und totaler Anarchie haben die Götter die Vernunft gesetzt. So funktioniert es jedenfalls auf anderen Gebieten.


    Auch hier sind wir nicht weit voneinander entfernt: Natürlich ist der Missbrauch der Kunstfreiheit ein Problem! Allerdings vermag ich in den mir bisher bekannten Operninszenierungen keinen solchen Missbrauch zu entdecken. Ebenso allerdings vermag auch ich nicht immer, der Idee einer Operninszenierung zu folgen. Was jedoch den Aspekt der Vernunft angeht, behaupte ich, dass es sich an dieser Stelle zumeist um den falschen Maßstab handelt, denn ist die eigentliche Antriebskraft der Kunst nicht oftmals die Unvernunft?


    Es ist ja auch nicht verboten, in einem Lokal laut zu rülpsen, ob man es aber tut, ist Frage des persönlichen Stils.


    Nicht nur, sondern wohl auch eine Frage der Kultur: Im "alten Rom" herrschten angeblich weit rauere Tischmanieren und auch heute noch im asiatischen Raum gehört Rülpsen, Schmatzen und Schlürfen m.W. zum guten Ton.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Ich habe ja schon oft, mit geringer Resonanz, von Seiten der RT-Befürworter mit gar keiner Resonanz, gefordert, dass neben Text, Bühne und Kostümen auch die Musik zerstört werden darf. Beispiel: darf ich den Schluss der Götterdämmerung durch den Schluss der Soldaten ersetzen? Darf der 2. Akt von der Sache Makropulos darin bestehen, dass Emilia Marty die Salomé probt?

    Wenn man Brahms gegen den Willen des Komponisten mit Stahl- statt mit Darmsaiten spielen darf, dann ja. Wenn Brendel bei Schuberts Klaviersonaten Wiederholungen weglassen darf, weil er meint, das Stück werde dadurch besser, dann ja. Wenn ...


    Nein, meine Argumentation (wenn es sich denn überhaupt um Argumente handelt) ist nicht fair, weil mir scheint, dass beim Musiktheater die Freiheitsgrade größer sind, größer sein müssen.

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  • das verstehst du eben genau so wenig wie ich. Ich finde das völlig absurd. Das ist es aber wohl, was man unter "intellektueller Herausforderung" versteht.
    Ich finde, dass gerade eine gute unverfälschte Inszenierung des Originals zum eigenen Denken anregt. Sie dient allen: Derjenige, der selbst denken kann, wird herausgefordert, eigene Bezüge herzustellen und derjenige, dem es in erster Linie um die Musik geht (der Vergleich mit Sprechtheater hinkt in meinen Augen erheblich) kommt ebenfalls auf seine Kosten, indem er nicht durch völlig unsinnige Darstellungen abgelenkt wird.


    Ich gehe davon aus, dass wir alle längst nicht alles verstehen, was wir im Konzert hören. Wieso ist es dann schlimm, wenn wir auch nicht alles verstehen, was wir bei einer Inszenierung sehen? (Das deswegen als »absurd« abzuqualifizieren finde ich keinen guten Stil.)


    Über das, was eine »gute unverfälschte Inszenierung« ist, könnte man lange streiten, auch ohne das Regietheater mit ins Gespräch zu nehmen. Aber selbst wenn man da Konsens herstellen könnte, würde das ja nicht bedeuten, dass eine andere, vielleicht »verfälschte« Inszenierung nicht ebenfalls zum eigenen Denken anregen kann – vielleicht sogar noch mehr. Von daher verstehe ich nicht, was Du hier sagen willst.


    Mit einer Inszenierung, wie sie Dir vorschwebt (»Sie dient allen«) schlägst Du gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich würde zwar die Formulierung »völlig unsinnig« (warum immer so bösartig-abwertend?) ersetzen etwa durch »drastische Darstellungen«, aber das hat was, das kann man so stehen lassen. Freilich würde ich darauf bestehen, dass dies nicht immer der Königsweg sein muss.

  • Im übrigen sei mir erlaubt anzumerken, dass ich dir diese Antwort nicht gebe, weil mir die m.E. vollkommen sinnlose und überflüssige Drohung, du würdest sonst meine Beiträge nicht mehr lesen, Angst eingejagt hätte ...

    Lieber Michael, hiermit hast du völlig Recht und ich entschuldige mich für diesen Satz. Immerhin hat meine Provokation ja doch die Debatte sehr beflügelt. Und du kannst beruhigt sein: ich habe deine Beiträge und die anderen nicht nur gelesen, sondern ausgedruckt, um sie in Ruhe zu lesen, weil ich am Bildschirm nicht gerne lese.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Genau, die intellektuelle Herausforderung besteht darin, genau darüber nachzugrübeln. Während man das tut, läuft sie Musik unbeachtet nebenher. Aber was hat die Musik angesichts so substantieller Fragen schon zu bedeuten. Ich jedenfalls löse Sudokus oder Logicals, wenn ich Rätsel raten möchte.

    Warum so polemisch? Eine »intellektuelle Herausforderung« besteht, jedenfalls für mich, nicht darin, während der Aufführung »darüber nachzugrübeln«. Das tue ich auch nicht, wenn ich nur Musik höre. Und mit dem Schlussapplaus ist eine Inszenierung, wenn sie gut ist, ja noch lange nicht erledigt. Verstörende Bilder können bewirken, dass das Gehörte und Gesehene besonders in uns nachwirkt, dass es in uns arbeitet und wir uns auch noch Stunden oder Tage danach emotional und gedanklich damit auseinandersetzen. Das hat mit Sudokus überhaupt nichts zu tun.

    Übrigens: Oper ist ein Gesamtkunstwerk. Wenn der Komponist gewollt hätte, dass wir uns nur auf die Musik konzentrieren, hätte er vermutlich keine Oper, sondern ein Konzert geschrieben.

    (Ergänzung: Durch das Wort »nur« wird der letzte Absatz von mir natürlich auch zu einer Polemik, denn so hatte es Cortese sicher nicht gemeint.)

  • doch versucht der Dirigent bei der Programmierung eines Konzertes eines gewissen Zusammenhang zwischen den einzelnen Stücken herzustellen

    Auch im Konzert folgt der Dirigent bei der "Programmierung" (ein furchtbares Wort in diesem Zusammenhang, also lieber bei der Programgestaltung oder -zusammenstellung) bezüglich des einzelnen Werkes erst einmal ganz genau den Vorgaben des Komponisten und tauscht nicht willkürlich die Reihenfolge der Sätze einer Sinfonie oder eines Klavierkonzertes aus.
    Wenn es mehrere Werke an einem Konzertabend gibt (was ja nicht immer der Fall ist, man denke etwa an die großen Sinfonien Bruckners und Mahlers), dann stehen diese womöglich in einem gewissen Spannungsverhältnis zu einander, aber es sind dann verschiedene Werke - was im Musiktheater bei diversen Einakter-Kombinationen (die berühmteste ist immer noch "Cavalleria rusticana" und "Bajazzo", aber jede dieser beiden Oper ist gewiss auch schon zusammen mit zehn anderen Opern gegeben worden, in Dessau "Bajazzo" zum Beispiel mit Weills "Der Protagonist") auch nicht grundlegend anders ist. Der Konzertsaal ist also kein gutes Argument für willkürliche musikalische Umstellungen und Eingriffe im Musiktheater.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich sehe die Verfälschung einer Oper - und das habe ich schon mehrfach hier betont - als genauso verboten an wie das Überschmieren eines Bildes im Museum. Der Unterschied besteht darin, dass das Überschmieren eines Originalbildes bestraft wird, während das Überschmieren der Originaloper geduldet, ja sogar von Einigen noch "Kunst" bezeichnet wird.

    Der Unterschied besteht darin, dass ein Bild im Museum »statische« Kunst ist, während Musik, Theater, Oper in aller Regel zur »Neu-Schöpfung« gedacht und gemacht ist. Es wäre wohl absurd, das zu bestrafen.

  • Lieber Michael, hiermit hast du völlig Recht und ich entschuldige mich für diesen Satz. Immerhin hat meine Provokation ja doch die Debatte sehr beflügelt. Und du kannst beruhigt sein: ich habe deine Beiträge und die anderen nicht nur gelesen, sondern ausgedruckt, um sie in Ruhe zu lesen, weil ich am Bildschirm nicht gerne lese.

    Stimmt schon, manchmal kann eine wohldosierte Provokation auch etwas positives bewirken. Jedenfalls freut es mich, dass Du bereit bist, die hier geführte Debatte ernst zu nehmen. Deshalb möchte ich zur besseren Einordnung meinen grundsätzlichen Standpunkt bzgl. des Thread-Titels kurz klar machen:
    Für mich stellt die Kunstfreiheit ein hohes Gut dar, welches vielleicht ebensowenig zu relativieren ist, wie etwa das Folterverbot oder das Verbot der Todesstrafe. Jedes Aufweichen der entsprechenden Grenzen birgt schlicht zu große Gefahren.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Übrigens: Oper ist ein Gesamtkunstwerk. Wenn der Komponist gewollt hätte, dass wir uns nur auf die Musik konzentrieren, hätte er vermutlich keine Oper, sondern ein Konzert geschrieben.

    Richtig, die Oper ist ein Gesamtkunstwerk mit einer grundlegenden Ebene Text, welche die beiden anderen beeinflusst und bestimmt hat: die Musik, welche eine Erstinterpretation des Textes durch den Komponisten ist, und die Szene, welche das im Text Geschilderte visualisiert. Alles drei verschmilzt in diesem Gesamtkunstwerk zu einer Einheit.


    Wenn nun aber eine der drei Ebenen willkürlich und gravierend verändert wird, nämlich die Szene, gerät das "Gesamtkunstwerk" in eine Schieflage und zerfällt wieder in Einzelkunstwerke, die manchmal nur noch sehr wenig miteinander zu tun haben.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Für mich stellt die Kunstfreiheit ein hohes Gut dar, welches vielleicht ebensowenig zu relativieren ist, wie etwa das Folterverbot oder das Verbot der Todesstrafe. Jedes Aufweichen der entsprechenden Grenzen birgt schlicht zu große Gefahren.

    Ja, die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut und jeder Künstler hat heute das Recht, die Kunstwerke zu schaffen, die er möchte, also eine neue Oper zu dichten und zu komponieren. Wenn er aber als "nachschaffender Künstler" eine schon vorhandene Oper mit Steuergelden auf die Bühne bringt, um damit auch einen Bildungsauftrag des Theaters zu erfüllen und unser "kulturelles Erbe" erlebbar zu machen, dann ist die Freiheit der Kunst nicht mehr ganz so grenzenlos - was nicht heißt, dass diese entfällt, aber zu ihr sollte sich ein Verantwortungsgefühl hinzugesellen, Verantwortung für die eigene Rolle als Mittler zwischen Werk und Publikum. Es gibt dann (nach Joachim Herz) immer noch 1000 verschiedene Möglichkeiten, die Oper zu inszenieren, aber es gibt eben auch 10 000 Möglichkeiten, wie man sie nicht inszenieren kann oder zumindest sollte.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • [...] ich habe bisher von keinem der Befürworter je eine Erklärung gelesen, worin der Fortschritt von Verunstaltungen der Originalhandlungen liegt und wo in diesen Brutalitäten oder Albernheiten, die uns da gezeigt werden, die intellektuelle Herausforderung besteht. Und ich glaube, die werden wir nicht bekommen, denn sie wissen es wohl selbst nicht, während wir bisher gute und klare Argumente gefunden haben, warum das Werk in seiner Originalhandlung belassen werden sollte und dass die intellektuelle Herausforderung gerade darin liegt.
    Ich habe kürzlich ein Buch gelesen, in dem der Inhalt des Wagnerschen Rings in moderner Umgangssprache wiedergegeben wird. Ich muss sagen, dass mich der Wagnersche Text intellektuell wesentlich mehr herausfordert. Die verworrenen Gedankengänge mancher modischen Regisseure hingegen ergeben für mich häufig keinen Sinn, so sehr ich auch versuche, wenigstens einen gescheiten Ansatz zu finden.

    Es kann, so meine ich, nicht darum gehen, ob eine »Verunstaltung« (ich lese hier ständig derartige Verunglimpfungen, aber dieses »Nie=Wo« (um mit Arno Schmidt zu sprechen) befremdet mich in einem Forum, das sich der klassischen Musik verschrieben hat) einen »Fortschritt« bedeutet oder nicht. Darf man heute noch alte Musik hören, wenn es bei Kunst nur um Fortschritt gehen sollte? Freiheit der Kunst: Sollte sich der Künstler (und das ist der Komponist genauso wie der Dirigent oder der Regisseur) rechtfertigen müssen? Soll er alles erklären müssen? Das geht doch gar nicht, schon allein weil er oft selbst nicht weiß, warum er etwas so und nicht anders gemacht hat. Und das ist auch gut so! Das macht Kunst (auch) aus.


    Dass ein Wagnerischer Text im Original intellektuell mehr herausfordern kann als eine Wiedergabe des Inhalts des Rings in moderner Umgangssprache, muss übrigens nicht unbedingt im geistigen Gehalt liegen, sondern vielleicht auch zum Teil an der Notwendigkeit, die ungewohnte Sprache im Kopf zu übersetzen (die größte Anstrengung für mich beim Parsifal war eine andere).

  • Zitat

    Zitat von Stimmenliebhaber: Wenn nun aber eine der drei Ebenen willkürlich und gravierend verändert wird, nämlich die Szene, gerät das "Gesamtkunstwerk" in eine Schieflage und zerfällt wieder in Einzelkunstwerke, die manchmal nur noch sehr wenig miteinander zu tun haben.


    :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel:


    Lieber Stimmenliebhaber,


    genau das ist es doch, was aus allen unseren Argumenten immer wieder hervorgeht, was aber die Befürworter der Opernverunstaltungen nicht begreifen oder nicht begreifen wollen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

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