Liszt - Années de Pelerinage


  • Orage mit Lazar Berman – Zugabe eines Mailänder Konzertes, wo er die kompletten 12 transzendentalen Etüden spielte. Was für ein Furor! Und dann diese explosive Beruhigung am Schluss. Permanente Hochspannung, so dass einem der Atem stockt. Und bei all dem schmerzen diese Fortissimo-Attacken nie in den Ohren. Das liegt nicht zuletzt an Bermans blitzsauberem Klavierspiel auch in jeder Extremlage.

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    Ganz anders aber nicht weniger fesselnd George Cziffra. Er betont sehr rhetorisch-plastisch die einzelnen Gesten, weniger den großen, soghaften „Zug“ wie Berman. Die <, welche Liszt notiert, werden zu wahren „Explosionen“. Bisweilen überstürzt sich die Musik geradezu. Unglaublich aufwühlend ist das. Bei beiden Aufnahmen bleibt einem der Mund offen stehen. Diese absoluten Über-Virtuosen können da eben doch noch wie man so schön sagt gegenüber Anderen „eine Schippe drauf“ legen. Schade, dass bei der Cziffra-Aufnahme die Aufnahmetechnik nicht ganz optimal ist.

    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,
    hab vielen Dank für Deine Bemerkungen zu Cziffra und Berman, mit denen Du bei mir offene Türen einrennst :). Auch wenn ich Korsticks ff bei Krage zwar als heftig, aber nie als schmerzhaft für die Ohren empfinde. Sicher kann insbesondere Cziffra in puncto Virtuosität noch ein Quentchen mehr vorweise als Korstick, aber das ist natürlich auch ein extremes Niveau, auf dem da verglichen wird. Allerdings ist die Aufnahmequalität bei Cziffra leider in der Tat nicht die Beste :(.


    Auch wenn ich es jetzt etwas durcheinanderbringe, hätte ich noch einen Nachtrag zu Au Lac du Wallenstadt, nämlich die Aufnahme von Nelson Freire:

    Das ist mit einem sehr schönen Klavierton gespielt, leicht und perlend mit großen Bögen, aber natürlich sehr flott (2.45). Interessanterweise habe ich trotz des flotten Ansatzes nie das Gefühl daß das Spiel zu unruhig wird, hier vermeint man ein Kräuseln des Wassers auf dem See wahrzunehmen, aber nie in der unruhigen Nahansicht sondern wie ein leichtes Zittern der Oberfläche, das man als Ganzes nur von Weitem wahrnimmt, man kann das noch als dolcissimo durchgehen lassen, denke ich. Freire erreicht zudem eine imO sehr große Gleichmäßigkeit der Bewegung der linken Hand. Gut gelungen ist der zart in anderen Sphären verklingende Schluß. Dennoch: andere Stücke der Liszt Einspielung Freires haben mich noch mehr gepackt.
    Mit bestem Gruß
    JLang


    PS Ich versuche, min spätestes morgen noch dem m. E. zentralsten Stück des ersten Zyklus zu widmen.

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • PS Ich versuche, min spätestes morgen noch dem m. E. zentralsten Stück des ersten Zyklus zu widmen.


    Das freut mich sehr, lieber Jörn! Und ich werde mir die Aufnahme von Freire wohl besorgen müssen... :)


    Einen schönen Feiertag wünschend mit herzlichen Grüßen
    Holger

  • Nun habe ich mich dem nächsten Stück aus dem ersten Zyklus gewidmet:


    Vallée d’Obermann

    Es darf sicherlich als zentraler Bestandteil des ersten Jahres angesehen werden (darauf deutet allein die Länge hin, die diejenige der übrigen Stücke bei Weitem überschreitet). Auch wenn der Name vielleicht ein Naturbild erwarten ließe. Ein Obermann-Tal existiert nicht, das Stück hat vielmehr eine literarische Vorlage: den gleichnamigen Briefroman des Franzosen Etienne Pivert de Senancourt. Darin berichtet der Schweizer Obermann in 91 Briefen über seine gesamte Gefühlswelt, insbesondere aber von den Schattenseiten dieser Welt: vorherrschend sind Verzweiflung, Sehnsucht, Liebesleid und tiefste Resignation, ausgelöst von der hoffnungslosen Suche nach Sinn. Liszt selbst schrieb an seinen Verleger: "Die Geografie hat aber bei diesem Stück durchaus nichts zu thun, denn es bezieht sich einzig und allein auf den französischen Roman Obermann von Sénancourt dessen Handlung blos die Entwickelung eines besonderen Seelen Zustandes bildet." Etwas später heißt es: "Obermann könnte man das Monochord der unerbittlichen Einsamkeit der menschlichen Schmerzen nennen. Es ist ein wüstes, verworrenes und sublimes Buch".
    Liszt hat seinem Werk zwei Zitate aus dem Roman vorangestellt: "Was will ich? Wer bin ich? Was die Natur fragen? Jegliche Ursache ist unsichtbar, jegliches Ziel trügerisch, jegliche Form ändert sich, jegliche Zeit zerrinnt. Ich fühle, ich existiere, um mich in unzähmbarem Verlagen zu verzehren, mich der Verführung einer fantastischen Welt hinzugeben, von ihrem lustvollen Irrtum überwältigt zu werden. - Unaussprechliche Sehnsucht, Zauber und Fluch unserer nutzlosen Jahre; unendliches Bewusstsein einer absolut überwältigenden und undurchdringlichen Natur, allumfassende Leidenschaft, fortschrittliche Weisheit, lustvolle Selbstaufgabe; alles, was ein menschliches Herz an Nöten und tiefen Leiden in sich tragen kann; ich habe alles erfahren, erlitten in jener unvergesslichen Nacht. Ich habe einen verhängnisvollen Schritt ins Alter der Schwäche getan; ich hab zehn Jahre meines Lebens verschlungen". Diese Zeilen bringen nichts Geringeres als eine unvergleichliche Enttäuschung von der Welt zum Ausdruck. Liszt setzt zwei Zitaten aus Sénancour noch das (fast schon übliche) Byron Zitat hinzu, das in diesem Fall die Unmöglichkeit benennt, sein Innerstes nach Außen durch das Wort verständlich zu machen. Es ist also ein Stück, das durch größtmögliche Extreme von Gefühlen geprägt ist.
    Neben dem höchst anspruchsvollen Klaviersatz muß sich der Interpret also einer sehr genauen Programmatik Liszts stellen.
    Wie bewältigt Korstick nun diese doppelte Anforderung? Hinsichtlich des Tempos ist Korstick etwas schneller als Berman, sein Klavierton ist gegenüber der Berman-Aufnahme etwas heller und weniger voll. Trotz dieses etwas dünneren Tons, der zudem leider im Diskant einige unangenehme Spitzen aufweist, bringt Korstick in den elegischen Tonfolgen zu Beginn die melancholische Ausweglosigkeit einer Konfrontation mit der Frage: "Was will ich? Wer bin ich?" wunderbar zum Ausdruck. In den hochvirtuosen Passagen setzt Korstick die innere Angespanntheit und Zerrissenheit in einer Gewalt um, die einen das Fürchten lehren kann. Doch stört hier in der Tat leider der o. g. im ff. schrille Ton im Diskant (den brüllenden Baßbereich finde ich dagegen als eindrucksvolle Gestaltung eines inneren Brodelns, das sich aufgrund der fehlenden Möglichkeit des Ausdruck nichts entladen kann, beeindruckend). Voller Lyrik sind die aufsteigenden Arpeggio-Bewegungen vor dem Finale, das Korstick allerdings nach meinem Geschmack zu sehr als "virtuoses Finale" versteht. Denn die Frage "Was will ich? Wer bin ich?" ist mitnichten beantwortet, kann nicht beantwortet sein. " Ich habe einen verhängnisvollen Schritt ins Alter der Schwäche getan; ich hab zehn Jahre meines Lebens verschlungen" lautet ja auch eines der vorangestellten Zitate: Diese Ausweglosigkeit und die Verzweiflung, an der Sinn-Frage gescheitert zu sein, nehme ich dieser Interpretation nicht so ganz ab. Auch wenn Korstick am Ende nicht zu einer klanglichen Lösung findet die mich überzeugen kann, hat er eine spannungsgeladene Aufnahme vorgelegt, die die enormen Extreme des Werkes nicht scheut aber zugleich zusammen hält.
    Mit besten Grüßen zum Feiertag



    Zitat von Holger Kaletha

    Das freut mich sehr, lieber Jörn! Und ich werde mir die Aufnahme von Freire wohl besorgen müssen... :)

    Lieber Holger,


    auch auf die Gefahr hin, mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen und von meiner Begeisterung für diesen Pianisten treiben zu lassen: ich halte etwa die Consolations oder die Ungarische Rhapsody Nr. 3 oder die Ballade Nr. 2 für sehr gelungen und durchaus hörenswert.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Wie bewältigt Korstick nun diese doppelte Anforderung? Hinsichtlich des Tempos ist Korstick etwas schneller als Berman, sein Klavierton ist gegenüber der Berman-Aufnahme etwas heller und weniger voll. Trotz dieses etwas dünneren Tons, der zudem leider im Diskant einige unangenehme Spitzen aufweist, bringt Korstick in den elegischen Tonfolgen zu Beginn die melancholische Ausweglosigkeit einer Konfrontation mit der Frage: "Was will ich? Wer bin ich?" wunderbar zum Ausdruck. In den hochvirtuosen Passagen setzt Korstick die innere Angespanntheit und Zerrissenheit in einer Gewalt um, die einen das Fürchten lehren kann. Doch stört hier in der Tat leider der o. g. im ff. schrille Ton im Diskant (den brüllenden Baßbereich finde ich dagegen als eindrucksvolle Gestaltung eines inneren Brodelns, das sich aufgrund der fehlenden Möglichkeit des Ausdruck nichts entladen kann, beeindruckend). Voller Lyrik sind die aufsteigenden Arpeggio-Bewegungen vor dem Finale, das Korstick allerdings nach meinem Geschmack zu sehr als "virtuoses Finale" versteht. Denn die Frage "Was will ich? Wer bin ich?" ist mitnichten beantwortet, kann nicht beantwortet sein. " Ich habe einen verhängnisvollen Schritt ins Alter der Schwäche getan; ich hab zehn Jahre meines Lebens verschlungen" lautet ja auch eines der vorangestellten Zitate: Diese Ausweglosigkeit und die Verzweiflung, an der Sinn-Frage gescheitert zu sein, nehme ich dieser Interpretation nicht so ganz ab. Auch wenn Korstick am Ende nicht zu einer klanglichen Lösung findet die mich überzeugen kann, hat er eine spannungsgeladene Aufnahme vorgelegt, die die enormen Extreme des Werkes nicht scheut aber zugleich zusammen hält.


    Ich finde auch, lieber Jörn, Vallee d´Oberman ist eine der stärksten Aufnahmen von Korstick - wenn da leider nicht dieser etwas sehr vordergründig heruntergedonnerte Schluß wäre. Das Stück ist insofern etwas heikel im Zyklus zu spielen, weil allzu leicht ein "theatralischer" Ton auftaucht, der zum Stilbruch werden kann. So erkläre ich mir Bermans hier tendentiell purifizierende Zurückhaltung. Von Berman gibt es noch eine ältere Aufnahme (in der Box von Brilliant-Classics) die hochexpressiv und fein gespielt zugleich ist - viel extrovertierter als diese Studio-Aufnahme. Es spielt also durchaus eine Rolle, ob man das Stück als Einzelstück interpretiert oder als Teil des Zyklus. Das Expressivo kostet Korstick wunderbar aus - auch alle komplexen Gefühlslagen von Tönungen des Schmerzes und der süßlich-tröstenden Erinnerung. Man kann den Beginn natürlich auch anders angehen - das ist ja Ausdruck von Schwermut, die sich allein schon im Klaviersatz zeigt: Melodiestimme und Baß hat Liszt spiegelverkehrt gesetzt: die Begleitfiguren in der Höhe und die Melodie in Sekundschritten in der linken Hand absinkend zieht alles schwerlastend nach unten. Das ist bei Claudio Arrau z.B. wunderbar zu hören. Auch Korstick hat wie Volodos die Horowitz-Aufnahme verinnerlicht - das merkt man ganz deutlich an der Stelle Takt 70 ff, wo er ihn "kopiert". Wie Horowitz geht er da bis zum Forte im Baß und spielt die folgenden Akkorde mit einem Staccato im Sinne eines emotionalen, vor Schreck vor so viel Leiden und Leidenschaft schockhaft erstarrenden "Nachbebens". Im Recitativo kommt wieder dieser etwas unschöne Fortissimo-Ton - aber das kann ich hier verschmerzen. Leider hat er sich über den Sinn des Schlusses zu wenig Gedanken gemacht. Da steht erst einmal Takt 188 sempre animando sin´al fine. Der Sinn ist demnach der einer kontinuierlichen Belebung, einer Art Selbstsuggestion, durch die sich diese Schlußapotheose zu einem Rausch steigert. Korstick beginnt aber schon mit dem ersten Ton mit vollster Kraft - da ist dann alle Dynamik von vornherein schon ausgereizt. Statt einer rauschaften Belebung (was bei Horowitz wirklich phänomenal so ausgespielt ist, geradezu dionysisch) wird es dann einfach nur plakativ-theatralisch. Adorno würde diesen Tastendonner am Schluß wohl blanke Positivität nennen und dieses Affirmative als Verlust von Authentizität werten. Man fragt sich in der Tat: Wo ist der Zweifel, wo ist die bis zum Nihilismus gehende Skepsis geblieben? Am Schluß erscheint das Schwermut-Thema im Fortissimo. Taucht da nicht der Zweifel in dem Versuch, ihn laut zu übertönen, gerade wieder auf? Liszt hat diesen Schluß durch eine Fermate über der vorhergehenden Pause vom Vorherigen abgesetzt - diese Zäsur überspielt Korstick bezeichnend. Es gibt keinen Besinnungsmoment mehr. Ohne diesen vordergründigen Schluss würde ich diese Aufnahme in meine Referenzen aufnehmen: Arrau, Berman (besonders die Aufnahme aus Rußland), Richter, Horowitz und Cziffra (der bemerkenswert im Finale auf jeden theatralischen Tastendonner verzichtet), von den neueren natürlich Volodos - erstaunlicher Weise ist auch Pierre-Laurent Aimard ganz ausgezeichnet, eine Expressivität, die man ihm als eher "rationalistischen" Interpreten gar nicht zutraut:


    Herzliche Grüße
    Holger

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  • Zitat Holger Kaletha

    Zitat

    Ohne diesen vordergründigen Schluss würde ich diese Aufnahme in meine Referenzen aufnehmen: Arrau, Berman (besonders die Aufnahme aus Rußland), Richter, Horowitz und Cziffra (der bemerkenswert im Finale auf jeden theatralischen Tastendonner verzichtet), von den neueren natürlich Volodos - erstaunlicher Weise ist auch Pierre-Laurent Aimard ganz ausgezeichnet, eine Expressivität, die man ihm als eher "rationalistischen" Interpreten gar nicht zutraut:


    Erst jetzt, lieber Holger, kann ich auf Deinen schönen Nachhörbericht reagieren, hab vielen Dank dafür. Interessant finde ich, daß Dich in diesem Kontext der partiell etwas unschöne Ton nicht stört. Korstick hat hier wirklich eine sehr gute Aufnahme vorgelegt, mir fehlt da auch nur ein Quentchen, um es zu einer persönlichen Referenz zu schaffen ("Besinnungsmoment" finde ich sehr treffend). Meine persönlichen Referenzen sind Cziffra und Richter, von Berman kenne ich nur die DGG Aufnahme, da finde ich ihn in diesem Stück nicht so stark wie in anderen (mir ist hier der Klavierton etwas zu ausgeglichen, die Extreme werden nicht so recht deutlich). Pierre-Laurent Aimard habe ich noch nicht gekauft, muß ich aber unbedingt tun, ich halte ihn für einen sehr interessanten Interpreten und er ist einer meiner liebsten aktiven Pianisten.
    Ich versuche, mich an diesem Wochenende noch den weiteren Stücken zu widmen.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

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  • Nach arbeitsbedingter Abstinenz folgt endlich der Abschluss meiner kleine Schilderung der Höreindrücke dieses ersten Teil der Années in der Einspielung von Michael Korstick


    Eglogue
    Wie üblich ist dem Stück ein Zitat von Byron vorangestellt "Und wieder kommt der Morgen mit seinem Tau, mit Weihrauchatem und rosigen Wangen, er lacht die Wolken mit spielerischer Verachtung hinweg, und lebt als gäb’s kein Grab auf dieser Erde". Bereits der Titel "Ekloge" verweist – in antiker Tradition stehend und als Synonym für "bukolisches Gedicht" gebraucht – auf die Stimmung einer ländlichen Idylle, das Zitat hebt die positive Grundstimmung noch einmal deutlich hervor. "Dolce" und "Dolce grazioso" (Takt 26 und 43) sind auch die beiden wichtigsten Spielanweisungen, die Liszt gab. Über der lieblichen Stimmung setzt eine heitere Melodie ein, die Korstick eigentlich auch schön betont. Im Kontext dieses Stückes stören mich ein wenig die sehr knalligen f Einfälle, die der Landschaft eine Schroffheit verleihen, die sie durch die "dolce" Grundstimmung eigentlich nicht hat.


    Le mal du pays
    Dem Stück ist in der Druckausgabe ein langes Zitat aus dem Obermann vorangestellt, das den Titel "Über den romantischen Ausdruck und den Kuhreigen" trägt. Meiner Ansicht nach ist Korstick dieses Werk aus dem ganzen Zyklus besonders gut gelungen. In der Wiederholung des Themas im Bass zu Beginn hätte der Stimmung ein dunklerer Klavierton gut getan, so klingt es noch etwas "dünn", aber das Zögerliche der folgenden accellerandi und rallentandi gestaltet er ausnehmend schön. Besonders gelungen ist ihm imO der Ausdruck im Adagio dolente, erfüllt von tiefster Wehmut nach dem, wo man nicht sein kann, aber doch sein will. Im zweiten Adagio dolente gestaltet er zu Beginn ein wenig eigenwillig, weil er einige sf einfügt: will er damit jäh einsetzende Gedanken an die Heimat zum Ausdruck bringen? Dann wären sie keineswegs fehl am Platze und bereiteten das folgende agitato mit den crescendi vor. Wollte man überkritisch etwas bemerken, dann vielleicht nur, daß in den dolcissimo-Passagen ein noch höheres Maß Süße iim Klavierton sicher nicht verfehlt gewesen wäre. Für mich dieses Werk neben Valle d’Obermann mein liebstes Stück dieses Zyklus und Korstick hat mir mit der Interpretation eine roße Freude bereitet.


    Les cloches de Genève
    Der erste Zyklus verklingt mit den Glocken von Genf in zarten Tönen (Das ursprünglich vorangestellte Byron-Zitat wurde getilgt). Zart läßt Korstick hier zu Beginn die Glocken aus der Ferne erklingen in die ruhige Stimmung erklingen, aber wäre bei dem mit Nocturne überschriebenen Stück hier nicht noch mehr Zartheit notwendig? Ich denke nein, denn dem pp zu Beginn folgt später noch das ppp, das Korstick auch hörbar von der Anfang gewählten Dynamik abzusetzen weiß. Ausnehmend schön ist das cantabile gespielt, wie ehe Harfe soll es klingen, und es ist vielleicht etwas kräftig zupackender Harfenist am Werk, aber den schönen Ton, den hat Korstick in diesem Stück bis zur Passage "con somma passione", welcher die ff Bässe etwas schnarren. Das ergibt einen etwas unschönen Kontrast zu den schönen Harfen-Arpeggien.


    Sollte ich bei dieser Aufnahme eine Gesamtbewertung abgeben, fällt mir das nicht ganz leicht, da sie ein wenig heterogen ist. Das teilt diese aber mit anderen Aufnahmen der Années. Mir scheint, Korstick hat sich in der Aufnahme gesteigert, hat immer besser in den in jeder Hinwicht gewaltigen und vielschichtigen Klangkosmos von Liszt gefunden. Ein großer Höhepunkt ist sicherlich das Valle d’Obermann aber auch das Heimweh ist imO herausragend gut gelungen. Andere Stücke sind immer noch gut, nur fehlt ihnen vielleicht ein Quentchen (oder manchmal auch etwas mehr), um mit den für mich Maßstäbe setzenden Interpretationen mitzuhalten (Berman, stellenweise auch Brendel, Volodos). Dennoch: dem Liszt-Liebhaber - vor allem dem, der für ein furioses, mitunter ungezügeltes Spiel ich schonmal einen nicht ganz so runden Ton in Kauf nimmt und dazu gehöre ich - sei diese Einspielung empfohlen - nicht nur angesichts des aktuell sehr günstigen Preise. Sie kann auch noch mit einer furiosen Einspielung der h-Moll Sonate aufwarten.


    Mit bestem Gruß
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
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  • Von Vallée d´Oberman gibt es einen hoch expressiven und wirklich hörenswerten Kontzertmitschnitt von Alfred Brendel (1981).



    Brendel interpretiert das Stück als subjektive Bekenntnismusik – dabei die sentimentalische Überspanntheit, die theatralische Selbstinszenierung auf die reine Ausdrucksbedeutung reduzierend. Liszt notiert zu Beginn keine dynamische Bezeichnung – die meisten Interpreten spielen hier Piano oder Mezzoforte – Brendel beginnt im fast schon schreienden Forte. Der Ausdruck ist hier weniger der von Schwermut als von schneidendem Schmerz. Die Wechselbäder der Gefühle gestaltet Brendel trefflich. Obwohl das Stück Andere spektakulärer spielen können, bleibt Brendel hier nichts schuldig. Mit Bezug auf die Schlussapotheose ist lobend zu erwähnen, wie genau er sich an Liszts dynamische Bezeichnungen hält – das musikalische Geschehen beginnt notentreu eben nicht schon im Forte (wie bei Korstick), sondern Mezzoforte, um sich dann zum Fortissimo zu steigern. So ist es zwar heroisch kraftvoll, aber nicht bombastisch.



    Michael Korsticks Eglogue ist sehr melodisch, hat für mich aber die Schwäche, manchmal etwas ins Theatralische abzugleiten, was nicht ganz zur Schlichtheit einer Hirtenweise passt. Der zwischen Eglogue und Le mal du pays eingeschobene lange Textauszug aus Sénancours Briefroman Oberman macht die Reihenfolge der Stücke verständlich. Diskutiert wird nämlich Rousseaus Artikel über den Schweizer Kühreihen, wonach dieser in der Schweizer Armee bei Todesstrafe verboten war zu singen, weil er Heimweh hervorruft und die Moral schwächt. So ergibt sich bei Liszt die Assoziationskette Hirtenweise-Heimweh. Das Stück gelingt Korstick zweifellos sehr gut, allerdings sind die von Liszt notierten Tempowechsel nicht realisiert Lento-Andantino-Adagio. Auch setzt Korstick das rallentando (Takt 8, Takt 35) früher an als bei Liszt notiert, so dass etwas die einheitliche Linie verloren geht. Auch hier ist mir der Ton ein wenig zu theatralisch. Das Heimweh findet bei Liszt seine finale Erfüllung – die Glocken von Genf läuten das Ziel der romantischen Reise ein durch die Liebe: Genf war der Wohnort von Liszts damaliger Geliebter Marie d´Agoult. Man kann die Glocken im pp und ppp sicher mysteriöser spielen als Korstick – aber auch dieses Expressivo ist eine legitime Auslegung. Weniger zufrieden bin ich dagegen mit dem hymnischen Cantabile con moto. Korsticks überflüssige Baßoktavierungen empfinde ich eher als störend. Doch entscheidender für mich ist, dass Korsticks melodischen Linie die Großzügigkeit fehlt, der große Bogen und lange Atem, wodurch sich dann schließlich eine kontinuierliche rauschhafte Steigerung ergibt, die im Fortissimo kulminiert. Bei Korstick gibt es dagegen einen Bruch. Der Schluss ist mir eindeutig zu theatralisch – die romantische Liebe spielt eigentlich kein Theater.


    Nach diesem erneuten Durchhören bestätigt sich mein Gesamteindruck: Das ist eine in vielen Details wirklich interessante Interpretation, der es jedoch auch etwas an Geschlossenheit mangelt.


    Wie machen wir weiter, lieber Jörn? Heft 2 (Italien I) habe ich von Korstick leider nicht! :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    hab vielen Dank für den "Gegenhören", ich finde, da kommen interessante Aspekte heraus und ich habe mir Korstick nach Deinen Bemerkungen noch einmal angehört. Die Brendel Einspielung, die Du erwähnt hast, ist mir irgendwie durchgegangen, ich habe zu meinem Schrecken festgestellt, daß ich sie gar nicht habe ;(
    Aber das wird sich ändern: sicher gibt es - wie Du richtig bemerkt hast - spektakulärere Liszt-Interpreten als Brendel, aber nur wenig haben die Werke in einer so umfassenden Breite inhaltlich durchdrungen.



    Zitat von Holger Kaletha

    Eglogue ist sehr melodisch, hat für mich aber die Schwäche, manchmal etwas ins Theatralische abzugleiten, was nicht ganz zur Schlichtheit einer Hirtenweise passt.

    Theatralik ist eine schöne Umschreibung und entspricht dem, was ich als schroff beschrieben habe. Ich finde, daß Korstick wirklich etwas mehr Schlichtheit hätte an den Tag legen können. Aber scheinbar liebt er die Kontraste zu sehr.



    Heimweh

    Zitat von Holger Kaletha

    Auch hier ist mir der Ton ein wenig zu theatralisch.

    Das beziehst Du unter anderem auf die etwas seltsam anmutenden sf oder?
    Daß die einheitliche Linie verloren geht, das kann sein, aber kann es nicht auch sein, daß sie nicht da sein soll. Man könnte es vielleicht auch folgendermaßen lesen: dem Fluß der Musik steht das Heimweh als eine Aneinanderreihung von Gedanken entgegen (kein Gedankenflug, sondern aufblitzende Gedankenfetzen an die Heimat), die unterschiedlicher Intensität sind. Da wiegt meines Erachtens schwerer, daß die Abfolge Lento-Andantino-Adagio nicht realisiert wird.



    Glocken von Genf

    Zitat von Holger Kaletha

    dass Korsticks melodischen Linie die Großzügigkeit fehlt, der große Bogen und lange Atem,

    Die Phrasierungen hätten in der Tat noch großzügiger ausfallen können, aber den Klavierton ist sehr passend, wie ich finde. Der hymnische Abschluss fällt bei Dir in den Bereich "Theatralik", das kann man so sehen. Mir scheint aber in den (Über) Steigerungen dieser Abschlüsse genau der Zugriff Korsticks zu liegen. Er kontrastiert bisweilen in einem Maße, das Dir zu weit geht, ist aber dahingehend doch sehr konsequent.



    Zitat von Holger Kaletha'

    Wie machen wir weiter, lieber Jörn? Heft 2 (Italien I) habe ich von Korstick leider nicht!

    Das macht doch nichts, schlag einfach vor, wie wir verfahren, wir müssen uns ja nicht an eine Reihenfolge halten und könnten uns beispielsweise auch einfach eine andere Aufnahme von Heft 1 vornehmen. Ich finde dieses Gegenhören auf jeden Fall sehr bereichernd.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

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  • Das macht doch nichts, schlag einfach vor, wie wir verfahren, wir müssen uns ja nicht an eine Reihenfolge halten und könnten uns beispielsweise auch einfach eine andere Aufnahme von Heft 1 vornehmen. Ich finde dieses Gegenhören auf jeden Fall sehr bereichernd.


    Lieber Jörn,


    das finde ich auch! :) Vorschlag: Dann bleiben wir doch bei Band 1 und nehmen vielleicht eine Aufnahme, die mit der von Korstick sicher am deutlichsten kontrastiert: Jorge Bolet. Zum Vergleich können wir dann bei den einzelnen Stücken andere (Berman, Brendel, Arrau usw., wie wir gerade wollen) heranziehen... Wie wäre das? :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Lieber Holger,


    entschuldige bitte die verzögerte Antwort, ich war beruflich ein paar Tage unterwegs und ohne internet.
    Den Vorschlag, bei Band I zu bleiben, finde ich wunderbar. Jorge Bolet ist ein sehr guter Vorschlag, Louis Lortie habe ich noch nicht.


    Am Wochenende werde ich die notwendige Zeit haben, mich mit Bolet zu beschäftigen


    Herzliche Grüße
    Jörn

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  • entschuldige bitte die verzögerte Antwort, ich war beruflich ein paar Tage unterwegs und ohne internet.
    Den Vorschlag, bei Band I zu bleiben, finde ich wunderbar. Jorge Bolet ist ein sehr guter Vorschlag, Louis Lortie habe ich noch nicht.


    Am Wochenende werde ich die notwendige Zeit haben, mich mit Bolet zu beschäftigen


    Kein Problem, lieber Jörn! Wie schrecklich abhängig wir doch von diesem Internet sind! :D Ich freue mich schon auf das Nachhören von Bolet! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Lieber Holger,


    ich fürchte, ich muß die erste Hörsitzung noch um eine Woche verschieben, weil dann sie vorlesungsfreie Zeit anfängt und ich erst dann wieder Zeit habe, intensiver Musik zu gären. Letztes Wochenende hatte ich ganz verdrängt, daß ich Samstag und Sonntag Seminar hatte. Heute Abend war mir irgendwie nach etwas Sinfonischem, aber Bolet liegt schon neben meiner Anlage :)


    Mit herzlichem Gruß
    Jörn

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  • So, nun habe ich mir nach Busoni noch einmal Zeit für Liszt genommen und wollte wenigstens beginnen.
    Wir hatten uns ja auf Jorge Bolet geeinigt. Ich habe die Années in der folgenden Aufnahme


    Chapelle de Guillaume Tell: Bolet spielt im Vergleich zur Korstick Aufnahme insgesamt viel ausgeglichener, dabei gerät der Beginn nach meinem Empfinden viel zu ausgeglichen: Liszt beginnt f-Beginn (lento), es folgt ff (più lento fordert hier Liszt). Bolet spielt hier aber eher mf, das folgende mf gerät zum p. Dadurch gerät das dynamische Gefüge des Werkes am Beginn leider durcheinander. Schön akzentuiert er dagegen die f marcati (eta Takt 21), die prägnant hervortreten, aber in einem schönen Ton bleiben. Ich habe das Gefühl, daß Holet bis Takt 36 zu sehr über die dynamische Struktur hinwegspielt, dann wird es besser. Am besten gefällt mir der Schluß, den Bolet wirklich choralhaft-hymnisch erklingen läßt, ganz wie es sich für eine Legende gehört. Überzeugt hat mich diese zu Beginn dynamisch sehr eingeebnete Lesart trotz des schönen Klaviertons nicht, das ist mir einfach zu wenig. Zu viel feierliche Grundstimmung, zu wenig dramatisches Geschehen, um es etwas platt zu formulieren. Damit akzentuiert Bolet zu stark eine retrospektive Betrachtung, die Tell-Legende, die subkutan ja immer mitschwingt, kommt mir zu wenig zum Ausdruck.


    Mit herzlichem Gruß
    Jörn

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  • So, nun habe ich mir nach Busoni noch einmal Zeit für Liszt genommen und wollte wenigstens beginnen.
    Wir hatten uns ja auf Jorge Bolet geeinigt. Ich habe die Années in der folgenden Aufnahme


    Chapelle de Guillaume Tell: Bolet spielt im Vergleich zur Korstick Aufnahme insgesamt viel ausgeglichener, dabei gerät der Beginn nach meinem Empfinden viel zu ausgeglichen: Liszt beginnt f-Beginn (lento), es folgt ff (più lento fordert hier Liszt). Bolet spielt hier aber eher mf, das folgende mf gerät zum p. Dadurch gerät das dynamische Gefüge des Werkes am Beginn leider durcheinander.


    Lieber Jörn,


    sehr schön, dann machen wir peu a peu weiter! :) So sehe ich das auch. Bolet spielt zweifellos sehr einfühlsam und poetisch, aber gerade bei diesem Stück überzeugt mich sein Ansatz der "Intimisierung" nicht. Vor allem deshalb nicht, weil Bolet selber zeigt, dass er sich nicht durchhalten läßt. Die beiden ersten Stücke sind doch eigentlich ein Kontrast zwischen sehr "weltlichem" Geschehen und Erleben und dessen Transzendierung in das Metaphysische eines Naturerlebnisses (Nr. 2). Bolet fällt bezeichnend immer wieder in den "weltlichen" Ton zurück. So gestaltet er den Mittelteil mit den Echos der Fanfaren und der Kampfszene sehr realistisch - aber das paßt dann nicht zum intimen Auftakt. Vor allem versteht man dann nicht die Reprise des Themas Takt 52 ff., das zu einem Hymnus gesteigert wird. Da spielt er ff - aber es fehlt die Korrespondenz zum lyrisch-intimen Beginn. Es ist zwar sympathisch, dass er jeglichen Bombast vermeiden will, aber die Thematik hat nun mal eine gewisse heroische Komponente, die einfach dazugehört. Was Du auch bemerkt hast - er hätte sich besser an Liszts dynamische Vorgaben gehalten - gilt auch für den Schluß. Alles wirkt etwas "verzettelt", eine Ansammlung von schönen poetischen Einfällen. Der Blick für das Ganze geht etwas verloren. Die letzten Takte finde ich sehr gelungen - aber auch hier fehlt der einheitliche Ton. Die gewisse poetische Monumentalität findet durch das ganze Stück hindurch keinen Widerhall.


    Auch Au lac de Wallenstadt stellt mich nicht zufrieden. Das Tempo ist für meinen Geschmack zu langsam - statt der spiegelglatten Fläche des Sees gibt es nur einzelne Wellen zu sehen und zu hören. Die Begleitfiguren in der linken Hand sind einfach viel zu unruhig und auch zu kräftig, da steht doch pp dolcissimo egualmente. Das ist weder "dolce" noch "dolcissimo" gespielt noch wirklich gleichmäßig ("egualmente"). Im Byron-Zitat ist zudem von stillness die Rede - davon spürt man von Bolet einfach viel zu wenig.


    Ebenfalls Nr. 3, die Pastorale, gefällt mir nicht. Für ein Vivace ist das viel zu langsam. Dadurch verliert dieses Erlebnis pastoraler Natürlichkeit seine Unschuld und "Frische", bekommt einen leicht sentimentalen, süßlichen Ton, den man Liszt bisweilen (in diesem Fall völlig zu Unrecht finde ich) ja auch vorgeworfen hat. Man merkt hier ein wenig, dass Bolet Schüler von Leopold Godowsky ist - der sehr melodische Ansatz.


    Gestern habe ich mir übrigens erst Sposalizio (Nr. 1 aus dem 2. Band, Italien (I)) angehört - zunächst beide Aufnahmen von Brendel, die erste Philips-Einspielung von 1972 und dann die spätere Digitalaufnahme. Beide sind im Ansatz ganz ähnlich - aber für meinen Geschmack treffen sie nicht den Geist des Stücks - die romantische Huldigung von Raffael. Wenn man ins Museum geht - etwa in Dresden - dann sticht Raffael umgeben von all den barocken "Schinken" von Rubens usw. heraus - diese unglaubliche Sanftheit und Zartheit bleibt einem im Gedächtnis. Bei Brendel klingt das weniger nach Raffael als nach einem barock-dramatischen Rubens. Schon das mf zu Beginn ist mir viel zu laut - das ppp dolcissimo mit den leisen Harfentönen in der rechten Hand dann natürlich aufregend gespielt von Meister Brendel. Das Problem bleibt aber, dass er zum Mittel dramatischer Kontrastschärfung greift, was zu der Ruhe und Ausgewogenheit, die Raffael ausstrahlt, im Prinzip nicht paßt. Bezeichendend spielt er die mit Andante quieto überschriebene Passage so, als stände das Gegenteil darüber: Andante inquieto. Auch ist der Schlußhymnus sehr dramatisch-affektiert. Besser ist da schon Aldo Ciccolini mit dem Sinn des Italieners für melodischen Schmelz - allerdings fehlt da wiederum das eigentlich Aufregende, die Feinheit. Ciccolini habe ich anschließend weiter durchgehört - bis auf die Dante-Sonate. Nr. 2 Il Penseroso ist für ein Lento viel zu schnell - Ciccolini spielt da Andante. Dadurch bekommt das Stück einen pompös-heroischen Ton statt in sich vergrabener Gedankenschwere. Die Petrarca-Sonnette sind schön gespielt - auch hochvirtuos. Wiederum muß man aber sagen: die betörende Feinheit und die Klarheit im Vergleich mit Berman, Horowitz oder Lipatti vermißt man doch ein wenig. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat von Holger Kaletha

    Es ist zwar sympathisch, dass er jeglichen Bombast vermeiden will, aber die Thematik hat nun mal eine gewisse heroische Komponente, die einfach dazugehört. Was Du auch bemerkt hast - er hätte sich besser an Liszts dynamische Vorgaben gehalten - gilt auch für den Schluß. Alles wirkt etwas "verzettelt", eine Ansammlung von schönen poetischen Einfällen. Der Blick für das Ganze geht etwas verloren. Die letzten Takte finde ich sehr gelungen - aber auch hier fehlt der einheitliche Ton. Die gewisse poetische Monumentalität findet durch das ganze Stück hindurch keinen Widerhall.

    Lieber Holger,


    hab vielen Dank für das intensive "Gegenhören": ich finde, man merkt hier, daß Liszts Stücke, um mit einem anderen thread-Titel zu sprechen - keinesfalls robust sind, eher fragile Gebilde, bei denen es weder ausreicht, die dynamischen Vorgaben auszuführen (Korstick), noch mit intimer Klavierspielkunst zu agieren (auch wenn sie das hohe Level von Bolet hat). Mir ist beim Hören der Aufnahme bewußt geworden, daß Chapelle de Guillaume Tell die organische Einheit aus Intimität und friedvoller Atmosphäre und die heroische Komponente benötigt, um vollends zur Geltung zu kommen.



    Zitat von Holger Kaletha

    Auch Au lac de Wallenstadt stellt mich nicht zufrieden. Das Tempo ist für meinen Geschmack zu langsam - statt der spiegelglatten Fläche des Sees gibt es nur einzelne Wellen zu sehen und zu hören. Die Begleitfiguren in der linken Hand sind einfach viel zu unruhig und auch zu kräftig, da steht doch pp dolcissimo egualmente. Das ist weder "dolce" noch "dolcissimo" gespielt noch wirklich gleichmäßig ("egualmente"). Im Byron-Zitat ist zudem von stillness die Rede - davon spürt man von Bolet einfach viel zu wenig.

    Bei Au Lac de Wallenstadt habe ich ja bereits bemerkt, daß ich die etwas zügigeren Ansätze bevorzuge, weil sie mir für eine kräuselnde Wasseroberfläche besonders treffend scheinen. Daher ist auch kaum verwunderlich, daß mich Bolet hier nicht überzeugend kann. Die Begleitfiguren sind merkwürdig rhythmisiert, fast wie leichte Wellen am Strand, in ständiger Vor- und Rückwärtsbewegung einer Brandung. Trifft Bolet das dolce und dolcissimo in der Melodielinie der rechten Hand schön, gilt das für die Linke leider nicht. Dadurch gerät das Stück in eine Schieflage



    Zitat von Holger Kaletha

    Ebenfalls Nr. 3, die Pastorale, gefällt mir nicht. Für ein Vivace ist das viel zu langsam. Dadurch verliert dieses Erlebnis pastoraler Natürlichkeit seine Unschuld und "Frische", bekommt einen leicht sentimentalen, süßlichen Ton, den man Liszt bisweilen (in diesem Fall völlig zu Unrecht finde ich) ja auch vorgeworfen hat. Man merkt hier ein wenig, dass Bolet Schüler von Leopold Godowsky ist - der sehr melodische Ansatz.

    Hier könnte man fast sagen: ein Ansatz zwischen Korstick und Bolet dürfte in die richtige Richtung gehen. Vor Korstick das Stück etwas gekünstelt belebt, verschleppt Bolet es mitunter. Selbst bei den schnelleren Passagen, stellt sich keine Frische ein. Es ist von der Stimmung her eher ein drückender Sommertag, der vor meinen Augen entsteht: Zu warm um sich in irgendeiner Form schneller zu bewegen.


    Au bord d´une source
    Um es in Erinnerung zu rufen: "In säuselnder Kühle / beginnen die Spiele / Der jungen Natur" ist das vorangestellte Motto. Hier ist mir Bolets Ansatz vielleicht etwas zu aufgeregt. Natürlich ist das meinerseits Jammern auf hohem Niveau, aber wenn man das Motto nicht ganz ernst nimmt, dann muß das dolce tranquillo doch ernst nehmen. Dolce spielt Bolet hier wirklich, aber tranquillo nicht. Das ist von Beginn an ein veritables Fließen, bei Holet entwickelt sich das Stück eher von einem ruhigen Fluß zu einem schnell fließenden Bach, denn von einer Quelle. Aber das ganze Stück über bringt er das Perlen von Wasser zauberhaft zum Ausdruck: da ist eine Leichtigkeit zu spüren, die sich so bei Korstick nicht erlebt habe. Man könnte etwas salopp sagen: das Wasser als Element charakterisiert Holet unglaublich treffen, allein die anfängliche Fließgeschwindigkeit ist eine wenig zu hoch.


    Mit herzlichem Gruß
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Es ist von der Stimmung her eher ein drückender Sommertag, der vor meinen Augen entsteht: Zu warm um sich in irgendeiner Form schneller zu bewegen.

    Lieber Jörn,


    das ist sehr treffend beschrieben... :hello: Unsere Gegenhör-Sessions machen mir richtig Freude! Und es ist doch beglückend, wenn man merkt, man kommt zu ganz ähnlichen Eindrücken!



    Um es in Erinnerung zu rufen: "In säuselnder Kühle / beginnen die Spiele / Der jungen Natur" ist das vorangestellte Motto. Hier ist mir Bolets Ansatz vielleicht etwas zu aufgeregt. Natürlich ist das meinerseits Jammern auf hohem Niveau, aber wenn man das Motto nicht ganz ernst nimmt, dann muß das dolce tranquillo doch ernst nehmen. Dolce spielt Bolet hier wirklich, aber tranquillo nicht. Das ist von Beginn an ein veritables Fließen, bei Bolet entwickelt sich das Stück eher von einem ruhigen Fluß zu einem schnell fließenden Bach, denn von einer Quelle. Aber das ganze Stück über bringt er das Perlen von Wasser zauberhaft zum Ausdruck: da ist eine Leichtigkeit zu spüren, die sich so bei Korstick nicht erlebt habe. Man könnte etwas salopp sagen: das Wasser als Element charakterisiert Holet unglaublich treffen, allein die anfängliche Fließgeschwindigkeit ist eine wenig zu hoch.

    Das ist interssaant, dass Du Bolet als zu schnell empfindest. Wenn man die Zeiten vergleicht, ist er nämlich der "langsamste" :) : Korstick 3.33, Berman 3.35, Cziffra 3.36, Fiorentino 3.46, Brendel, Lortie und Horowitz alle 3.48, Bolet 3.51. Ich finde Bolet spielt hier einmal wirklich untadelig - das Allegretto grazioso trifft er sehr genau. Vielleicht kommt Dein Eindruck einer etwas fehlenden Dolce-Weichheit und leichten Unruhe auch von den Eigenarten des Bechstein-Flügels. Der Bechstein-Ton ist etwas "gläsern" - im Obertonbereich hat ein Steinway einfach mehr zu bieten und kann im Diskant mehr zaubern. Bolet bemüht sich schon, tranquillo zu spielen (und für meinen Geschmack kann er das auch realisieren), allerdings ist der brilliante Ton Bechstein-spezifisch ein bisschen "hölzern" klappernd, so dass die Ruhe ein wenig gestört wird. Zum Vergleich habe ich mir Horowitz zu Gemüte geführt:


    R-10097476-1491571688-1385.jpeg.jpg
    Horowitz spielt den Beginn (natürlich absichtlich) fast schon "flächenhaft" und kaum akzentuiert - da ist Bolet deutlich strukturierter. Eine hochinteressante Aufnahme - Horowitz typisch mit einigen "Überraschungen". Ein sehr erwachsener, reifer Liszt allerdings - die jugendlich-gebürtliche Unschuld und Naivität ist ziemlich weit weg. Aber die Poesie, die er dort entfaltet, ist ein absolut faszinierendes Liszt-Erlebnis - das Stück genommen als Einzelstück und nicht Teil eines Zyklus. :hello:


    Orage von Bolet überzeugt mich: Das ist sehr gewissenhaft und souverän gespielt, ohne jede Exaltiertheit und virtuose Mätzchen, aber beeindruckend trefflich charakterisiert. Bolet zeigt: Man kann dieses Stück auch eher "undämonisch" spielen, ohne seine Dramatik zu unterschlagen.


    Herzlich grüßend aus dem sommerlich heißen Bielefeld
    Holger

  • Zitat Holger Kaletha

    Zitat

    Das ist interssaant, dass Du Bolet als zu schnell empfindest. Wenn man die Zeiten vergleicht, ist er nämlich der "langsamste" :) : Korstick 3.33, Berman 3.35, Cziffra 3.36, Fiorentino 3.46, Brendel, Lortie und Horowitz alle 3.48, Bolet 3.51. Ich finde Bolet spielt hier einmal wirklich untadelig - das Allegretto grazioso trifft er sehr genau. Vielleicht kommt Dein Eindruck einer etwas fehlenden Dolce-Weichheit und leichten Unruhe auch von den Eigenarten des Bechstein-Flügels. Der Bechstein-Ton ist etwas "gläsern" - im Obertonbereich hat ein Steinway einfach mehr zu bieten und kann im Diskant mehr zaubern. Bolet bemüht sich schon, tranquillo zu spielen


    Lieber Holger,
    mich bereichert unser Liszt-Austausch sehr und ich habe eine riesige Freude daran. Ich hatte gar nicht nach den Spielzeiten geschaut: interessant wie unterschiedlich man das empfinden kann. Nach Deinen Zeilen habe ich eben noch einmal nachgehört: möglicherweise kommt die von mir "bemängelte" fehlende Weichheit vom Instrument, aber vielleicht geht sie auch auf die Idee Bolets zurück, die Eigenschaft des Wasser zu charakterisieren. Und dann habe ich seinen Ansatz etwas mißverstanden: "In säuselnder Kühle / beginnen die Spiele / Der jungen Natur": warum sollte eine Kühle denn kühl gespielt werden? Das war mein Gedankenfehler. Betont man nämlich Zeile zwei und drei, nämlich das beginnende Spiel der jungen Natur, ist das immer zu einem gewissen Grad von Unruhe geprägt und muß das auch sein, liegt hier doch der Anfang allen Seins. Meine Kritik geht in diesem Fall also vielleicht auch einfach auf ein gewisses Missverständnis der Zeilen zurück. Bei Korstick hatte ich das noch besser verstanden.


    Orage
    Das ist natürlich nicht ganz die Urgewalt in c-moll eines Michael Korstick, die Bolet hier entfesselt, aber ein äußerst spannungsreiches Spiel, dem presto furioso wird er ganz und gar gerecht. Den dynamischen Spannungsaufbau kann Bolet sogar noch mehr ausreizen als Korstick, weil dieser zu Beginn ein gewaltiges ff hinlegt, das kaum steigerungsfähig ist. Zeichnet Korstick die Urgewalt der Natur nach, die sich durch das ganze Stück hindurch zusammen entläd, klingen bei Bolet noch eher die einzelnen Komponenten durch (tosender Wind der Oktavsprünge, krachende Blitze der Akkorde und düstere Donnergrollen) durch. Meine einzige kleine Kritik: im meno Allegro Teil spielt Bolet das fff nicht aus, kann hier nach meinem Eindruck nicht genug steigern, ließe er er hier zudem noch ein klein wenig langsamer angehen, wäre das Spiel noch spannungsreicher geworden. Fantastisch ist dann jedoch, wie Bolet das Gewitter im zweiten Teil in der Ferne mit einem leichten Grollen und den immer noch sichtbaren (=hörbaren) aufzuckenden Blitzen abschwellen läßt, nur um zum Schluß noch einmal einen Teil der gewaltigen Natur aufs Neue zu entfesseln. Aber das ist bisher das Beste Stück dieses Zyklus.


    Vallée d’Obermann
    Hier sind imO Höhen und leichte Tiefen zu verzeichnen. Der Beginn "packt" ich nicht recht, klingt für mich zu distanziert, nüchtern. Das sind erst einmal - wenn überhaupt - geringe Zweifel, erst im sotto voce wird die Stimmung evoziert, welche die vorangestellten Zitate einfordern. Im più lento verstehe ich nicht recht, warum er die Klammern nicht berücksichtigt, zudem scheint er die zweite Akkordfolge noch einmal dynamisch abzustufen, fast in den pp Bereich. Bei Tempo I folgt wieder der vergleichsweise nüchterne Klavierton, der auch im dolcissimo zum Tragen kommt und mich etwas stört. Vom feinsten sind dagegen die pesante-Takte: hier wird die Abgründigkeit, die Verzweiflung, die zuvor noch nicht durchbrach, richtig hörbar. Auch die folgende dolcissimo-Passage ist ganz nach meinem Geschmack, süß, aber nicht allzu süßlich. Hier gelingt Bolet im più appassionato Teil ein mitreißender Gefühlsausbruch. Stark ist dann auch der presto Teil, in dem er auf dem fff wirklich die dynamische Spitze zu setzen vermag. Gut gefällt mir der Schluß, der kein Virtuosenstück wird, das empöre animato wird durch das Innehalten vor den letzten Takten (Fermate) eingefangen, auch wenn diese vielleicht noch ein wenig mehr ausgekostet hätte werden können, aber es wohnen dem Spiel tatsächlich Zweifel inne, die ihm eine große Glaubhaftigkeit verleihen. Mein Fazit: mit dem ersten Teil trifft Bolet mein Hörempfinden nicht und verliert mich auch während des Stückes in einigen Passagen. Dafür kann er mit einem sehr guten Schlussteil aufwarten.


    Mit herzlichem Gruß
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)


  • Franz Liszt: Années de pèlerinage
    Premiere année: Suisse
    Aldo Ciccolini, Klavier
    AD: September und Oktober 1961


    1. La chapelle de Guillaume Tell (6:33 min.):


    Das Stück gefällt mir ausnehmend gut, die wunderbaren Akkorde, die Ciccolini mit viel Kraft erfüllt, aber auch wunderschöne lyrische Stellen lassen der Vorstellungskraft viel Raum, und irgendwo konnte ich auch den Bogen spannen zu den Glockenschlägen aus Le retour aus "Les Adieux von Beethoven.


    2. Au lac de Wallenstadt (2.39min.):


    Ein wunderschönes lyrisches Stück, das die Phantasie ebenfalls auf die Reise schickt. Man sieht sogleich den lieblichen See vor sich, in dessen kleinen gekräuselten Wellen sich die Sonne spiegelt.


    3. Pastorale (1:35 min.):


    In einem ersten Eindruck denke ich an einen Hirten, der an eben diesem idyllischen See auf der Wiese bei seinen Schafen weilt, die man im Hintergrund herumspringen hört, und dessen Gedanken in dieser schönen Landschaft, bei diesem schönen Wetter, ebenfalls auf die Wanderschaft gehen. Ein, wie ich finde, sehr konzentriertes Stück, das in seiner Kürze sehr viel aussagt.


    4. Au bord d'une source (3:11 min.):


    Ein viertes Szenario in dieser prächtigen Schweizer Gebirgslandschaft, das dem Pilger auf seiner langen Reise begegnen kann, ein Gebirgsquell, der sich seinen Weg bahnt auf dem Weg ins Tal, mal langsam, mal schnell, mal in der Sonnen glitzernd, mal über steinige Wege spritzend voranstrebt und dem müden Wanderer auch Labsal bedeutet.


    Diese Empfindungen und Vorstellungen haben sich mir beim Anhören dieser ersten vier Charakterstücke aus dem ersten Jahr eingefunden.
    Ich habe das erste und zweite Jahr schon einmal am Stück mit Alfred Brendel auf Classica gehört und gesehen und war damals sehr angetan davon. Aber aus Beethovenschen Gründen habe ich es wieder etwas aus den Augen verloren. Als aber dieser Thread aufkam, habe ich mir gedacht, da müsste ich auch mal einsteigen, und da ich einen großen Teil des zweiten Jahres von Alfredo Perl habe und die ganzen Années von Aldo Ciccolini, habe ich mir die ersten vier Stücke heute mal von Ciccolini angehört, der hier ähnlich wie bei den Beethoven-Sonaten zeigt, welch lyrisches Potential er hat, aber dass er (im ersten Stück) auch zeigt, dass er zugriefen kann.


    Ich werde mich mal zwischendurch wieder mit kurzen Eindrücken von den weiteren Stücken zu Wort melden. Damit ich aber auch den von Holger so vielgerühmten Lazar Berman mal kennen lerne, habe ich mir seine Gesamtaufnahme auch gleich mal bestellt.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Zitat William B. A.

    Zitat

    Ich werde mich mal zwischendurch wieder mit kurzen Eindrücken von den weiteren Stücken zu Wort melden. Damit ich aber auch den von Holger so vielgerühmten Lazar Berman mal kennen lerne, habe ich mir seine Gesamtaufnahme auch gleich mal bestellt.


    Wie schön, lieber Willi, daß Du auch in diesem thread aktiv werden möchtet. Ich freue mich sehr! Ich habe über den Liszt, zu dem ich meine Jugendliebe wiederentdeckte, Beethoven ein wenig vernachlässigt :(.
    Den Kauf der Berman-Aufnahme wirst Du sicher nicht bereuen,ich habe seine Années, damit bin ich quasi groß geworden, den erst der Box kenne ich allerdings nicht. Brendel ist auch ganz wunderbar und hat nach meinem Empfinden einige Stücke referenzverdächtig interpretiert, Ciccolini kenne ich nicht.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Zu Ciccolini bin ich durch Johannes gekommen, lieber Jörn. Ciccolini ist ein wunderbarer Pianist und hat mir schon mit seinen Beethoven-Einspielungen viel Freude bereitet, und was ich bisher von Liszt von ihm gehört habe, hat mich auch sehr angesprochen.
    Wenn du sagst, dass du wegen Liszt Beethoven etwas vernachlässigt hast, macht das nichts. Wir sind ja allesamt nicht auf der Flucht. Es würde nichts schaden und manchem äußerst gut tun, mal diese wunderbaren Pianisten zu hören und ihre Gelassenheit zu erleben und die Zeit, die sie sich nehmen um, uns diese wunderbaren Aufnahmen und die tiefen Erlebnisse mit ihnen zu schenken. Ich glaube, es schadt auch nichts, wenn ich in der eben begonnenen Art zunächst einmal meine Eindrücke von Ciccolinis GA in dieser kurzen Form schildere, bevor ich mir die Noten besorge. Übrigens werden am großen Urwaldfluss die Noten von Henle angeboten. Das ist glaube ich Urtext. Würdest du mir da zuraten?


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Zitat William B. A.

    Zitat

    Wenn du sagst, dass du wegen Liszt Beethoven etwas vernachlässigt hast, macht das nichts. Wir sind ja allesamt nicht auf der Flucht. Es würde nichts schaden und manchem äußerst gut tun, mal diese wunderbaren pianisten zu hören und ihre Gelassenheit zu erleben und die Zeit, die sie sich nehmen um, uns diese wunderbaren Aufnahmen und die tiefen Erlebnisse mit ihnen zu schenken. Ich glaube, es schadt auch nichts, wenn ich in der eben begonnenen Art zunächst einmal meine Eindrücke von Ciccolinis GA in dieser kurzen Form schildere, bevor ich mir die Noten besorge. Übrigens werden am großen Urwaldfluss die Noten von Henle angeboten. Das ist glaube ich Urtext. Würdest du mir da zuraten?


    Das hast Du schön gesagt, lieber Willi, wir sind nicht auf der Flucht und sich die Ruhe zu nehmen, einfach einmal in vielen wunderschönen Aufnahmen zu schwelgen, das ist ganz wichtig. Es gibt ja ganz verschiedene Möglichkeiten, sich der Musik zu widmen. Ciccolini steht auf meiner langen Wunschliste der Pinassen, die ich gern näher kennenlernen möchte.
    Ich empfinde es im Übrigen als große Stärke des Forums, das von persönlichen Eindrücken bis zu ausgefeilten Analysen alles dabei ist. Die Henle-Urtext-Ausgabe kann ich bedenkenlos empfehlen. Ansonsten sind einige Ausgaben auch in digitaler Form im Netz als Digitalisat vorhanden.
    Ich höre die Années erst jüngst etwas häufiger mit Noten.


    Herzliche Grüße zum Sonntagabend sendet Dir
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Ich werde mich mal zwischendurch wieder mit kurzen Eindrücken von den weiteren Stücken zu Wort melden. Damit ich aber auch den von Holger so vielgerühmten Lazar Berman mal kennen lerne, habe ich mir seine Gesamtaufnahme auch gleich mal bestellt.

    Lieber Willi,


    das wirst Du nicht bereuen! :) (Das Erscheinen der Box hat sich etwas verspätet, ich muß sie auch noch bestellen...!) Es freut mich sehr, dass Dich ebenfalls die Begeisterung für diesen wunderbaren Liszt-Klavierzyklus gepackt hat. Hier sieht man wirklich das große Potential des Komponisten Liszt und er ist für mich der Inbegriff der romantischen Idee der Einheit aller Künste. Ciccolinis Aufnahme habe ich auch noch nicht ganz durchgehört - meine Besprechung von Band 1 findest Du in Beitrag 21! :hello:


    Und dann habe ich seinen Ansatz etwas mißverstanden: "In säuselnder Kühle / beginnen die Spiele / Der jungen Natur": warum sollte eine Kühle denn kühl gespielt werden?

    "Säuselnde Kühle" ist schon gut getroffen von Liszt, finde ich - das Rieseln des Wassers und die Tonfarbe - impressionistische Qualitäten. Eine beeindruckende Aufnahme habe ich gestern auf youtube entdeckt - von Eugen d´Albert, einem der berühmtesten Liszt-Schüler. Hier merkt man die Leidenschaft und Sehnsucht, den "sentimentalischen" Zug im Sinne von Schillers Unterscheidung naiv/sentimentalisch: romantische Sehnsucht nach der verlorenen Natur:



    Von Claudio Arrau gibt es eine historische Aufnahme von 1928 - er studierte bei Martin Krause, der ebenfalls ein Liszt Schüler war. Sehr poetisch und ungemein souverän - aber gespielt mit der Klarheit und Gefaßtheit eines klassischen Beethoven:



    Auf Youtube gibt es auch diese Aufnahme zu hören:



    Ebenfalls sehr hörenswert ist die Aufnahme von Solomon aus dem Jahr 1930 - mit kräftigem Ton in junonischer Nüchternheit ohne jegliche Sentimentalisierungen vorgetragen:




    Vallée d’Obermann
    Hier sind imO Höhen und leichte Tiefen zu verzeichnen. Der Beginn "packt" ich nicht recht, klingt für mich zu distanziert, nüchtern. Das sind erst einmal - wenn überhaupt - geringe Zweifel, erst im sotto voce wird die Stimmung evoziert, welche die vorangestellten Zitate einfordern. Im più lento verstehe ich nicht recht, warum er die Klammern nicht berücksichtigt, zudem scheint er die zweite Akkordfolge noch einmal dynamisch abzustufen, fast in den pp Bereich. Bei Tempo I folgt wieder der vergleichsweise nüchterne Klavierton, der auch im dolcissimo zum Tragen kommt und mich etwas stört. Vom feinsten sind dagegen die pesante-Takte: hier wird die Abgründigkeit, die Verzweiflung, die zuvor noch nicht durchbrach, richtig hörbar. Auch die folgende dolcissimo-Passage ist ganz nach meinem Geschmack, süß, aber nicht allzu süßlich. Hier gelingt Bolet im più appassionato Teil ein mitreißender Gefühlsausbruch. Stark ist dann auch der presto Teil, in dem er auf dem fff wirklich die dynamische Spitze zu setzen vermag. Gut gefällt mir der Schluß, der kein Virtuosenstück wird, das empöre animato wird durch das Innehalten vor den letzten Takten (Fermate) eingefangen, auch wenn diese vielleicht noch ein wenig mehr ausgekostet hätte werden können, aber es wohnen dem Spiel tatsächlich Zweifel inne, die ihm eine große Glaubhaftigkeit verleihen. Mein Fazit: mit dem ersten Teil trifft Bolet mein Hörempfinden nicht und verliert mich auch während des Stückes in einigen Passagen. Dafür kann er mit einem sehr guten Schlussteil aufwarten.

    Da bin ich ähnlich hin- und hergerissen wie Du, lieber Jörn! Bei Vallee d´Oberman zeigt sich der "Aristokrat" Bolet - seine Noblesse. Die Exaltiertheit, all die sentimentalische Überspanntheit nimmt er aus dem Stück heraus. Das Thema klingt eher nach nobel-geschmackssicherem Chopin als Liszt! :) Aber beeindruckend ist diese "Transposition" trotzdem: wie Bolet nämlich die groß angelegten dynamischen und auch dramatischen Entwicklungen herausarbeitet mit "langem Atem", Expressivität als Resultat einer zielgerichteten Bewegung emotionaler Steigerung. Ein geschlossenes Konzept, beeindruckend vorgetragen, das allerdings eher Brücken über die nihilistischen Abgründe baut, als in sie hineinzuschauen. Kein horror vacui also, sondern einfühlsame Expressivität. :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

  • P.S. Ich habe auch noch diesen Richter-Mitschnitt von Au bord d´une source aus Moskau 1958 (und sehe gerade, dass ich glatt vergessen habe, das da auch vom selben Konzert eine Aufnahme der Pathetique drauf ist, die "Sammlerkrankheit" - man weiß nicht mehr, was man hat :D ):



    Richter nimmt die Wasserspiele Richter-typisch konzentriert-gespannt und sehr flüssig - man erinnert sich an seine packend geschwinde Aufnahme von Ravels Jeux d´eau aus der Carnegie-Hall - obwohl das "schnelle" Tempo hier mehr gefühlt ist, er braucht nämlich 2.57 min.! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Zitat Holger Kaletha

    Zitat

    Die Exaltiertheit, all die sentimentalische Überspanntheit nimmt er aus dem Stück heraus. Das Thema klingt eher nach nobel-geschmackssicherem Chopin als Liszt!


    Das ist ein schöner Vergleich, lieber Holger. Interessant fand ich, daß dieser Ansatz zumindest partiell funktioniert. Die Einspielung hat mich in einigen Teilen schon überzeugt, aber letztlich steht das noble Spiel den seelischen Tiefen, die das Stück aufweist, zu sehr entgegen. Da gefiel mir der radikalere Ansatz von Korstick doch besser.


    Mit herzlichem Gruß
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Nun greife ich mal vor - weil ich heute ein bisschen Zeit habe... :)


    Von Vallee d´Oberman geht es bei Bolet fließend über in die Eglogue. Sicher, schlicht ist das gespielt. Aber Natur bedeutet in der Romantik eben auch die Beschwörung eines Naturschönen. Da fehlt bei Bolet doch so etwas wie Aura, das Betörende des Einfachen, welches einen Rousseau-Jünger verzaubern und zum Träumen bringen kann. Mit ist das zu bieder sorgfältig. Vielleicht wirkt sich hier auch der Bechstein-Flügel unvorteilhaft aus. Die Stärke dieses Flügels ist die "Tiefe" - der dynamische Aufbau vom Baß zum Diskant, da hat er mehr Spanne als ein Steinway zu bieten. Wenn es aber um den mehr linearen Gesangszauber geht, dann wirkt sich diese Plastizität eher ernüchternd aus. Wie man dieses schlichte Stück die innere Komplexität entfaltend in eine magische Traumwelt des Schönen verwandeln kann, zu einer Apotheose des Naturschönen , das zeigt ein schier unglaublicher Konzertmitschnitt, der hier nicht unerwähnt bleiben darf: Arturo Benedetti Michelangeli zelebrierte Eglogue geradezu als Zugabe in Bregenz nach den Debussy-Preludes Heft II: magisches Klavierspiel wie von einem anderen Stern!


    Dieser Mitschnitt ist wohl aus Wien und noch schwelgerischer (mit von ABM als Vorerinnerung an Debussy umkomponiertem Schluß :) ):



    Le mal du pays gehört zu den schwächsten von Bolet.: Den Lento-Beginn ignoriert der Meister im flüchtig überhasteten Tempo. Ansonsten ist das ein schön gespieltes Liedchen - von aufwühlendem Trennungsschmerz keine Spur. Les cloches de Geneve ist zwar sorgfältig gespielt - es fehlt jedoch jegliche Begeisterung. Als Kontrast dazu kann man eine wahrlich phänomenale Aufnahme hören, die den Hörer geradezu betört - ein Konzertmitschnitt von Gregory Ginsburg aus Moskau 1954:



    Es beginnt mit einem dämonisch realistischen Glockenspiel - man erschreckt förmlich bei den Baßglocken (von Liszt mit Akzent versehen), ein "materieller", erdig schwerer Glockenschlag als Gruß aus dem orthodoxen Rußland. Ginsburg spielt die Harfenmelodik wirklich einmal Cantabile con moto wie es bei Liszt geschrieben steht. Die Melodie steigert sich zu einem Rausch - wobei Ginsburgs höchst delikate Anschlagskultur hervorzuheben ist - in den leisen Passagen ist das zauberhaft gespielt. Eine wirklich tief beeindruckende Aufnahme, welche die Leidenschaft in der romantischen Liebe fühlbar werden läßt.


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,
    ich hatte erst heute wieder Zeit, um mich wieder Bolet zu widmen, gebe aber zu, daß ich auch erst noch etwas anderes aus der Box gehört habe (da sind einige Werke, die mir weit besser gefallen als die Années).


    Eclogue – Das sehe ich ein wenig anders als Du lieber Holger: das ist eine schöne, schlichte Hirtenweise, vielleicht einzig eine Spur zu elegant gespeilt für den Eindruck den Ländlichen. Allerdings finde ich, daß die Lieblichkeit des andlebens ab Takt 88 doch zum Klingen gebracht wird, das ist imO gegenüber dem beginn ein deutlicher Unterschied. In der rechten Hand fehlt mir allerdings etwas die Leichtigkeit (viel besser gefällt mir hier die linke Hand ab Takt 65 f.), das spielt Bolet in einem riesigen Legatobogen, anstelle die Bögen voneinander abzusetzen.


    Le mal du pays – Hier sind wir uns wieder sehr einig. Das ist leider nicht wirklich passend gespielt. Viel zu flott begonnen, gerät er beim accellerando in Temponot. Außerdem ignoriert Bolet das Frage-Antwort Spiel im f-p: dadurch gelingt ihm kein intimer Beginn, der mir so wichtig ist. Es klingt fast so, als habe Bolet Angst, die tiefen Gefühle zuzulassen: er spielt zunächst darüber hinweg. Besser fängt er die Stimmung imO erst im Adagio dolente ein, auch wenn erst zum Ende hin ein echtes espressivo assai ist. Auch hier habe ich das Gefühl, daß Bolet Schwierigkeiten hat, sich in das Stück zu versenken, er benötigt einige Takte um das dem Stück innewohnende Gefühl aufzunehmen und umzusetzen. Das zweite Lento ist imO passender gespielt, aber auch nicht das Optimum, das zweite Adagio dolente leider zu nüchtern.


    Les cloches de Geneve – Das ist sehr klangschön gespielt, der Anfang geradezu in einer bezaubernden Melodieentfaltung über den absteigenden Triolen. Das Glockenmotiv indem linken ist mir allerdings zu schwammig, zu wenig akzentuiert: aber un poco marcato hat Liszt dort notiert. Enttäuschend ist aber leider das folgende Cantabile con moto, das ist einfach schön weitergespielt, aber wo ist die Harfenimitation, die gefordert ist? Und wo bleibt das agitato? Holet bringt das Stück ohne größere Ausfälle zu Ende, aber ohne die Steigerung gegen Ende bringt es in eine gewisse Schieflache gegenüber dem bezaubernden Anfang. Scheinbar traut er sich nicht, den lyrischen Klängen des Anfangs etwas Handfestes am Ende entgegenzusetzen. Und so findet er am Ende leider auch nicht in die Lyrik seiner ersten Takte zurück und läßt das Stück zwar solide wie eine Schweizer Uhr verklingen, hat aber während des Stückes den Nocturne Charakter verloren: schade.


    So, das war der zweite Durchgang. Wir könnten, wenn Du magst beim ersten Zyklus bleiben und uns Cziffra vornehmen oder den zweiten Zyklus von Bolet. Ich bin da ganz frei und würde mir einfach wünschen, daß wir diese lockere Abfolge von Hören und Gegenhören fortsetzen, weil ich riesige Freude daran habe.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Eclogue – Das sehe ich ein wenig anders als Du lieber Holger: das ist eine schöne, schlichte Hirtenweise, vielleicht einzig eine Spur zu elegant gespeilt für den Eindruck den Ländlichen.

    Lieber Jörn, das war bei mir auch eher Nörgeln auf hohem Niveau... Niveau hat Bolet, das muß man ihm einfach lassen! :)



    So, das war der zweite Durchgang. Wir könnten, wenn Du magst beim ersten Zyklus bleiben und uns Cziffra vornehmen oder den zweiten Zyklus von Bolet. Ich bin da ganz frei und würde mir einfach wünschen, daß wir diese lockere Abfolge von Hören und Gegenhören fortsetzen, weil ich riesige Freude daran habe.

    So geht es mir auch! :) Beide Vorschläge gefallen mir! Darüber denke ich noch ein bisschen nach - bin noch ein bisschen unschlüssig. Ich bin allerdings die nächste Zeit viel unterwegs, so dass ich leider wenig Zeit zum Hören habe! Aber uns treibt ja niemand! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat von Holger Kaletha

    So geht es mir auch! :) Beide Vorschläge gefallen mir! Darüber denke ich noch ein bisschen nach - bin noch ein bisschen unschlüssig. Ich bin allerdings die nächste Zeit viel unterwegs, so dass ich leider wenig Zeit zum Hören habe! Aber uns treibt ja niemand! :hello:


    Wie schön, dank denk einfach darüber nach, was Di mehr zusagt. Und natürlich sind wir nicht auf der Flucht, wir setzen diese lockere Folge einfach so fort, wie wir Zeit haben.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

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