Hugo Wolf und Goethe

  • Visionäre Entrückung wird in diesem Lied musikalisch imaginiert. Die Musik folgt jenem Weg von der „schönen Erde“ hinab in das „tiefe Haus“ und leuchtet dabei mit ihrer Melodik und einem in seiner Struktur komplexen Klaviersatz alle Bilder aus, die sich dabei im lyrischen Ich einstellen, wobei die des „realen Lebens“ sich mit jenen vermengen, die aus der Vision eines paradiesischen Lebens kommen. Und das Große an diesem Lied ist, dass diese Bilder alle ihre je eigene Musik finden. Sie will aus dem a-Moll, das ihr vorgegeben ist, immer wieder heraus, pendelt zwischen Dur und Moll hin und her, ergeht sich phasenweise in B-Dur, wird aber ins a-Moll wieder zurückgeholt, bis sie am Ende, jedenfalls mit der Harmonisierung der Melodik, in leuchtendem A-Dur landet. Das Nachspiel holt sie freilich wieder ins a-Moll zurück. Wie ist das zu verstehen?


    „Sehr langsam und zart“ soll das Lied vorgetragen werden. Es setzt im Klaviersatz mit einem aus Terzen und Sexten gebildeten akkordischen Motiv ein, das in seiner melodisch fallenden Struktur dem Lied seinen klanglichen Grundcharakter verleiht. Es prägt die Begleitung der Singstimme in vielfältig modifizierter Form durchgehend, taucht auch mal wieder in seiner anfänglichen Gestalt auf und erklingt schließlich auch im Nachspiel. Und nicht nur dies: Es prägt sich über weite Strecken auch der melodischen Linie der Singstimme ein, die wirkt, als würde sie sich ihm anschmiegen und könne sich aus dieser Bindung nur vorübergehend lösen.


    Gleich am Anfang, bei den Worten „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ ist dieses Sich-Einfügen der melodischen Linie der Singstimme in den Klaviersatz zu vernehmen. Pianissimo setzt sie auf einem hohen „c“ ein und folgt bei ihrem Weg hinunter zu einem tiefen „e“ genau der Abwärtsbewegung der Akkorde im Diskant. Es ist in ihrer durchgängigen Moll-Harmonisierung und in der Dominanz der fallenden Linie eine klanglich von Ergebung in das Schicksal und sanfter Trauer geprägte Melodik, die da in der ersten Strophe aufklingt. Freilich gibt es in der melodischen Linie auch Andeutungen von Entschiedenheit. Man vernimmt sie bei der zweiten Versgruppe der ersten Strophe. Zwar ist die Grundstruktur der Vokallinie hier noch immer eine fallende, es gibt darin aber immer wieder einmal partielle Aufwärtsbewegungen, und am Ende ereignet sich sogar zu dem lyrischen Wort „Haus“ hin ein mit einer harmonischen Rückung, in der kurz ein Dur aufklingt, verbundener Quintsprung mit nachfolgender Dehnung.


    Mit dem ersten Vers der zweiten Strophe kommt eine gewisse Statik in die Struktur der melodischen Linie. Sie neigt dazu, auf einer tonalen Ebene zu verharren und weicht davon in silbengetreuer Deklamation zunächst nur um Sekunden nach oben und unten ab, bis sich dann der mit den Worten „frische Blick“ verbundene doppelte Sekundsprung mit nachfolgender Dehnung ereignet, der klanglich wie eine Befreiung aus den Zwängen der Moll-Harmonik wirkt. Das Lied wendet sich nach B-Dur hinüber, und das ist auch von der Metaphorik her angemessen: Das lyrische Ich lässt in seiner Imagination alles, was es im Augenblick an irdischer Kleidung trägt, zurück. Bemerkenswert aber: Im letzten Augenblick, bei dem Wort „zurück“ nämlich, schleicht sich das a-Moll wieder in die Harmonik der Vokallinie ein. Holt die reale Welt die Visionen des lyrischen Ichs wieder ein?


    „Sehr leise“ (Anweisung) setzt die Singstimme mit dem ersten Vers der dritten Strophe ein. Das Klavier lässt wieder das fallende Terz-Sextakkord-Motiv erklingen, und die melodische Linie schmiegt sich, wie am Liedanfang, in diese Bewegung ein. Beim zweiten Vers macht sie jedoch am Ende (bei dem Wort „Weib“) einen Quartsprung mit Dehnung, der eine Öffnung für das mit sich bringt, was im dritten Vers mit der Konjunktion „und“ eingeleitet wird: Die Vision des „verklärten Leibs“. Mit einem ausdrucksstarken Sextfall bei dem Wort „keine“ und einer langen melodischen Dehnung auf dem Wort „umgeben“ wird sie musikalisch akzentuiert.


    Mit der letzten Strophe steigert sich die Expressivität des Liedes von Vers zu Vers, bis sie beim letzten ihren klanglich überaus beeindruckenden Höhepunkt erreicht. „Mit immer gesteigertem Ausdruck“, so lautet denn auch hier die Vortragsanweisung. Tonrepetitionen prägen die melodische Linie der Singstimme, wobei der Steigerungseffekt nicht nur dadurch zustandekommt, dass in insistierender Weise auf einer tonalen Ebene deklamiert wird, sondern auch dadurch, dass diese von Vers zu Vers um eine Sekunde und einmal um eine Terz angehoben wird, und dabei ein Crescendo auf das andere folgt. Bei dem Wort „genung“ am Ende des zweiten Verses tritt ein Augenblick der Ruhe in Gestalt einer Dehnung in die Vokallinie, die sich in einer Abfolge von Achteln aufwärts bewegt. Dehnungen dienen auch dazu, lyrisch bedeutsame Worte besonders zu akzentuieren, - „Kummer“ und „altert“ nämlich.


    Bei dem Wort „frühe“ am Ende des dritten Verses macht die melodische Linie zwar einen kleinen Sekundfall, der dient aber nur dazu, dem Terzsprung zu einem hohen „ges“ bei dem Wort „macht“ eine um so stärkere klangliche Expressivität zu verleihen. Die Singstimme hat jetzt den Forte-Bereich erreicht. Im weiteren Verlauf der Deklamation bleibt sie zunächst auf diesem hohen „ges“, macht aber bei dem Wort „ewig“ einen überaus ausdrucksstarken doppelten Sekundfall mit Dehnung. Das Wort wird auf diese Weise melodisch stark hervorgehoben. Und als wäre der Expressivität noch nicht genug, ereignet sich auf seiner letzten Silbe ein Oktavfall zu dem Wort „jung“ hin, der mit einer harmonischen Rückung nach A-Dur verbunden ist.


    Dem innigen Wunsch des wieder Jung-Werdens wird mit diesen melodischen Mitteln und der ungewöhnlichen harmonischen Rückung auf höchst beeindruckende Weise musikalischer Ausdruck verliehen. Freilich ist da ein kleines Decrescendo in der Vokallinie. Drückt sich darin Zweifel an der Erfüllbarkeit des Wunsches aus? Das Nachspiel mit seinen a-Moll-Figuren verstärkt diesen Eindruck.


    (der zugrundeliegende lyrische Text findet sich mitsamt Kommentar am Ende der vorangehenden Seite!)

  • Auch bei diesem Lied soll ein vergleichender Blick auf die Vertonungen durch Franz Schubert und Robert Schumann geworfen werden. Dies, wie bei den vorangegangenen Mignon-Liedern, unter der zentralen Frage nach den Unterschieden in der Umsetzung des lyrischen Textes in Musik und das darin sich niederschlagende Verständnis der literarischen Gestalt „Mignon“. Eine ausführliche Besprechung des Schubert-Liedes wurde soeben im Thread „Schubert und Goethe“ eingestellt.


    Schubert hat sich bei seiner Vertonung dieses lyrischen Textes für die Form des variierten Strophenliedes entschieden, und er entfaltet darin eine einfache diatonische Melodik. Man darf vermuten, dass dahinter wohl die Figur der „Mignon steht“, wie sie sich ihm in diesem Gedicht darstellt: Ein Wesen, das in seinem Wunsch, „von der schönen Erde“ zu eilen, um in der Transzendenz zu verklärter Leiblichkeit zu finden, keine komplexe Melodik mehr braucht, um sich zu artikulieren. Es genügen zwei melodische Grundmotive, die sich in leicht variierter Form auf die vier Strophen des Gedichts verteilen.


    Im nächsten Beitrag soll an dieser Stelle unter Einbeziehung des Liedes von Robert Schumann eine zusammenfassende Betrachtung nachfolgen.

  • Hallo Helmut,


    (aus Beitrag 30) "Doch fühlt ich tiefen Schmerz genung"


    Die Form "genung" anstatt "genug" kommt auch bei Bach vor (BWV 82, Ich habe genung), das heute meist mit "Ich habe genug" betitelt wird.



    Ich habe es immer für einen Flüchtigkeitsfehler Bachs gehalten, aber anscheinend hat es wohl "genung" tatsächlich gegeben. Weißt Du Näheres?

  • Du fragst nach dem Wort „genung“, lieber m-mueller.


    Nein, das ist kein Schreibfehler Goethes, und es ist auch keine von ihm geschaffene orthographische Variante, - was man vermuten könnte, weil er das als Reimwort zu dem Wort „jung“ im letzten Vers der Strophe benötigt. Auch Schlegel übersetzt aus Reimgründen im „Sommernachtstraum“: „Nun genung! / Fort im Sprung“


    Das Wort hat sich umgangssprachlich im mitteldeutschen Raum entwickelt. Schriftlich nachgewiesen ist es seit dem 14. Jahrhundert. Man findet es aber auch in Franken, im Umkreis des Rheins und vereinzelt auch im oberdeutschen Raum. Dort in den Varianten „genunk“ und „gnunk“: „Daz er (der quell) sehs tag kain wazzer gibt, und am dem sibenden gibt er gar gnunk wazzers“


    Bei Luther ist das Wort mehrfach nachgewiesen, und auch Goethe verwendete es nicht nur in diesem Gedicht. In einem Brief heißt es zum Beispiel über Wieland: „…einen Menschen … der zwar nicht manns genung ist seine (Wielands) Verdienste zu schätzen."


    Für die Sprachforscher ist eine solche lautliche Wandlung eines Wortes nichts Ungewöhnliches. In der Umgangssprache werden immer wieder einmal vor allem sonore Konsonanten an Vokale gehängt. Sie können auch herausfallen. So ist das Wort „Pfenning“ aus „pfenning“ hervorgegangen.


    Aber was dieses Lied von Hugo Wolf hier betrifft:
    Die Art, wie er mit diesem Wort kompositorisch umgegangen ist, zeigt wieder sein immenses Sprachgefühl. Die Singstimme deklamiert die Worte „Doch fühlt´ ich tiefen Schmerz genung“ in Tonrepetitionen auf nur zwei ansteigenden tonalen Ebenen. Bei dem Wort „Schmerz“ weist die melodische Linie eine kleine Dehnung auf, und dann macht sie – eben bei dem Wort „genung““ – einen ausdrucksstarken, weil mit einer harmonischen Rückung verbundenen und in eine Dehnung mündenden Sekundsprung, dem eine Pause folgt. Dieses Wort „genung“ wird auf diese Weise in markanter Weise musikalisch akzentuiert.

  • Lieber Helmut,


    vielen Dank für Deine kenntnisreichen, detaillierten Ausführungen.


    Muß ich mir mal wieder BWV 82 mit "genung" zu Gemüte führen.

  • Schumanns Vertonung dieses Mignon-Liedes ist die neunte, also die letzte in seinem 1849 entstandenen Opus 98a. Das Lied steht in G-Dur, ein Dreiviertel-Takt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Langsam“. Von der Struktur der melodischen Linie her, die, weil sie in ihren Bewegungen immer wieder einmal große Intervalle durchschreitet oder mit Sprüngen überbrückt, erscheint Mignon als ein Wesen, das die Verklärung nicht – wie man das bei Schubert zu hören meint – als einen geheimen Wunschtraum artikuliert, sondern in durchaus expressiver Weise beschwört, - so, als sei die Transzendenz der Ort, wo sie eigentlich hingehört, weil sie dort zu ihrem Wesen findet.


    Schon bei der ersten Melodiezeile ist dieser für das Lied typische melodische Ton zu vernehmen. Nach dem mit G-Dur Akkorden einsetzenden zweitaktigen Vorspiel macht die Vokallinie nach einem kurzen Anstieg zu dem Worte „scheinen“ hin einen verminderten Quintfall und danach noch einmal eine Fallbewegung über eine Quinte, bis dann das Wort „werde“ auf einem gedehnten Sekundfall deklamiert wird. Die Harmonik durchläuft dabei mehrere Modulationen. Wenn man dies im unmittelbaren Vergleich mit dem Einsatz des Schubert-Liedes und seiner diatonisch schwebenden Melodik hört, dann wird der Unterschied im kompositorischen Verständnis dieser Mignon-Gestalt unmittelbar einsichtig.


    Schumann lässt Mignon ihre seelischen Regungen auf immer wieder beeindruckende Weise mit den Mitteln der Melodik zum Ausdruck bringen, gestützt und akzentuiert natürlich auf den jeweils adäquaten Klaviersatz. Er besteht nur an wenigen Stellen aus der Abfolge von Akkorden, zumeist sind es – z.T. triolische – Bewegungen von Achteln, in die zwei- bis dreistimmige Achtelakkorde eingelagert sind. Das, was das Klavier klanglich zur melodischen Linie beizutragen hat, empfindet man als – auch im Zusammenkang mit den harmonischen Modulationen – als Ausdruck der seelischen vielfältigen seelischen Regungen des lyrischen Ichs.


    Bei den Worten „von der schönen Erde“ beschreibt die melodische Linie eine aus einem triolischen Fallen hervorgehende gedehnte bogenförmige Bewegung, die in einen Quintsprung mündet. Der Vers „Dort ruh´ ich eine kleine Stille“ wird, vom Auf und Ab von Achteln im Klavier getragen und in Moll harmonisiert, in Gestalt von Tonrepetitionen auf drei Ebenen deklamiert, und dann folgt bei den Worten „Dann öffnet sich“ („…der frische Blick“) eine forte auf einem hohen „g“ ansetzende Fallbewegung über große Intervalle. Und diese durchaus expressive Fallbewegung wiederholt sich unmittelbar danach (bei den Worten „ich lasse dann die reine Hülle“) noch einmal, wieder forte einsetzend, - dieses Mal von einer harmonischen Rückung begleitet, die in einem lang gehaltenen Es-Dur-Akkord zum Ausdruck kommt. Ohnehin pendelt die Dynamik des Liedes immer wieder zwischen Piano und Forte hin und her: Auch das Ausdruck der starken seelischen Bewegtheit Mignons.


    Auch in diesem Lied setzt Schumann das Mittel der Wiederholung ein, - allerdings nicht in solch exzessiver Weise wie bei „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Der letzten Melodiezeile liegen die Worte zugrunde: „Macht mich auf ewig wieder jung, / auf ewig wieder jung“. Zunächst macht die Vokallinie eine Fallbewegung in Terzen, aus der sie aber gleich wieder in hohe Lagen aufsteigt.. Am Ende aber, bei der Wiederholung der letzten Worte, beschreibt sie, auf dem höchsten Ton des Liedes (einem „a“) ansetzend, höchst ausdrucksstarke und am Ende in eine Dehnung mündende Sprung und Fallbewegungen. Das Wort „jung“ erklingt auf der lange gehaltenen Tonika.


    So viel zu Schumanns Vertonung und dem darin vernehmlichen Verständnis der Gestalt „Mignon“, wie sie sich lyrisch im zugrundeliegenden Gedicht artikuliert. Nun soll hier kein ins Detail gehender Vergleich der Vertonungen durch Schubert, Schumann und Wolf mehr folgen. Sie sind ja alle in detaillierter Weise vorgestellt und beschrieben worden. Deshalb sei die Sache hier in der Attitüde desjenigen, der gleichsam Bilanz zieht, auf den Punkt gebracht, - dem freilich Subjektivität des Urteils innewohnt.


    Schubert lässt seine Mignon eine klanglich faszinierende, diatonisch schwebende Melodie anstimmen, die der Gesang eines in seinem Kern naiven, also zwar leidenden, aber reflexiv ungebrochenen weiblichen Wesens ist, das imaginativ im Begriff steht, von dieser schönen Erde hinab zu eilen und eine Verklärung der leiblichen Existenz zu erfahren. Schumann folgt mit den Mitteln der Melodik allen seelischen Regungen einer reifen Frau, die der Welt mitteilt, wie der Weg aussehen sollte, der sie aus all dem Leiden ihrer realen Existenz in die alle irdischen Hüllen abstreifende Verklärung der Transzendenz führt.


    Was Schumann aber in gleichsam deklamatorischer Weise mitteilt, das setzt Hugo Wolf in eine Musik, die den Hörer an diesem Weg aus der leidvoll-realen Existenz in die imaginative Verklärung klanglich ganz unmittelbar und zutiefst anrührend teilhaben lässt. Will sagen: Kein anderer Komponist hat das Wesen dieser von Geheimnis umwobenen literarischen Gestalt „Mignon“, wie sie einem in dieser ihrer letzten lyrischen Äußerung begegnet, so vollkommen musikalisch erfasst wie Hugo Wolf in diesem Lied. In ihm wird die visionäre Entrückung, von der der lyrische Text spricht, musikalisch imaginiert. Die Musik folgt jenem Weg von der „schönen Erde“ hinab in das „tiefe Haus“ und leuchtet dabei mit ihrer Melodik und einem in seiner Struktur komplexen Klaviersatz alle Bilder aus, die sich dabei im lyrischen Ich einstellen, wobei die des „realen Lebens“ sich mit jenen vermengen, die aus der Vision eines paradiesischen Lebens kommen.

  • Singet nicht in Trauertönen
    Von der Einsamkeit der Nacht;
    Nein, sie ist, o holde Schönen,
    Zur Geselligkeit gemacht.


    Wie das Weib dem Mann gegeben
    Als die schönste Hälfte war,
    Ist die Nacht das halbe Leben,
    Und die schönste Hälfte zwar.


    Könnt ihr euch des Tages freuen,
    Der nur Freuden unterbricht?
    Er ist gut, sich zu zerstreuen,
    Zu was anderm taugt er nicht.


    Aber wenn in nächt´ger Stunde
    Süßer Lampe Dämmrung fließt,
    Und vom Mund zum nahen Munde
    Scherz und Liebe sich ergießt;


    Wenn der rasche lose Knabe,
    Der sonst wild und feurig eilt,
    Oft bei einer kleinen Gabe
    Unter leichten Spielen weilt;


    Wenn die Nachtigall Verliebten
    Liebevoll ein Liedchen singt,
    Das Gefangnen und Betrübten
    Nur wie Ach und Wehe klingt:


    Mit wie leichtem Herzensregen
    Horchet ihr der Glocke nicht,
    Die mit zwölf bedächt´gen Schlägen
    Ruh und Sicherheit verspricht!


    Darum an dem langen Tage
    Merke dir es, liebe Brust:
    Jeder Tag hat seine Plage,
    Und die Nacht hat ihre Lust.


    Dieses „Liedchen“ geht aus einem Gespräch hervor, das Wilhelm im zehnten Kapitel des fünften Buches mit Philine führt. Dabei geht es um die Mühen, die die Schauspieler mit der Aufführung einer Hamlet-Inszenierung haben. Philine hält diesen Aufwand für unnötige Aufwand und argumentiert mit einer Metapher: „Macht doch in Gottes Namen nicht so viele Umstände! Die Gäste, die vom Tisch aufstehen, haben nachher an jedem Gericht etwas auszusetzen; ja, wenn man sie zu Hause reden hört, so ist es ihnen kaum begreiflich, wie sie eine solche Not haben ausstehen können.


    Wilhelm hält dagegen: „Aber kein Genuß ist vorübergehend; denn der Eindruck, den er zurückläßt, ist bleibend, und was man mit Fleiß und Anstrengung tut, teil dem Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der an nicht wissen kann, wie weit sie wirkt.“


    Als die Unterhaltung stockt und man gerade auseinandergehen will, fängt Philine eben dieses „Liedchen“ „auf eine zierliche und gefällige Melodie“ zu singen an. Und seine Aussage wird eigentlich erst so recht verständlich, wenn man um die Situation weiß, in der es erklingt. Es ist ein Lobpreis der Nacht, die vom Tag als Zeit der Mühe und „Plage“ abgesetzt wird, - eine Zeit, in der heiterer Scherz, Geselligkeit und Liebe erfahren werden können.


    Das geschieht in einem locker leichten Ton: Vierhebige Verse, im Kreuzreim mit Wechsel von stumpfer und klingender Kadenz verschränkt und von einem dahineilenden trochäischen Rhythmus getragen. Reflexive Brechungen gibt es nicht in diesem hedonistischen Bekenntnis einer sorglos-unbekümmerten Seele.

  • „Leicht und graziös“ soll dieses Lied vorgetragen werden, und in dieser Anweisung drückt sich auch sein Wesen aus. Wolf ergeht sich hier – wie auch in einigen seiner Mörike-Lieder zum Beispiel – in seiner Neigung, dem Geist des Couplets musikalisch zu huldigen. Aber wenn er dies tut, dann geht seinen Kompositionen der Ton geistvoll-kapriziöser Spritzigkeit niemals ab. So auch hier. Das ist kein großes, kein seelische Tiefenregionen musikalisch auslotendes Lied, wie jene auf die Harfner- oder die Mignon-Gedichte. Aber das kann es ja auch gar nicht sein, spricht sich doch hier die „Philine“ aus Goethes „Wilhelm Meister“ aus, - und zwar so, wie das ihrem Wesen als literarische Figur entspricht.


    Wolf hat es mit dem triolisch geprägten Auf und Ab von Achteln und Sechzehnteln des Vorspiels, das am Ende in einen arpeggierten Akkords mündet, großartig eingefangen. Und prompt tauchen diese klanglichen Figuren im Lied immer wieder auf: Als Zwischenspiel nach der ersten, der dritten und der siebten Strophe und im Nachspiel. Wie überhaupt dem Klaviersatz in diesem Lied die entscheidende, seine musikalische Aussage gleichsam konstituierende Funktion zukommt: In der Interaktion mit der melodischen Linie der Singstimme nämlich und in den Kommentaren, die er zu ihrer Aussage zu machen hat.


    Der Geist, der die Melodik dieses Liedes beseelt und prägt, ist schon am Anfang, bei den beiden ersten Versen, zu vernehmen. Es geht sprunghaft auf und ab, den „Trauertönen“ wohnt keine fallende Linie, sondern ein Quintsprung inne, und auch bei der „Einsamkeit der Nacht“ mündet die Fallbewegung der Vokallinie am Ende in einen Sekundsprung. Und hier zeigt das Klavier, was es zu sagen hat. Im Diskant laufen Sechzehntel-Ketten nach oben, der Bass gibt staccato angeschlagene Achtel dazu, und die lyrischen Worte, auf dies es ganz besonders ankommt, werden durch eine bogenartige Kette, die eben dort aufgipfelt, vom Klavier akzentuiert: Es sind die Worte „Einsamkeit“ und „Geselligkeit“.


    Auch das Bild von der „schönsten Hälfte“ (2. Strophe) erhält einen markanten musikalischen Akzent. Auf dem Wort „Hälfte“ liegt eine melodische Dehnung, die in eine triolische Abwärtsbewegung mündet, und im Klaviersatz steigen derweilen Achtel-Akkorde nach oben, verbunden mit subtilen harmonischen Rückungen. Am Ende der Strophe macht die Vokallinie bei den Worten „Hälfte zwar“ einen Quintfall, und im Klavierdiskant perlt aus sehr hoher Lage eine Kette von Sechzehnteln abwärts.


    Die dritte und die vierte Strophe sind in ihrer Faktur mit der ersten und zweiten weitgehend identisch. Die vierte geht dann ohne Zäsur in die fünfte über und bildet mit der sechsten eine musikalische Einheit, an deren Ende wieder die aus hoher Lage abfallende Sechzehntel-Kette erklingt, die man schon von der zweiten Strophe her kennt. Das Klavier unterstützt hier auf klanglich höchst reizvolle Weise die lyrischen Bilder vom „raschen Knaben“, der jetzt „unter leichten Spielen weilt“ und von der „Nachtigall“, die den Verliebten „liebevoll ein Liedchen singt“. Aus dem tiefen Bass hüpfen im Cembalo-Manier staccato angeschlagene Sechzehntel in Doppelschritten in den hohen Diskant, und bei den Worten „liebevoll ein Liedchen singt“, die auf einer in Achteln und Sechzehntel hurtig auf und ab sich bewegenden melodischen Linie deklamiert werden, rauschen Sechzehntel-Triolen in den allerhöchsten Diskant.


    In der letzten Strophe kehrt Ruhe in die melodische Linie ein. In silbengetreuer Deklamation verharrt sie lange auf einer tonalen Ebene und macht erst bei den Worten „liebe Brust“ eine Sprungbewegung. Bei den Worten „Jeder Tag hat seine Plage“ kehrt zwar die alte Munterkeit zurück, bei dem Wort „Plage“ tritt jedoch ein Ritenuto in die Melodik. Zu dem Wort „Nacht“ hin macht die Vokallinie einen Quintsprung zu einem hohen „e“ hin und verharrt dort in einer Fermate. Mit einer schelmisch wirkenden Fall- und Sprungbewegung endet die melodische Linie, und das Vorspiel erklingt nun als Nachspiel noch einmal.
    Ein durchweg heiteres, verspieltes und von einem schelmischen Ton getragenes Lied ist das.

  • Dietrich Fischer-Dieskau meint, die Komposition Wolfs sei „trotz der hingestreuten Gedankenfunken kein ganz überzeugendes Lied“. Und auch der Wolf-Biograph Kurt Honolka scheint nicht so recht angetan davon zu sein, wenn er von einer „eher pretiösen Gesangsstimme“ spricht. Werden solche Urteile dem Lied gerecht?


    Gewiss, es ist keines der großen Lieder von Wolfs Goethe-Opus. Ich vertrat diese Auffassung ja auch, als ich in seiner Besprechung anmerkte: „Das ist kein großes, kein seelische Tiefenregionen musikalisch auslotendes Lied, wie jene auf die Harfner- oder die Mignon-Gedichte“. In dieser Feststellung ist aber auch das Problem angesprochen, um das es bei solchen Urteilen über die Qualität einer Liedkomposition geht. Das Problem ist in seinem Kern das der Kriterien, die dem Urteil zugrunde liegen. Und in diesem speziellen Fall wird deutlich, dass solche Kriterien, einmal abgesehen davon, dass sie, da es um musikalische Ästhetik geht, der Subjektivität ausgeliefert sind, auch gleichsam „umfeldbedingt“ sein können. Damit ist in diesem konkreten Fall der Ort gemeint, an den Hugo Wolf dieses Lied in seinem Goethe-Lieder- Band gestellt hat: Mitten in die Mignon-Lieder nämlich. Statt die vierte Komposition auf ein Mignon-Lied, das berühmteste von allen, „Kennst du das Land“ nämlich, unmittelbar an „So laßt mich scheinen“ anzuschließen, schob er dieses nun gar nicht hierher passende, weil von frivolem Couplet-Geist ganz und gar erfüllte Lied „Philine“ dazwischen.


    Warum? Ich weiß es nicht. Die Entstehungsdaten der Lieder können nicht der Grund dafür sei. Das wäre ohnehin eine gleichsam naive Vorgehensweise, die man dem hochreflektierten Liedkomponisten Wolf gar nicht zutrauen möchte. Das Lied „Philine“ entstand im Zusammenhang mit den drei „Harfenspieler-Kompositionen“ zwischen dem 27. und dem 30. Oktober 1888. Die Mignon-Lieder wurden im Dezember des gleichen Jahres komponiert. Als erstes der Mignon-Lieder entstand „Kennst du das Land“ (am 17.Dezember). Vielleicht, so kann man nur vermuten, schob Wolf das Philine-Lied mitten in die Folge der Mignon-Gesänge, um die Abfolge von bedeutungsschwerer Ernsthaftigkeit ein wenig aufzulockern.


    Was an diesem Lied „Philine“ durchaus beeindruckt, ja besticht, das ist die Art und Weise, wie Wolf mit musikalischen Mitteln diese literarische Gestalt in ihrer vordergründig-lebenslustigen, ein wenig ans Frivole rührenden Leichtfertigkeit charakterisiert hat. Dem Klavier kommt dabei die maßgebliche Rolle zu. Allein schon das fünf Mal erklingende Staccato-Ritornell schafft einen klanglichen Rahmen, der die lyrischen Aussagen auf die Ebene der Koketterie hebt. Immer wieder laufen Sechzehntel-Ketten über staccato angeschlagenen Achteln im Bass auf und ab und suggerieren eine Art Rokoko-Atmosphäre, wobei Wolf durchaus witzig verfährt, wenn er zum Beispiel das Klavier bei den Worten „Einsamkeit der Nacht“ ein „cis“ in hoher Lage acht Mal staccato artikulieren lässt, und das auch noch mit zweimal eingelagertem Vorschlag. Das mutet schon stark wie musikalische Belustigung an. Witzig auch die Art und Weise, wie das Bild vom „raschen losen Knaben“ mit spitz zwischen Bass und Diskant hin und her hüpfenden Staccato-Sechzehntelfiguren kommentiert wird, dann aber, wenn die Nachtigall ihr Liedchen singt, mit einem Mal eine triolische Sechzehntel-Kette in den hohen Diskant rauscht.


    Wolf fühlte sich ganz offensichtlich von dieser literarischen Figur kompositorisch herausgefordert. Auffällig ist, dass Schubert sie bei seinen Liedern zu Gedichten aus „Wilhelm Meister“ ignorierte. Diese Dame muss ihm wohl nicht ganz geheuer gewesen sein.

  • Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
    Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
    Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
    Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
    Kennst du es wohl?
    Dahin! Dahin
    Möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.


    Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
    Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
    Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
    Was hat man dir, du armes Kind, getan?
    Kennst du es wohl?
    Dahin! Dahin
    Möchte ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.


    Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
    Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
    In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
    Es stürzt der Fels und über ihn die Flut;
    Kennst du ihn wohl?
    Dahin! Dahin
    Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!


    Das Gedicht findet sich am Anfang des „Dritten Buches“ des Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, war aber schon in dessen Urfassung, die „Theatralische Sendung“ aufgenommen. Wilhelm hört Mignon dieses Lied singen, und es heißt, dass „Melodie und Ausdruck“ ihm besonders gefallen hätten. Er übersetzt das Lied, das ihm in einem italienischen Dialekt begegnete, aber er konnte „die Originalität der Wendungen nur von ferne nachahmen“, und „die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand“ dabei.


    So klar strukturiert die Strophen in ihrem Aufbau sind, so rätselhaft ist ihre Metaphorik, - vor allem dann, wenn man nach einer Verbindung zwischen ihr unter dem Aspekt sucht, welche Aussage sie über das lyrische Ich, eben diese Mignon, macht. Es ist wohl so, dass diese Rätselhaftigkeit das Wesen dieser Gestalt spiegelt, die in diesem Roman ganz und gar in die Aura des Rätselhaften, Geheimnisvollen und schwer Zugänglich gehüllt ist.


    Die erste Strophe entwirft in meisterhaft prägnanten, weil das Wesen der Sache treffenden lyrischen Bildern das Land der Sehnsucht: Italien. Das sehnsuchtsvolle „Dahin, dahin“ ist hier voll und ganz nachvollziehbar. Bei den Bildern der zweiten Strophe ist das schon weniger der Fall. Die Räumlichkeiten eines „Hauses“, das wohl der Sphäre zugehörig ist, die die erste lyrisch evoziert, - mit einem antiken Einschlag freilich. Marmorbilder stehen im Zentrum. Möchte das lyrische Ich dorthin, weil sie ihm die Frage stellen: „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“, - und es damit seiner Identität vergewissern?


    Was ist nun aber mit den ganz und gar rätselhaften Bildern der dritten Strophe? Man könnte es sich leicht machen und darin den Weg über den Gotthard lyrisch skizziert sehen. Es wäre zu einfach, denn den Bildern wohnt Wildes, Urtümliches und Bedrohliches inne: Das Maultier muss mühsam seinen Weg im Nebel suchen, Fels stürzt, Flut wallt über ihn hin und Drachen wohnen in Höhlen. Warum geht der Weg dieser Mignon dorthin?


    Das Gedicht skizziert lyrisch den Weg einer Identitätssuche. Das dabei angesprochene Du ist aus diesem Grund nicht allein „Geliebter“, - es ist Beschützer und Vater überdies. Es ist Begleiter des lyrischen Ich auf dem Weg der Suche nach sich selbst, die in der Idylle einer südlichen Landschaft das ersehnte Zuhause finden könnte, - wenn sie denn erreichbar ist. Daher dieses immer wiederkehrende Drängen: „Dahin, dahin“. Die Erfahrungen des Gefährlichen, Unwirtlichen und Bedrohlichen müssen als Stationen dieses Weges in Kauf genommen werden.

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  • Das ist eines der großen Goethe-Lieder Hugo Wolfs, - eines, in dem er seine Fähigkeit, lyrisch-sprachlich artikulierte seelische Regungen musikalisch zu erfassen und in all ihren Dimensionen klanglich auszuleuchten, voll entfaltet. Man meint, wenn man diesem Lied hörend begegnet, das zentrale, in Ges-Dur stehende und sich auf der Grundlage des Dreivierteltaktes leicht rhythmisiert entfaltende zentrale melodische Motiv, das schon im Vorspiel aufklingt und von der Singstimme dann übernommen wird, sei der gültige, durch nichts zu ersetzende und übertreffende Ausdruck jener Sehnsucht, von dem Goethes Verse sprechen.


    Das Lied weist einen großen Reichtum an Ausdrucksformen im Bereich von Melodik und Klaviersatz auf. Formal schlägt sich das in den vielen Anweisungen zur Vortragsweise und zum Zeitmaß nieder, das jeweils zugrundeliegt. Dabei reicht die Bandbreite der musikalischen Expressivität von „langsam und sehr ausdrucksvoll“ bis hin zu „Leidenschaftlich hingebend“, und auf dem Feld der Dynamik vom Pianissimo bis zum Fortissimo. Und die letzten Takte des kurzen Nachspiel verklingen „ppp“.


    Man vernimmt in den drei Strophen eine deutlich ausgeprägte Gliederung in jeweils drei Teile: Die Verse „Kennst du es wohl?“, die wiederholt werden, sind in ihrer Faktur von der vorangehenden Vierer-Versgruppe in markanter Weise abgesetzt, und dasselbe gilt für das von dem wiederholten „Dahin“ geprägte letzte Verspaar. Während die melodische Linie der Singstimme und der Klaviersatz bei den ersten vier Versen der drei Strophen jeweils deutlich differieren, bleiben sie – bis auf den Schluss des Liedes – bei den Refrain-Versen im wesentlichen identisch. Dieser Sachverhalt trägt nicht nur zur inneren Geschlossenheit des Liedes bei, er verleiht auch – jeweils rückwirkend – dem, was im Hauptteil der Strophen musikalisch gesagt wird, einen zusätzlichen Akzent.


    Von seelenvoller Zartheit und Eingängigkeit ist die melodische Linie der Singstimme, die auf den ersten vier Versen der ersten Strophe liegt. Der Sekundschritt, der auf dem Wort „das“ („Land“) erfolgt, verleiht dem Sextfall zu dem Wort „o“ hin und der nachfolgenden Deklamation auf dieser tonalen Ebene eine große musikalische Eindringlichkeit, - ebenso die der – fast überraschende – Quintsprung zu dem Wort „blühn“ hin. Das „as“ wird hier lange gehalten und lässt dieses Wort wahrlich klanglich blühen. Auch das zugehörige Reimwort „glühn“ trägt eine melodische Dehnung, - wunderlicherweise auf einem tiefen „b“: Die Singstimme hat bei dem Wort „Goldorangen“ aus einer langen Dehnung auf einem „des“ in hoher Lage einen Fall über eine ganze Oktave vollzogen, um danach weiter zu diesem „b“ herabzusteigen.
    Warum? Es ist genialer musikalischer Ausdruck jenes „Glühens“, das seinem Wesen nach ein stilles, ganz mit sich selbst beschäftigtes Geschehen ist.


    Immer wieder begegnet einem diese kompositorische Genialität in der Gestaltung der Melodik. Die Worte „Ein sanfter Wind“ werden auf einem Ton deklamiert, wobei das Wort „Wind“ eine melodische Dehnung trägt. Sanftheit verträgt keine melodischen Sprünge. Aber wenn mit dem Wort „Himmel“ die Dimension der Höhe ins Spiel kommt, macht die melodische Linie einen Quintsprung mit nachfolgender Dehnung und harmonischer Rückung. Die Melodik öffnet sich für die letzten Bilder. Auch hier wieder wunderbare, den Punkt treffende Melodieführung: Ein nur kleiner Terzsprung beim ersten Bild, denn die Myrte steht ja still, ein doppelt so großer aber beim zweiten, denn der Lorbeer steht „hoch“. Aber weil das ein im Stillen grünendes Gewächs ist, muss die melodische Linie erst einmal um eine ganze Oktave herabsteigen, bevor sie zu dem Wort „steht“ hin einen Sextsprung machen darf.


    Vom Dreiviertel- in den Neunachteltakt wechselt das Lied fast schroff mit dem forte angeschlagenen siebenstimmigen Akkord über, der zu Beginn jenes Teils erklingt, der aus nichts anderem als der Frage „Kennst du es wohl?“ besteht. „Belebt“ und „leidenschaftlich“ lauten hier die Anweisungen. Der Klaviersatz gibt dafür den Ton an: Fallende und wieder steigende Oktaven im Diskant über in der tonalen Höhe permanent wechselnden Achtelakkord-Repetitionen prägen ihn klanglich. Auf dem Hintergrund der Sturzbewegung, die die Oktaven im Diskant machen, und der stürmischen Unruhe, die die Akkord-Repetitionen verbreiten, nimmt sich die melodische Linie der Singstimme, in der die Frage deklamiert wird, eigentümlich ruhig und verhalten aus. Das stellt ein lyrisches Ich eine Frage, die ihm aus der Seele kommt, und das tut es auf einer sich ruhig in Sekunden vollziehenden melodischen Fallbewegung, die sich erst ganz am Ende einen Quartfall mit Terzsprung erlaubt. Schließlich muss der Frage ja Nachdruck verliehen werden.


    Stürmisch aufwärtsdrängende, Bass und Diskant einbeziehende und in der Dynamik sich permanent steigernde Akkorde liefern das Klangbett für die Deklamation der Refrain-Verse: „Dahin, dahin…“. Sie erfolgt in einer Fallbewegung von großen und kleinen Sekunden, die ihre Dramatik daraus bezieht, dass die tonale Ebene, auf der sie sich ereignet, zweimal angehoben wird, bevor dann bei den Worten „O mein Geliebter“ der wie eine Erlösung wirkende Abstieg der melodischen Linie in untere Mittellage erfolgt. Freilich nicht, um dort zur Ruhe zu kommen. Denn das lyrisch Ich will ja „ziehn“. Also muss die Melodik am Ende einen Quartsprung mit nachfolgender Dehnung machen.


    Dramatische Expressivität kennt dieses Lied auch: In der kompositorischen Umsetzung der lyrischen Bilder der dritten Strophe. Der Klaviersatz ist ganz und gar von Tremoli in Bass und Diskant beherrscht, deren klangliche, drängende Unruhe in das Lied bringende Wirkung dadurch gesteigert wird, dass sie kontinuierlich in der Tonhöhe ansteigen und dabei harmonische Modulationen durchlaufen. Auch in die melodische Linie der Singstimme kommen nun mehr Lebhaftigkeit und Dynamik. Sie nimmt in ihren Sprung- und Fallbewegungen größere Intervalle und schreitet auch größere tonale Räume aus. Beim ersten Vers steigt sie in Terzen an und macht zu den Konjunktion „und“ hin einen Quartfall. Vor dem Wort „Nebel“ vollzieht sie einen Sextsprung, verharrt dann in Gestalt einer langen Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes, um bei der zweiten dann einen ausdrucksstarken Oktavfall zu machen und danach (bei dem Wort „Weg“) in große Tiefe herabzusteigen.


    Bei dem Bild vom stürzenden „Fels“ kommt ein Crescendo in die melodische Linie, das sich bei dem Wort „Flut“ bis zum Fortissimo steigert. Es wird zunächst auf der tonalen Ebene eines „c“ in oberer Lage deklamiert, die Worte „Fels und „über“ tragen Dehnungen, wobei die erste eine Terz höher gesungen wird. Zu dem Wort „Flut“ hin macht die Vokallinie bei „ihn die“ zunächst einen Quintfall, dies nur, um den nachfolgenden, mit einer Rückung verbundenen Sextfall nur noch expressiver wirken zu lassen. Ein siebenstimmiges, über zwei Takte gehaltenes Tremolo begleitet die ebenfalls über zwei Takte sich erstreckende Dehnung bei diesem Wort.


    Bei den beiden Schlussversen wandelt Wolf die Faktur der beiden vorangehenden Strophen im Sinne einer Kadenzierung des Liedes ab. Die Worte „Laß uns ziehn“ werden wiederholt, allerdings auf unterschiedlicher melodischer Linie. Beim ersten Mal macht die Singstimme einen Quartsprung mit Dehnung auf dem Wort „ziehn“. Bei der Wiederholung setzt sie in tieferer Lage an und vollzieht zu dem Wort „ziehn“ hin sogar einen Sextsprung. Nun verharrt sie aber nicht auf der tonalen Ebene, die sie damit erreicht hat, sondern macht innerhalb dieses Wortes noch einen Terzfall mit Dehnung.


    Man meint hier zu hören, wie sich der Geist des Aufbruchs Ausdruck verschafft, sich dann aber zurücknimmt, weil das Bewusstsein der realen Situation des lyrischen Ichs diesen Geist zur schieren Sehnsucht werden lässt. Großartig, wie Wolf sich hier in die Gestalt der Mignon musikalisch einfühlt.

  • Dieses Gedicht, das berühmteste und bekannteste unter den lyrischen Äußerungen Mignons in Goethes „Wilhelm Meister“, wurde unzählige Male vertont. Bei meinen – zweifellos dilettantischen – Recherchen bin ich auf vierundfünfzig gestoßen. Das sind aber ganz sicher nicht alle. Auf zwei dieser Vertonungen, nämlich die Vertonungen von Franz Schubert und Franz Liszt, wurde in den entsprechenden Threads schon eingegangen. Die entsprechenden Beiträge finden sich in den Threads „Schubert und Goethe“ (Beiträge 121-123, vom 26./27.12.2013) und „Franz Liszt und seine Lieder“ (Beitrag 50, vom 18.11.2011). Ich erlaube mir, darauf zu verweisen.


    In einem nachfolgenden Beitrag möchte ich, wie ich bei allen Mignon-Liedern verfuhr, unter Einbeziehung der Vertonung durch Robert Schumann den Versuch einer vergleichenden Betrachtung machen. Eigentlich sollte das heute schon geschehen. Aber etwas hat mich davon abgehalten. Es ist eine Erfahrung, die ich nun schon mehrfach machte. Immer wieder einmal, wenn mir der Klick auf das Liedforum signalisierte, dass es darin „Besucher“ gibt, - wo fand ich sie mehrheitlich? Im Thread „Hugo Wolf und Eduard Mörike“!
    Dieser Thread stößt – ausweislich seiner „Zugriffs“-Zahlen – auf deutlich weniger Interesse. Könnte es daran liegen, so frage ich mich, dass es mir nicht gelingt, hier den Geist der Goethe-Lieder Hugo Wolfs so zu vermitteln, wie mir das bei den Mörike-Liedern gelang? Oder sind gar diese Goethe-Vertonungen Hugo Wolfs weniger bekannt und beliebt als jene großartigen und wahrlich singulären auf die Gedichte von Mörike?


    Wie es auch immer sein mag (ich suche eigentlich die „Schuld“ eher bei mir!), - ich habe auf diese Erfahrung in der Weise reagiert, dass ich, statt mich auf die nun anstehende vergleichende Betrachtung des Liedes „Mignon“ einzulassen, eine Betrachtung des Liedes „Mausfallensprüchlein“ verfasste und in den Thread „Hugo Wolf und Eduard Mörike“ einstellte.

  • Einleitend meinte ich zu der Vertonung dieses Mignon-Gedichts durch Hugo Wolf, dass das zentrale, in Ges-Dur stehende und sich auf der Grundlage des Dreivierteltaktes leicht rhythmisiert entfaltende zentrale melodische Motiv, das schon im Vorspiel aufklingt und von der Singstimme dann übernommen wird, mir im Hören des Liedes so begegnet, als sei es der gültige, durch nichts zu ersetzende und übertreffende Ausdruck jener Sehnsucht, von dem Goethes Verse sprechen. Womit ich zum Ausdruck bringen wollte, dass für mich dieses Lied Hugo Wolfs dasjenige ist, das der Aussage dieses lyrischen Textes, seiner sprachlichen Struktur, seiner Metaphorik und der darin sich artikulierenden Gestalt „Mignon“ am meisten gerecht wird. Das ist freilich ein durchaus subjektives Urteil. Und weil dem so ist, sollten hier andere bedeutsame Vertonungen ebenfalls vorgestellt werden, damit eine sachliche Basis für eine Urteilsbildung vorhanden ist. Auf die entsprechenden Fundstellen wurde im vorangehenden Beitrag ja verwiesen.


    Schubert hat ganz offensichtlich in dem als tiefinnerlichen Wunsch und als nachdrücklich geäußerte Bitte artikulierten „Dahin“ das lyrische Zentrum des Gedichts gesehen und sein Lied von daher komponiert. Immerhin konnte er von Goethe ja wissen, dass Mignon das „Kennst du es wohl?“ „geheimnisvoll und bedenklich“ aussprach, die Schlussverse aber „bald bittend, dringend, hurtig und vielversprechend“. Genau dieses will auch der Refrain in Schuberts musikalischer Faktur zum Ausdruck bringen. Und ganz in der Logik des im Grunde ja szenischen Ansatzes dieser Komposition liegt es auch, dass Schubert hier in einem für seine Verhältnisse ungewöhnlich großen Umfang das Mittel der Wiederholung einsetzt und die melodische Linie der Singstimme in arioser Weise weit phrasiert anlegt.


    Liszt geht mit einer grundlegend anderen kompositorischen Intention an dieses Mignon-Gedicht heran, als dies bei Schubert oder Schumann der Fall ist. Ihm geht es darum,
    den affektiven Gehalt eines lyrischen Verses mit musikalischen Mitteln aufzugreifen und zum Ausdruck zu bringen. Aus diesem Grund wird nicht nur die Vokallinie mit großer Emphase in Gestalt von Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle versehen, auch im Klaviersatz wird mit expressiven Mitteln gearbeitet, vom unruhigen Auf und Ab der Achtelfiguren bis hin zu arpeggierten Akkorden. Überdies kommt das Mittel der Wiederholung in geradezu exzessiver Weise zum Einsatz. Herausgekommen ist dabei zwar ein klanglich höchst eindrucksvolles Lied, aber eines, dem die in der musikalischen Bindekraft der Melodiezeile wurzelnde innere Einheit ein wenig fehlt. Es wirkt alles wie aus musikalisch expressiven Einzelelementen zusammengesetzt, - zusammengehalten durch den Klaviersatz, der sich – wie eine Art musikalisches Bindemittel – in den Pausen der Singstimme beharrlich zu Wort meldet.



    Robert Schumanns Liedkomposition auf dieses Gedicht ist das letzte Lied im 1849 publizierten „Liederalbum für die Jugend“ op.79. Die gute Aufnahme in der Öffentlichkeit hat ihn damals, wie man aus einem Brief an Johann August André weiß, dazu ermutigt, „alle Lieder und Gesänge aus Göthes W. Meister“ zu „componiren“.


    Obgleich sich in der Faktur der einzelnen Strophen kleine Varianten finden, handelt es sich hier vom klanglichen Eindruck her um ein Strophenlied. Wahrscheinlich hat ihn die lyrisch-sprachliche Form des Gedichts - mit dem stets gleichen Einleitungs-Vers der Strophen und dem Refrain – dazu bewogen, das Lied strophisch anzulegen. Ohnehin ist es im kompositorischen Ansatz nicht von den lyrischen Bildern, sondern vom Gestus der lyrischen Sprache her komponiert. Das fällt ganz besonders bei der dritten Strophe auf, wenn auf den Worten „In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut“ die gleiche melodische Linie und der gleiche Klaviersatz liegen wie auf den Worten „Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“.


    Sie ist hörbar aus der Semantik dieser zweiten Wortgruppe hergeleitet: Bei dem Wort „sanfter“ steigt die melodische Linie in Terzschritten von Sechzehnteln rasch über mehr als eine Oktave nach oben und macht bei dem Wort „Wind“ eine bogenförmige Fallbewegung von einer Sekunde. Es folgt eine Sechzehntel-Pause. Die Worte „vom blauen Himmel weht“ werden anschließend auf einer melodischen Linie deklamiert, die in hoher Lage in Sekundschritten fällt und wieder ansteigt, wobei das Wort „blauen“ durch einen leicht gedehnten Sekundfall besonders akzentuiert wird. Das Klavier begleitet hier mit triolischen Sechzehntel-Akkordrepetitionen aus Terzen Quarten und Sexten.


    Schumann lässt, wie er es in allen seinen Mignon-Liedern getan hat, diese literarische Gestalt sich melodisch-musikalisch so aussprechen, wie sie ihm romanhaft begegnet ist: Als rätselhaft verschlossenes Wesen, von dem es heißt: „Nur wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schien sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschließen und mitteilen konnte.“. Diese kompositorische Intention steht wohl auch hinter der Tatsache, dass er häufig zu dem Mittel der Textwiederholung greift. Auch hier ist dies der Fall. Die Worte „Kennst du es wohl“ und das „Dahin, dahin…“ des Refrains werden regelmäßig wiederholt.


    Es ist nicht das unter seinem Schicksal still leidende, in seinem Wesenskern aber doch kindlich-naiv gebliebene weibliche Wesen, wie es uns in den Liedern Schuberts begegnet, das Schumann hier – wie auch in seinen anderen drei Liedern – sich musikalisch artikulieren lässt. Es ist die von ihren seelischen Konflikten – auch von der Liebe zu Wilhelm – innerlich tief aufgewühlte, ja zerrissene Frau, die dann aber am Ende in der Vision einer gleichsam transzendenten Existenz zur inneren Ruhe findet. Dass sie diese aber in ihrer realen Existenz noch nicht erreicht hat, das lässt dieses Lied Schumanns schon in seinem viertaktigen Vorspiel vernehmen, in dem die Sechzehntel, vom g-Moll des Anfangs ausgehend, in ihren Bewegungen auf und ab chromatische Modulationen durchlaufen, die harmonisch weit entfernt sind von der Diatonik der Einleitung des Schubert-Liedes.


    Und dieser Nachklang des seelischen Leidens ist auch in der Art und Weise zu vernehmen, wie Mignon bei Schumann diesen lyrisch so zentralen Refrain des „Dahin, dahin“ melodisch deklamiert. Es geschieht forte, auf der klanglichen Basis von größtenteils achtstimmigen triolischen Sechzehntel-Akkordrepetitionen. Zunächst macht die melodische Linie beim ersten „Dahin, dahin“ zwei Quartsprünge, deren zweiter allerdings tiefer und harmonisch gerückt ansetzt. Das empfindet man schon wie eine leichte Zurücknahme der Emphase, die dem sehnsuchtsvoll entschlossenen „Dahin“ zunächst innewohnt.


    Bei der Wiederholung stellt sich dieser Eindruck aber noch viel intensiver ein. Die melodische Linie setzt wieder mit dem gleichen Quartsprung ein wie beim ersten Mal. Er ist nun aber mit einem Diminuendo versehen. Das zweite „dahin“ wird auf einem verminderten Quartsprung deklamiert, der mit einer Rückung in Moll-Harmonik verbunden ist. Danach macht die melodische Linie einen Quintfall, verharrt kurz auf dieser Ebene und beschreibt bei den Worten „o mein Geliebter ziehn“ nach einer kurzen Aufwärtsbewegung einen verminderten Quintfall.

  • Was hör ich draußen vor dem Tor,
    Was auf der Brücke schallen?
    Laß den Gesang vor unserm Ohr
    Im Saale widerhallen!
    Der König sprachs, der Page lief;
    Der Knabe kam, der König rief:
    Laßt mir herein den Alten!


    Gegrüßet seid mir, edle Herrn,
    Gegrüßt ihr, schöne Damen!
    Welch reicher Himmel, Stern bei Stern!
    Wer kennet ihre Namen?
    Im Saal von Pracht und Herrlichkeit
    Schließt, Augen, euch; hier ist nicht Zeit,
    Sich staunend zu ergetzen.


    Der Sänger drückt’ die Augen ein
    Und schlug in vollen Tönen;
    Die Ritter schauten mutig drein,
    Und in den Schoß die Schönen.
    Der König, dem das Lied gefiel,
    Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,
    Eine goldne Kette holen.


    Die goldne Kette gib mir nicht,
    Die Kette gib den Rittern,
    Vor deren kühnem Angesicht
    Der Feinde Lanzen splittern;
    Gib sie dem Kanzler, den du hast,
    Und laß ihn noch die goldne Last
    Zu andern Lasten tragen.


    Ich singe, wie der Vogel singt,
    Der in den Zweigen wohnet;
    Das Lied, das aus der Kehle dringt,
    Ist Lohn, der reichlich lohnet.
    Doch darf ich bitten, bitt ich eins:
    Laß mir den besten Becher Weins
    In purem Golde reichen.


    Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus:
    O Trank voll süßer Labe!
    O wohl dem hochbeglückten Haus,
    Wo das ist kleine Gabe!
    Ergehts euch wohl, so denkt an mich,
    Und danket Gott so warm, als ich
    Für diesen Trunk euch danke.


    Das Gedicht entstand 1783 und wurde dann als Auftrittslied des „Harfners“ in den Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (zweites Buch, elftes Kapitel) aufgenommen: „Der Alte schwieg, ließ erst seine Finger über die Saiten schleichen, dann griff er sie stärker an und sang: …“.


    Es ist zu lesen als ein poetologischer Entwurf zur Rolle des Dichters („Sängers“) in der Gesellschaft, - und das in der formalen Gestalt einer Ballade. Die „Gesellschaft“ ist hier zwar eine mittelalterlich-höfische, aber es bedarf nicht des Kontexts, in dem sie sich im „Wilhelm Meister“ findet, um von der konkreten epischen Situation zu abstrahieren und die fünfte Strophe („Ich singe, wie der Vogel singt…“) in ihrer Allgemeingültigkeit zu rezipieren.


    Die sechs Strophen sind poetisch durchaus raffiniert aufgebaut: Vier Verse sind durch Kreuzreim verbunden, die zwei folgenden durch Paarreim, und der letzte Vers hängt reimmäßig sozusagen in der Luft, ist aber durch Enjambement an den vorigen gekoppelt. Das verleiht der Ballade einen rhythmisch höchst eleganten Schwung. Und das gehört sich ja auch so, steht doch ein Sänger in ihrem Zentrum, der dazu noch vier und von den sechs Strophen mit seinem eigenen Redeanteil füllt.


    Ihm wird „Lohn“ geboten für das, was er als Sänger zu bieten hat, - immerhin eine „goldene Kette“, also ein hoher. Er lehnt ab und gibt sich mit einem Becher Wein zufrieden, jenem Getränk, das Leben spendet und in seinem Götterbezug zu inspirieren vermag. Ein „Sänger“ (Dichter) ist wie der Vogel, der singt, weil dies sein Wesen ist und der Gesang in seiner Schönheit sich selbst genügt. Das Lied, das er singt, „lohnt“ sich als solches selbst.


    Poetologisch betrachtet beinhaltet dies: Der Dichter ist als solcher nicht in die Gesellschaft und ihre Zwänge eingebunden, und damit auch nicht in ihr Belohnungssystem und die Verpflichtungen, die sich daraus ergeben. Seine Leistung für sie besteht darin, sie mit dem gleichsam jenseits davon stehenden Wert der Kunst und des Schönen zu bereichern. Er transzendiert das Prinzip Arbeit – Lohn, und das macht den Sinn seiner Existenz aus.

  • Das ist ein Lied, das ganz aus dem tonmalerischen, szenisch und gestisch deskriptiven und charakterisierenden Einsatz der Musik lebt, - reichlich Harfenklänge in Gestalt von Arpeggien und arpeggierten Akkorden mit Tannhäuser-Anmutung inklusive. Wolf erwog später, es aus einem Goethe-Opus herauszunehmen, und wenn man diese Komposition unmittelbar nach dem Mignon-Lied hört, auf das es ja folgt, dann kann man das verstehen. Es gibt hier keine Seelenräume musikalisch auszuleuchten, es gibt nur zu erzählen, zu schildern, zu charakterisieren. Zu bedenken bleibt freilich, dass „Der Sänger“ neben dem „Rattenfänger“ zu den beim Konzertpublikum beliebtesten Liedern Wolfs gehört.


    Mit der Person des „Sängers“ ist eine melodische Figur verbunden, die als eine Art Leitmotiv fungiert. Schon am Anfang, im zweitaktigen Vorspiel, lagert sie sich in die arpeggierten Akkorde ein. Ihre Grundstruktur, die aus einer Tonrepetition mit nachfolgend fallender und wieder steigender Bewegung der melodischen Linie besteht, vernimmt man in leicht modifizierter Form immer wieder, und dies ist bei der Vielfalt der szenisch schildernden und narrativen Elemente ein wichtiger einheitsstiftender Faktor.


    Auf klanglich beeindruckende Weise baut Wolf die Exposition der Ballade auf, wie sie die erste Strophe leistet. Bei der mit den Worten „Laß den Gesang vor unserm Ohr…“ eingeleiteten Aufforderung des Königs steigt die melodische Linie zunächst in Achtelschritten in hohe Lage auf, macht danach eine Fallbewegung, steigt erneut auf und hebt dann das Wort „hallen“ mit einer Dehnung und nachfolgendem Oktavfall in markanter Weise hervor. Und wenn dann Aktion in die Ballade kommt, eine Page läuft und der König einen Befehl gibt, baut Wolf auf regelrecht raffinierte Weise einen musikalischen Spannungsbogen auf, - mit permanenten Achtelrepetitionen im Klavierdiskant, die sich zu Sekunden erweitern und in der Tonhöhe ansteigen. Der narrative Text wird dabei auf gleichsam stockender, weil von Pausen unterbrochener melodischer Linie deklamiert, wobei das Ganze dann am Ende, bei den Worten „Laßt mir herein den Alten!“ in eine hoch aufsteigende und dann in großen Sprüngen fallende melodische Bewegung mündet.


    Mit einer Folge von arpeggierten Akkorden – und von solchen dann begleitet – wird die Ansprache des Sängers eingeleitet. Die ersten Worte werden wieder zunächst auf einem Ton deklamiert, dann fällt die melodische Linie ab und macht, wenn die Grußworte an die „schönen Damen“ gerichtet werden, ausdrucksvolle Sprung- und Fallbewegungen. Bei den Worten „welch reicher Himmel“ steigt sie, dem lyrischen Bild gemäß, in hohe Lage auf. Die Vokallinie bringt hier, besonders eindrucksvoll bei den Worten „Stern bei Stern“, die poetische Natur dieses Sängers zum Ausdruck. Erst diatonisch, dann chromatisch fallende Akkorde wirken hier wie ein vielsagend kommentierender Nachklang. Mächtig hingegen entfaltet sich der Klaviersatz im Kommentar zu den erst wieder auf einer Tonhöhe, dann aber aufsteigend deklamierten Worten „Im Saal von Pracht und Herrlichkeit“. Man gewinnt den Eindruck, dass sich in diesem Lied jedes lyrische Bild auf je eigene Weise im Klaviersatz und in der Vokallinie reflektiert. Bei „schließt die Augen“ zum Beispiel in einer Fallbewegung über das Intervall einer None.


    Ein siebentaktiges Zwischenspiel aus immer komplexer werdenden Arpeggien, die jeweils in einen arpeggierten Akkord münden, bereitet das Lied des Sängers vor und leitet zu ihm über. Bei den ersten Versen der dritten Strophe („Der Sänger drückt die Augen ein…“) ist die melodische Linie der Singstimme fließender angelegt. Sie verbleibt zunächst auf einer tonalen Ebene, steigt dann aber jeweils am Versende an. Bei den Worten „in den Schoß die Schönen“ vollzieht sie eine dieses Bild reflektierende Fallbewegung, steigt aber wieder an, um in hoher Lage eine Dehnung auf den Wort „Schönen“ erklingen zu lassen. Wenn die erzählerische Perspektive wieder auf den König schwenkt, ist der Klaviersatz von Achtelakkord-Repetitionen geprägt, die, wie bei dem Bild vom „Pagen“ in der ersten Strophe, tonmalerisch die Geschehens- und Handlungsebene repräsentieren. Bei den Worten „goldne Kette reichen“ macht die melodische Linie aus einem Anstieg heraus am Ende einen – überraschenden – Undezimensturz. Ist das ein Hinweis auf die Unangemessenheit der Geste, die in der folgenden Strophe vom Sänger zum Ausdruck gebracht wird?


    In Moll harmonisiert setzt die Vokallinie, wiederum mit Tonrepetitionen in hoher Lage, bei der vierten Strophe ein, steigert sich aber bei dem Bild von den Rittern, nun doch nach Dur hin moduliert, in ihrer Expressivität deutlich. Nach dem Sekundfall bei dem Wort „splittern“ steigen im Bass forte und auf dramatische Weise Achtel-Oktaven nach oben. Von hoher melodischer Ausdrucksstärke ist auch der Oktavfall bei den Worten „andern“ („Lasten“). Ohnehin hat man als Hörer dieser Ballade den Eindruck, in eine immer weiter sich steigernde musikalische Expressivität einbezogen zu werden. Die fünfte Strophe („Ich singe, wie der Vogel singt…“) bestärkt einen darin. Die melodische Linie der Singstimme entfaltet hier in ihrer weit gespannten Phrasierung einen überaus lieblichen klanglichen Zauber, der in einem markanten Kontrast zum Ton der vorangegangenen Strophen steht. Bemerkenswert dann der Undezimenfall mit nachfolgendem Aufstieg um eine Oktave zur melodischen Dehnung bei den Worten „purem Golde reichen“. Das Selbstbewusstsein des Sängers als Künstler findet im Bestehen auf einem goldenen Becher für den Wein seinen angemessenen Ausdruck, und Wolfs Musik reflektiert dies. Entsprechend expressiv dann auch der Kommentar des Klaviers mit seinen fortissimo artikulierten Akkordrepetitionen.


    „Dolce“ erklingende Triolenfiguren im Diskant begleiten die melodische Linie am Anfang der letzten Strophe. Sie wirkt wie ein Nachklang jenes lieblichen Gesanges, der gerade in der vorangehenden Strophe zu hören war. Bei den Worten „wo das ist kleine Gabe“ steigt sie in extrem hohe Lage auf und macht von dort aus eine fast zärtlich wirkende Fallbewegung in Sekunden. Arpeggierte Akkorde sind hier die adäquate Begleitung. Bei den letzten Versen, jenen, die den endgültigen Abschied zum Ausdruck bringen, sind es dann wieder die der Geschehensebene zugehörigen Akkord-Repetitionen. Die melodische Linie steigt in ruhigen Schritten in hohe Lage empor, gipfelt forte bei dem lyrisch wichtigen Wort „warm“ auf und fällt dann langsam zu dem Wort „danke“ hin ab. Es wird auf einer in zwei Sekundschritten fallenden und damit ausdrucksstark gedehnten melodischen Linie deklamiert.

  • Das Lied „Der Sänger“ wurde als zweites Lied nach dem Umzug Hugo Wolfs aus Wien nach Döbling komponiert. Die „Goethe-Lieder“ entstanden ja in zwei kompositorischen Phasen, die der Biograph Ernst Decsey bemerkenswerter Weise als „Anfallszeiten“ bezeichnet, - darin abhebend auf die Tatsache, dass Wolf selbst seine Liedkomposition des Jahres 1888 wie ein Überfallen-Werden von einem wie fieberhaft wirkenden kreativen Schub erlebte.


    Am 11. Oktober 1888 war der Mörike-Band in Unterach abgeschlossen. Hugo Wolf trat danach die Heimreise nach Wien an und nahm vermutlich – man kann es nicht sicher ausmachen – Quartier bei seinem Freund Eckstein in der Siebenbrunnergasse. Dort entstanden die ersten dreizehn Lieder auf Gedichte von Goethe, einsetzend mit dem Harfner-Lied „Wer sich der Einsamkeit ergibt“.


    Am 7. Dezember übersiedelte Wolf nach Döbling in sein „Winterquartier“ im Haus der Familie Köchert, Hirschengasse 68 (heute Billrothstraße). Dort entstand der zweite Teil der Goethe-Lieder, nämlich – man kann es kaum fassen – siebenunddreißig Lieder in nur zehn Wochen. Nur einen „Nachzügler“ gab es noch: „Die Spröde“, Perchtoldsdorf, 21.Oktober 1889.


    Zwei Tage nach seiner Ankunft in Döbling entstand als erstes Lied die Ballade „Ritter Kurts Brautfahrt“, auf die später noch einzugehen sein wird. Am 14. Dezember folgte ihr das Lied „Der Sänger“ nach. Und dann wandte sich Wolf der Gestalt „Mignon“ zu und setzte auf diese Weise seine kompositorische Auseinandersetzung mit den literarischen Gestalten aus Goethes „Wilhelm Meister“ fort.

  • Diese Ballade wurde u.a. auch von Franz Schubert und Robert Schumann (op.98a, Nr.2) vertont. Eine ausführliche Besprechung des Schubert-Liedes findet sich im Thread „Schubert und Goethe“ (Beiträge 60-64, vom 24—26. 8. 2013).


    Dort meinte ich zwar zunächst, es sei nicht sinnvoll, sich auf eine vergleichende Betrachtung der verschiedenen Vertonungen einzulassen, und ich berief mich dabei auf die lakonische Bemerkung von D. Fischer Dieskau:
    „Die Ballade des Harfners (…) erwies sich für die Komponisten (und da meinte er alle drei: Schubert, Schumann und Wolf) nicht als die ergiebigste Inspirationsquelle“.


    Aber ich stellte dann doch einige – freilich kurze – vergleichende Betrachtungen an. Dabei kam ich zu dem Ergebnis, dass ich, wenn ich mich unter der Frage, wer dem dichterischen Text am ehesten musikalisch gerecht geworden ist, zwischen diesen drei Vertonungen entscheiden müsste - und zwar ohne liedanalytische Brille und ganz einfach dem Höreindruck folgend - zu Franz Schuberts Lied greifen würde.
    Und dies mit der Begründung:
    Es weist – mit deutlichem Abstand zu den beiden anderen Vertonungen – die größte musikalische Einheit und innere Geschlossenheit auf. Und vor allem: Es wahrt – bei allen interpretativen kompositorischen Elementen, die sich in ihm finden – am reinsten die spezifische Eigenart der dichterischen Sprache.
    Nun sehe ich mich vor die Frage gestellt: Bleibst du dabei, - jetzt, nach deiner im Vergleich zu damals ungleich gründlicheren Beschäftigung mit der Vertonung durch Hugo Wolf?


    Ich bin mir unsicher.
    Hugo Wolf kostet den dichterischen Text in seinen verschiedenen epischen und szenischen Passagen und Bildern mit klanglichen Mitteln auf zweifelllos höchst eindrucksvolle Weise aus. Melodische Linie und Klaviersatz reflektieren die einzelnen szenischen Bilder auf ihre je eigene und musikalisch treffende Weise. Bezeichnend dafür ist die Gestaltung der fünften Strophe, wo die melodische Linie der Singstimme in weit gespannter Phrasierung einen regelrecht lieblichen klanglichen Zauber entfaltet. In diesem Zusammenhang wäre auch der der Undezimenfall mit nachfolgendem Aufstieg um eine Oktave zur melodischen Dehnung bei den Worten „purem Golde reichen“ .zu erwähnen, in dem wohl das Selbstbewusstsein des Sängers als Künstler musikalisch zum Ausdruck kommt.


    Und doch:
    Schuberts Komposition begegnet einem als eine, die der balladenhaften Struktur des dichterischen Textes in seiner Kombination aus rezitativischen und melodisch-liedhaften Passagen wohl am nächsten kommt. Durchweg ist dem König und seiner ritterlich-höfischen Welt der rezitativische Ton des Liedes zugeordnet, der Sänger hingegen deklamiert in einem mehr oder weniger stark ausgeprägten ariosen Ton.
    Und dahinter steht ein gleichsam kompositorisches Konzept:
    Für Schubert stehen Sangeskunst - und damit Musik – im Zentrum der Ballade. Auch in dieser Ballade findet sein persönlicher Glaube - und der des Kreises um ich herum – an das rettende und erlösende Potential von Kunst und Musik in einer im Zerfall befindlichen Welt Eingang in die Struktur der Komposition.
    Das kann man deutlich aus hier heraushören. Und es verleiht ihr eine musikalisch-konzeptionelle Geschlossenheit, die man in Wolfs Ballade ein wenig vermisst.

  • Gerade sehe ich, dass ich bei meinem Vergleich der einzelnen Vertonungen dieser Ballade die von Robert Schumann vergessen habe zu erwähnen. Nur der Vollständigkeit halber und der Sache wegen (d.h. nicht in der Annahme eines vorhandenen großen Interesses) sei hier nachträglich kurz darauf eingegangen.


    Schumanns Vertonung ist das zweite Lied des schon erwähnten Opus 98a: „Lieder und Gesänge aus Wilhelm Meister“. Die Tonart ist B-Dur, ein Viervierteltakt liegt zugrunde, und die Vortragsbezeichnung lautet „Mit freiem deklamatorischen Vortrag“. Es soll hier keine ins Einzelne gehende liedanalytische Betrachtung vorgelegt werden. Die Beschreibung des Grundcharakters dieser Vertonung sollte genügen. Es geht hier ja schließlich um Hugo Wolf.


    Mehr als dieser – und mehr auch als Schubert – lässt sich Schumann auf eine musikalische Umsetzung der epischen Grundstruktur der Ballade mit ihrem Ineinander von narrativen und dialogischen Passagen ein. Das führt zu einer ungewöhnlich großen klanglichen Vielfalt, - mit der Folge, dass die innere Einheit der Komposition in Gefahr gerät. Rezitativische, melodisch narrative und ariose Passagen wechseln einander ab, und im Einklang damit ist der Klaviersatz ebenfalls sehr vielgestaltig, wobei tonmalerische Effekte eine große Rolle spielen. Harfenklänge werden immer wieder angeschlagen, - von arpeggierten und eine melodische Linie abbildenden Akkorden über nach oben rauschenden Sechzehntel-Arpeggien bis hin zum wellenförmigen Auf und Ab von Achteln. Akkordrepetitionen begleiten zumeist die szenisch-narrativen Passagen der Ballade.


    Was Schumann sehr schön gelingt, das ist die musikalische Konkretion der Gestalt des Harfners selbst. Wenn er spricht und singt, kommt ein ausgeprägt melodiöser Gestus in die Ballade. Eindrucksvoll zum Beispiel die aus hoher Lage in kleinen Sekunden fallende und von einer Pause unterbrochene melodische Linie bei den Worten „Welch reicher Himmel! Stern bei Stern“. Und ebenso die wiederum in hoher Lage ansetzende und dann langsam absteigende Vokallinie bei den Worten „ich singe wie der Vogel singt…“ mit ihrer kleinen Dehnung auf den Worten „ich“ und „singt“.
    Hier klingt der Liedkomponist Schumann inmitten eines balladesken Umfelds auf, - und dies in durchaus beeindruckender Weise.

  • Ich bin der wohlbekannte Sänger,
    Der vielgereiste Rattenfänger,
    Den diese altberühmte Stadt
    Gewiß besonders nötig hat.
    Und wären’s Ratten noch so viele,
    Und wären Wiesel mit im Spiele,
    Von allen säubr’ ich diesen Ort,
    Sie müssen miteinander fort.


    Dann ist der gutgelaunte Sänger
    Mitunter auch ein Kinderfänger,
    Der selbst die wildesten bezwingt,
    Wenn er die goldnen Märchen singt.
    Und wären Knaben noch so trutzig,
    Und wären Mädchen noch so stutzig,
    In meine Saiten greif’ ich ein,
    Sie müssen alle hinterdrein.


    Dann ist der vielgewandte Sänger
    Gelegentlich ein Mädchenfänger;
    In keinem Städtchen langt er an,
    Wo er’s nicht mancher angetan.
    Und wären Mädchen noch so blöde,
    Und wären Weiber noch so spröde,
    Doch allen wird so liebebang
    Bei Zaubersaiten und Gesang.


    In diesem, vom lyrischen Geist des Bänkelgesangs geprägten Gedicht, greift Goethe die Sage vom Rattenfänger von Hameln auf, wandelt sie aber in interessanter Weise ab. Das Gedicht entstand wahrscheinlich schon Anfang der achtziger Jahre, wurde aber erst 1804 in „Cottas Taschenbuch auf der Jahr 1804“ publiziert. Die drei Strophen bestehen aus jeweils acht Versen, die jeweils vier Hebungen auf der Grundlage eines jambischen Versmaßes aufweisen.


    Jede Strophe hat in der Art und Weise, wie der „Rattenfänger“ sich präsentiert und von sich selbst spricht, einen eigenen thematischen Schwerpunkt. Der Rattenfänger der Sage wird bei Goethe zu einem „Sänger“, einem Künstler also, der sich am Anfang jeder Strophe so vorstellt, - mit verschiedenen Adjektiven versehen: „Wohlbekannt“, „gut gelaunt“ und „vielgewandt“. Zwar säubert er die Stadt auch von Ratten, und er weist in diesem Zusammenhang auf seine Wichtigkeit hin. Aber in der zweiten Strophe lernt man ihn als einen „Sänger“ kennen, der mit seinen „goldnen Märchen“ Kinder in Bann zu schlagen vermag.


    In der dritten Strophe schließlich präsentiert sich der Protagonist dieser Romanze als „Mädchenfänger“, - als einer, der mit seinen „Zaubersaiten“ und seinem Gesang Frauen für sich einzunehmen vermag, - und zwar alle. Es wird deutlich: Im Zentrum steht die Macht der Kunst, der Dichtung, der Musik über die Menschen. Sie vermag, ist nur der wahre Künstler am Werk, alle in Bann zu schlagen.

  • Man vernimmt es gleich im Vorspiel: Dieser „Rattenfänger“ ist ein anderer als der Schuberts. Es ist nicht der Sänger, der Künstler, der mit seinen Fähigkeiten und Gaben verzaubern und verlocken kann, es ist der dämonische Verführer, von dem eine existenzielle Bedrohung ausgeht. Ein scharfer, schneidender Ton geht von diesem Vorspiel aus, das von Wolf unüberhörbar als klangliches Fanal für den Geist der Ballade verstanden wird. Denn es kehrt als Zwischenspiel wieder und ist auch im Nachspiel die dominante Klangfigur.


    Nicht nur das. Diese wie ein scharfes Pfeifen und in einen Akkord mündenden aufwärtsstürmenden Zweiunddreißigstel kehren als Sechzehntel im Klaviersatz noch vier Mal wieder, und zwar in einer kurzen Pause der Singstimme jeweils am Ende des sechsten Verses der Strophen. Klanglich bedrängend wirkt das Vorspiel auch wegen der hämmernd angeschlagenen Akkorde, die am Ende in einen verstörend wirkenden Wirbel von Achteln und Sechzehnteln mit einer nachfolgend aufsteigenden Akkordfolge münden.


    „Sehr lebhaft“ (Anweisung), in melodisch hurtigem Auf und Ab wird die erste Strophe deklamiert. Bemerkenswert sind die Akzente, die dabei gesetzt werden. Das Wort „Rattenfänger“ wird auf einem Ton mit nachfolgendem Quintfall deklamiert, wobei auf dem Vokal „a“ eine Viertelnote liegt, die ihn in markanter Weise hervorhebt. Bei den Versen drei und vier steigt die melodische Linie der Singstimme zunächst um eine Oktave an und macht danach eine rasche Fallbewegung in Sekunden, die in das Wort „altberühmt“ einen leicht höhnischen Ton bringt. Ähnlich empfindet man das auch bei den Sprung- und Fallbewegungen der melodischen Linie bei den Worten „gewiß besonders nötig hat“. Dieser Rattenfänger nimmt die „Altberühmtheit“ der Stadt wohl nicht so ganz ernst, macht sich eher darüber lustig.


    Gleichzeitig drückt sich in der Art und Weise, wie deklamiert wird, Entschlossenheit und zupackendes Wesen aus. Dazu trägt auch der Klaviersatz mit seinen im Sechsachtelrhythmus rhythmisierten Akkordfolgen bei. Bei den Worten „Von allen säubr´ ich diesen Ort“ bewegt sich die melodische Linie der Singstimme zwar zunächst nach unten, sie macht aber danach eine energische Aufwärtsbewegung, um am Ende eine lang gedehnte Wellenbewegung zu beschreiben, die die Worte „miteinander fort“ in klanglich markanter Weise hervorhebt.


    Bei der zweiten Strophe wird die melodische Linie der Singstimme bis zu den beiden letzten Versen hin von Akkord-Dreiergruppen im Diskant begleitet, die in tänzerischer Weise in Einheit mit arpeggierten Akkorden im Diskant erklingen. Der „gutgelaunte Sänger“ braucht solche Begleitung, um in beschwingter Weise von seiner Fähigkeit als „Kinderfänger“ zu schwärmen. Hier bleibt die melodische Linie in rasch deklamierten und durch den Wechsel von Vierteln und Achteln rhythmisierten Schritten zunächst auf einer tonalen Ebene, damit die nachfolgenden Sprung- und Fallbewegungen umso eindrucksvoller wirken. Eine von klanglichem Zauber geprägte Fall- und Steigbewegung macht die Vokallinie bei den Worten „Wenn er die goldnen Märchen singt“. Sie steigt erst, mit einem Melisma bei dem Wort „goldnen“, aus hoher Lage herab und legt auf jede Silbe von „Märchen singt“ eine Dehnung in Form eines punktierten Viertels, so dass die melodische Linie hier in beeindruckender Weise rhythmisch verzögert und gestreckt wirkt.


    Dass das „trutzig-Sein“ der Knaben und das „stutzig-Sein“ der Mädchen für den „Rattenfänger“ kein Hindernis sind, wird durch das Hervorheben des Wortes „noch“ in Gestalt einer Viertelnote deutlich zum Ausdruck gebracht. Bei den Worten „in meine Saiten greif ich ein macht die melodische Linie einen rasanten Lauf auf tiefer Lage über eine Dezime nach oben, während im Bass und im Diskant Oktaven nach unten eilen. Die Worte „Sie müssen alle hinterdrein“ werden wieder auf jener melodisch gedehnten Pendelbewegung der Vokallinie deklamiert, die im Zusammenhang mit dem gegenläufigen Wirbel von Achteln im Klaviersatz etwas klanglich Bedrohliches an sich hat.


    Auch bei der vierten Strophe ist die melodische Linie der Singstimme wieder von anfänglichen Tonrepetitionen geprägt, die dann, wie bei dem Wort „gelegentlich“, in Fall- und Steigbewegungen übergehen, um einen melodischen Akzent zu setzen. Die kompositorische Nähe Wolfs zur lyrischen Sprache, die Wortorientiertheit seiner Liedsprache also, zeigt sich hier wieder sehr deutlich. Man vernimmt sie in besonders beeindruckender Weise bei der musikalisch stark gedehnten Deklamation der Worte „Wo er´s nicht mancher angetan“. Und in noch gesteigerter Form setzt Wolf diesen klanglichen Effekt bei den letzten Versen der dritten Strophe ein. Fast jede Silbe trägt eine extrem lange melodische Dehnung, wobei sich ein höhnischer Effekt dadurch einstellt, dass die Vokallinie auf einer tonalen Ebene verbleibt und dort nur um eine Sekunde hin und her pendelt, bis sie dann auf der letzten Silbe des Wortes „Zaubersaiten“ endlich eine Fallbewegung macht, die in eine Dehnung mündet.


    Der Eindruck von Hohn und Sarkasmus stellt sich auch dadurch ein – und wird verstärkt - , dass unter der tonal wie arretiert wirkenden melodischen Linie im Klavier unablässig Achtel in z.T. akkordischer Form auf und ab stürmen, wobei sie sich bei dem Wort „Zaubersaiten“ mit einem Mal in eine aufsteigende Akkordfolge im Diskant über arpeggierten Akkorden im Bass verwandeln. Das ist ein Liedgesang, der auf ein Höchstmaß an musikalisch-klanglichem Effekt abgestellt ist.


    Die erste Strophe wird in identischer Faktur noch einmal wiederholt. Auf diese Weise werden die Aussagen der Strophen zwei und drei in eine Art narrativen Rahmen gestellt, der die Gestalt des „Rattenfängers“ ins gleichsam Überzeitliche rückt und in ihrer Dämonie steigert. Dieser Intention dient auch das ausführliche, nämlich 22 Takte umfassende Nachspiel, das sich zunächst als Rückgriff auf die klanglichen Motive des Vorspiels gibt, dann aber in einer langen Kette von in Bass und Diskant in hohe Lage aufsteigenden Sechzehnteln den Rattenfänger „ppp“ in die Sphäre einer überzeitlichen, dämonisch-mythischen Gestalt entschweben lässt.

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  • Von dieser berühmten Ballade Goethes gibt es zwar noch einige weitere Vertonungen, aber nur eine, die dem dichterischen Text musikalisch voll gerecht wird und deshalb eine ihm entsprechende Bekanntheit und Berühmtheit erreichte: Es ist die von Franz Schubert. Hugo Wolf wusste das natürlich. Und wie bei den lyrischen Äußerungen des Harfenspielers und der Mignon aus Goethes „Wilhelm Meister“ – und danach noch bei den großen freien Hymnen „Prometheus“, „Ganymed“ und „Grenzen der Menschheit“ - fühlte er, der ansonsten jeden kompositorischen Wettstreit mit dem von ihm verehrten Schubert mied, sich von Schuberts Komposition herausgefordert.


    Herausgefordert aus einem Grund, der in einer gleichsam elementaren Weise mit seinem liedkompositorischen Grundkonzept zusammenhängt. Es ist das der Erlösung des dichterischen Worts durch die Musik, - im Sinne einer musikalischen Konkretion jener Dimensionen der dichterischen Aussage, bei denen die lyrische Sprache an ihre genuinen Grenzen stößt. Das kann, wenn zum Beispiel eine literarische Gestalt sich artikuliert – wie das beim „Harfenspieler“, bei „Mignon“ oder hier beim „Rattenfänger“ der Fall ist – darauf hinauslaufen, dass Musik zum Medium der psychologischen Auslotung derselben wird, - so wie der Komponist sie rezipiert und verstanden hat.


    Im Falle des „Rattenfängers“, der am 6. November 1888 entstand, liegt bei Hugo Wolf ein fundamental anderes Verständnis vor, als dies bei Schubert der Fall ist. Ich bin darauf bei der Besprechung des Schubert-Liedes näher eingegangen und verweise in diesem Zusammenhang auf die Beiträge 92 und 93 (vom 14/15. 9. 2013) im Thread „Franz Schubert und Goethe“. Wo Schubert in dem „Rattenfänger“ letztlich einen Sänger, Musiker und Künstler sieht, der mit seiner Kunst Mensch und Tier, also auch Ratten, in Bann zu schlagen vermag, sieht Wolf in ihm einen gefährlichen Verführer mit satanischem Anflug, dessen „Künste“ durchaus ambivalent sind. Wolf verleiht mit seiner Musik dieser dichterischen Gestalt Goethes Züge, die ein wenig an den Mephisto im „Faust“ erinnern.


    Wenn man von dem regelrecht faszinierenden klangmalerischen Instrumentarium ausgeht, mit dem Wolf „seinen Rattenfänger“ als mephistophelisches Wesen musikalisch konkretisiert, dann muss einem diese literarische Figur in der Weise, wie sie einem in der Musik Schuberts begegnet, regelrecht bieder und harmlos erscheinen. So hat dies auch Dietrich Fischer-Dieskau gesehen. Er meinte, Schuberts „Rattenfänger“ sei im Vergleich zu dem von Wolf „ein regelrecht harmloser Bramarbas“. Und an anderer Stelle heißt es bei ihm, Schuberts Version des Gedichts nehme sich gegenüber der von Wolf „geradezu gemütlich“ aus.


    Verständlich und nachvollziehbar ist das zwar, wenn man vom schieren Klangeindruck ausgeht, den beide Lieder machen, wenn man sie unmittelbar hintereinander hört. Man wird Schubert mit diesem Urteil freilich nicht gerecht. Er ging, wie das für ihn typisch ist, bei seiner Komposition primär von der dichterischen Sprache aus. Und diese ist ja doch nicht die eines diabolischen Menschen. Alle drei Strophen setzen mit einem sprachlichen Vorstellungs-Gestus ein: „Ich bin..“ und „Dann ist…“. Und am Ende mündet das Ganze in die Worte: „Doch allen wird so liebebang / Bei Zaubersaiten und Gesang“.


    Schubert hat für diesen „Rattenfänger“ so, wie er ihm in Goethes Worten begegnete, nämlich als verführerischer Musiker, Sänger und Künstler, die musikalisch adäquate Sprache gefunden. Der als Mensch und Komponist in ein anderes Jahrhundert hineinragende und an der Musik Richard Wagners geschulte Hugo Wolf hat den gleichen dichterischen Text, seiner Lebenswelt und seinem individuell-menschlichen Wesen gemäß, gänzlich anders gelesen, - und ihn in die dafür ebenfalls adäquate Musik gesetzt.
    Beide Liedkompositionen sind also auf ihre je eigene Weise ein vollgültiges Ins-musikalische Werk-Setzen des dichterischen Textes.

  • Im „Rattenfänger“ entfaltet Hugo Wolf sein klangmalerisches Potential auf eine höchst beeindruckende Weise, und das macht diese Balladenkomposition – schon vom ersten Augenblick ihrer Präsentation auf der Konzertbühne an – zum einem Publikumsrenner.


    Die erste Aufführung fand am 15. Dezember 1888 im Wiener Bösendorfer-Saal statt. Es war ein gemischtes Programm, wie dies damals üblich war. Joseph Schalk spielte Klaviersonaten und Variationen von Beethoven und Ferdinand Jäger, der in Bayreuth den Parsifal gesungen hatte, trug Lieder von Hugo Wolf vor, - mit diesem als Begleiter am Flügel. Das Programm bestand aus Mörike- und Goethe-Liedern, darunter auch „Der Rattenfänger“.


    Das Publikum war begeistert und feierte Hugo Wolf mit großem Beifall. Der Kritiker der „Deutsche Zeitung“, Theodor Helm, nahm allerdings Anstoß daran, dass Wolfs Kompositionen mit denen Beethovens zusammen aufgeführt wurden. Wolf kommentierte das in einem Brief an Strasser mit den Worten:
    „Daß nur Beethoven und meine Wenigkeit auf dem Programm standen, hat unter den mir feindlich Gesinnten schon viel Ärgernis gegeben. Andererseits kannst Du daraus entnehmen, wie hoch meine Sachen geschätzt werden.“

  • Mit des Bräutigams Behagen
    Schwingt sich Ritter Kurt aufs Roß,
    Zu der Trauung soll’s ihn tragen
    Auf der edlen Liebsten Schloß:
    Als am öden Felsenorte
    Drohend sich ein Gegner naht;
    Ohne Zögern, ohne Worte
    Schreiten sie zu rascher Tat.


    Lange schwankt des Kampfes Welle,
    Bis sich Kurt im Siege freut;
    Er entfernt sich von der Stelle,
    Überwinder und gebleut.
    Aber was er bald gewahret
    In des Busches Zitterschein!
    Mit dem Säugling still gepaaret,
    Schleicht ein Liebchen durch den Hain.


    Und sie winkt ihn auf das Plätzchen:
    Lieber Herr, nicht so geschwind!
    Habt Ihr nichts an Euer Schätzchen,
    Habt Ihr nichts für Euer Kind?
    Ihn durchglühet süße Flamme,
    Daß er nicht vorbei begehrt,
    Und er findet nun die Amme,
    Wie die Jungfrau, liebenswert.


    Doch er hört die Diener blasen,
    Denket nun der hohen Braut;
    Und nun wird auf seinen Straßen
    Jahresfest und Markt so laut,
    Und er wählet in den Buden
    Manches Pfand zu Lieb’ und Huld;
    Aber ach! da kommen Juden
    Mit dem Schein vertagter Schuld.


    Und nun halten die Gerichte
    Den behenden Ritter auf.
    O verteufelte Geschichte!
    Heldenhafter Lebenslauf!
    Soll ich heute mich gedulden?
    Die Verlegenheit ist groß.
    Widersacher, Weiber, Schulden,
    Ach! kein Ritter wird sie los.


    Diese Ballade entstand im Jahre 1802 und wurde im „Taschenbuch auf das Jahr 1804“ veröffentlicht. Angeregt wurde Goethe dazu durch die „Mémoires du maréchal de Bassompierre“, Cologne 1666. Sie liefert in Gestalt von in Trochäen rasch dahineilenden vierhebigen eine von Heiterkeit geprägte und mit leiser Komik gewürzte epische Skizze eines „Ritterlebens“, das als „heldenhafter Lebenslauf“ qualifiziert wird, dessen Quintessenz in den beiden letzten Versen freilich in ironisierender Weise auf den Punkt gebracht wird:
    Widersacher, Weiber, Schulden,
    Ach! kein Ritter wird sie los.

  • Wie groß die liedkompositorische Bandbreite von Wolfs Goethe-Opus ist, das wird einem so recht bewusst, wenn man diese Ballade auf dem Hintergrund etwa der Harfner-Lieder hört. Es ist, als käme man aus der Welt subtiler Auslotung von Dimensionen menschlicher Existenz mit musikalischen Mitteln in eine solche, in der Musik im Ausleben ihrer klanglichen Möglichkeiten sich selbst genügt. Die Ballade wäre keine Wolf-Komposition, stünde die Musik nicht auch hier in einem unmittelbaren Bezug zum dichterischen Text. Dem mangelt es freilich an musikalisch auslotbarer poetischer Substanz.


    Das Vorspiel suggeriert klanglich so etwas wie Aufbruch. Aus permanent ansteigender tonaler Lage steigen im Bass Viertel-Oktaven auf und münden in einen akkordischen Doppelschlag im Diskant. Da dieser aus einem Sechzehntel und einem Viertel besteht, wirkt die Klangfigur rhythmisiert und erinnert ein wenig an ein Hornsignal zum Aufbruch zur Jagd. Arpeggierte Akkorde begleiten die munter sich dahinbewegende melodische Linie der Singstimme, die bei dem Wort „Behagen“ einen Quintsprung macht, um ihm einen besonderen Akzent zu verleihen.


    Immer wieder vermeint man leichten Witz und Ironie zu vernehmen: Bei den triolischen Melismen etwa, die auf den Worten „aufs Roß“ und „Liebchens Schloß“ liegen. Auf fast schon komisch, weil übertrieben dramatisch wirkende Weise steigt die Vokallinie bei den Worten „Als am öden Felsenorte“ über eine ganze Oktave aus tiefer Lage an und macht am Ende einen Fall wieder dorthin zurück. Auch das Wort „drohend“ wird mit einem solchen Oktavsprung und –fall in übertriebener Weise akzentuiert.


    Das zehntaktige Zwischenspiel aus energisch aufsteigenden, wieder fallenden und von quirligen Zweiunddreißigstel-Bewegungen im Bass begleiteten Akkorden im Diskant ist wohl als klangmalerischer Kommentar zur „raschen Tat“ zu verstehen. Mit rhythmisierten Akkordrepetitionen wird die Freude von „Kurt“ über seinen Sieg begleitet. Bei den Worten „Überwinder und gebleut“ entfaltet die Musik wieder eine große Portion Ironie: Die melodische Linie macht eine über eine Sexte sich erstreckende Fallbewegung mit Dehnung am Ende, und das Klavier begleitet das mit gehaltenen Akkorden im Diskant und Oktavrepetitionen in extrem tiefer Basslage.


    „Dolcissimo“ und „zart“ soll die Szene mit dem „Liebchen mit Säugling im Hain“ vorgetragen werden. Und die Musik ist ganz und gar darauf hin angelegt: Eine weit phrasierte, ruhig und lieblich sich bewegende melodische Linie entfaltet sich über Akkorden im Diskant und einer schier endlosen Kette von auf und ab dahinströmenden Achteln und Sechzehnteln im Bass. Und natürlich wird das Wort „Zitterschein“ mittels einer melodischen Sprungbewegung einschließlich Dehnung in besonderer Weise hervorgehoben. Bei dem Wort „Hain“ hält die Singstimme in hoher Lage lange inne, und silbriger Klavierklang in hoher Diskantlage kostet dieses lyrische Bild in einem fünftaktigen Nachspiel aus.


    In zärtlichem Ton und von Pausen unterbrochen wird die Ansprache des „Liebchens“ an „Kurt“ auf jeweils nur einer tonalen Ebene deklamiert. Bei den Worten „Ihn durchglühet süße Flamme“ kommt dann freilich wieder lebhafte Bewegung in die melodische Linie, - und dies forte und mit Sprüngen versehen. Diese Strophe mündet bei den Worten „wie die Jungfrau liebenswert“ in eine Kadenz von fast ariosem Pathos. Ein Zwischenspiel folgt, das in seinem auf die Zählzeit des Viervierteltakts ausgerichteten Rhythmus wieder Aufbruchstimmung suggeriert.


    Dieser Rhythmus wird über die ersten vier Verse der vierten Strophe beibehalten, bis dann die „Buden“ des Markts, das Gewimmel dort und schließlich die „Juden“ ins Spiel kommen, denen in der Melodik ein jammervolles, mit einem triolischen Sekundfall deklamiertes „Aber ach“ zugeordnet ist. Hier kommt große Unruhe in Form von lebhaften Akkordbewegungen in Bass und Diskant in den Klaviersatz. Und nach dem Wort „Schuld“ entfaltet sich dort im Rahmen eines elftaktigen Zwischenspiels ein wahrer klanglicher Wirbelwind, der in höchste Diskantlage aufsteigt und am Ende in eine Kette von in Bass und Diskant fortissimo in hohe Lage emporsteigende Achteloktaven mündet. Auf diese Weise wird der lyrische Begriff der „Schuld“ in höchst expressiver Weise kommentiert.


    Lebhaft und in ständig sich steigernder Expressivität werden die letzten Verse deklamiert. Rasant bewegt sich die melodische Linie in hohe Lagen hinauf. Dort wird, von Pausen unterbrochen, drei Mal auf einem Ton deklamiert, bevor die Vokallinie bei den Worten „Widersacher, Weiber, Schulden“ zwei ausdrucksstarke Fallbewegungen macht. Der letzte Vers wird wiederholt, wobei im zweiten Fall die melodische Linie ansteigt, bei dem Wort „sie“ mit einer Fermate und begleitet von einem achtstimmigen Akkord innehält, um dann mit einem Sekundsprung zum Grundton in hoher Lage einen Schlusspunkt zu setzen.


    Ein langes (18 Takte) Nachspiel folgt, - man hat es eigentlich gar nicht anders erwartet. Viele klangliche Motive des Klaviersatzes begegnen einem wieder, und sie werden in ihrer Expressivität bis ins dreifache Forte gesteigert.

  • Das Lied wurde am 9. Dezember 1888 komponiert.
    Wohin Wolf geraten kann, wenn, seiner Leitlinie der Ausdeutung und Ausleuchtung von Poesie mit den Mitteln der Musik folgend, alle seine diesbezüglichen kompositorischen Fähigkeiten frei und ungehemmt zur Entfaltung kommen lässt, dies aber bei einem an lyrischer und epischer Substanz armen Text, das kann man bei diesem Lied hörend erleben. Es hat zu Recht viel Kritik auf sich gezogen, denn es begegnet einem als eine zwar klanglich überaus reiche, aber in eben diesem Klangreichtum letztlich doch recht leere, weil auf den Effekt des illustrativen Kommentars abgestellte und sich darin erschöpfende Komposition.


    Ein solches Urteil mag dem Ersthörer, demjenigen, der mit Wolfs Liedschaffen wenig vertraut ist, hart, ja unangebracht und unverständlich erscheinen. Der Kenner der Liedkomposition Hugo Wolfs kann aber nicht anders. Er fragt sich verwundert, was in diesem wohl vorgegangen sein mag, dass ihm ein derart im Grunde nichtssagendes musikalisches Werk in die kompositorische Feder floss. Wollte er etwa die Gattung der Ballade persiflieren? Sich über sie lustig machen, indem er all die kompositorischen Mittel, über die er verfügte, in exzessiver Weise zum Einsatz brachte? Oder nahm er Goethes Ballade als eine spaßige Angelegenheit – was ja naheliegend ist - , die Anlass zu kompositorischem Amüsement gab?


    Vielleicht gibt es für die Fragen, die diese Ballade aufwirft, auch eine ganz einfache, in den äußerlichen Gegebenheiten wurzelnde Erklärung. Wolf war gerade aus Wien in sein „Winterquartier“ in Döbling umgezogen. Und bevor es dort an die Fortführung der seine liedkompositorischen Fähigkeiten wahrlich herausfordernden Auseinandersetzung mit Goethes „Wilhelm Meister“ ging – die Gestalt „Mignon“ stand an! – verspürte er möglicherweise Lust auf ein ganz und gar harmloses, bei der Komposition einfach nur Spaß machendes Stück.

  • Ich werde mir demnächst die Wolf-Goethe-Lieder mal en bloc vornehmen - in der nächsten Woche komme ich aber wahrscheinlich nicht dazu. Vielleicht, lieber Helmut, könntest Du auch vermerken, wenn es sich um ein Lied für Frauenstimme handelt. Die Vergleiche mit Schubert usw. finde ich auch immer höchst spannend - auch da wäre ein solcher Hinweis nicht schlecht.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit: „Vielleicht könntest Du auch vermerken, wenn es sich um ein Lied für Frauenstimme handelt.“

    Es tut mir leid, das habe ich nicht bedacht. Selbstverständlich werde ich das künftig angeben. Von den bis jetzt hier besprochenen Liedern sind folgende für Sopran geschrieben:


    Mignon I (Heiß mich nicht reden)
    Mignon II (Nur wer die Sehnsucht kennt)
    Mignon III (So laßt mich scheinen)
    Philine (Singet nicht in Trauertönen)
    Mignon (Kennst du das Land)


    Es gibt übrigens eine CD, auf der alle Mignon-Vertonungen von Schubert, Schumann und Wolf zu hören sind. Die Interpretin heißt Ulrike Sonntag, am Klavier begleitet Gisela Andreas. Erschienen ist sie 1990 bei Tacet. Es gibt sie noch im Handel. Titel: „Mignon-Vertonungen“.
    Vielleicht kann ein freundlicher Moderator das Cover hier einfügen. Die Sopranistin ist darauf in schmucker Kostümierung abgebildet, und sie singt die Lieder in durchaus beeindruckender Weise.


    Beim Studieren dieser Lieder habe ich selbst als sängerische Interpretation die von Barbara Hendricks (mit Roland Pöntinen), erschienen im Jahre 2000 bei EMI, zugrundgelegt. Nicht weil ich sie für besonders gut gelungen gehalten habe (was sie übrigens ist), sondern weil sie mir als erste in die Hände kam, als ich eine Aufnahme suchte.


    Und dann machte ich eine Erfahrung, die mich wirklich traf und anrührte. Als ich fertig mit dieser Liedgruppe war, hörte ich mir alle in der Interpretation von Elisabeth Schwarzkopf (mit Gerald Moore) an.
    Es war eine Offenbarung an Sangeskunst in Sachen Liedinterpretation. Bei „So laßt mich scheinen“ (Mignon III) musste ich schlucken. So etwas passiert mir beim Musikhören sehr selten.

  • Zitat Helmut Hofmann

    Zitat

    ... das Cover hier einfügen


    Lieber Helmut Hofmann,
    ich bin zwar kein Moderator, stelle aber – verbunden mit einem großen Dank für die wunderbaren Beiträge, die ich gern und mit großem Gewinn lese – nachstehend das Cover ein.



    Mit freundlichem Gruß zum Sonntag
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Und ich bedanke ich ganz herzlich dafür, lieber JLang! Ich kriege diese Operation trotz der Hilfe, die mir Dr. Holger Kaletha einmal freundlicherweise erteilt hat, einfach nicht hin. An einer bestimmten Stelle teilt mir mein Computer mit, dass er das nicht tun könne, was ich von ihm da verlange. Er akzeptiert meine eMail-Adresse nicht. Weiß der Teufel warum!
    Ich gestehe, dass es mich sehr gefreut hat, zu lesen, dass meine Beiträge ein Gewinn für Dich sind.


    Für einen Liedfreund, der die verschiedenen Mignon-Vertonungen unmittelbar miteinander vergleichen will, ist diese CD eine lohnende Sache. Und natürlich kann man sich daran auch einfach hörend erfreuen.

  • Obgleich es hier ja um die Lieder selbst und nicht um Liedgesang geht, bin ich diesem Thread noch einen Nachtrag schuldig, meinen vorletzen Beitrag betreffend. Ich sprach dort davon, dass ich die sängerische Interpretation des Mignon-Liedes „So laßt mich scheinen“ („Mignon III“) durch Elisabeth Schwarzkopf (begleitet von Gerald Moore) wunderbar und großartig finde und dass sie mich tief angerührt habe. Und da ich hier schon immer die Auffassung vertrat, dass man, wenn man eine Lied- CD hier anzeigt und vorstellt, auch in möglichst detaillierter Form mitteilen sollte, wie die Leistung der Interpreten einzuschätzen ist, sehe ich mich diesbezüglich nun in der Pflicht.


    Was also ist es, das hier sängerisch-interpretatorisch so großartig und dem Lied voll gerecht werdend gelungen ist? Es ist das „Durchschlagen“ des lyrisch-sprachlichen Gestus in die sängerische Gestaltung der melodischen Linie. Elisabeth Schwarzkopf lässt diese Mignon sich so artikulieren, wie sie das in der Situation, die dem Gedicht zugrunde liegt, lyrisch-sprachlich getan hat. Das heißt zunächst einmal, dass sie ihre Stimme in das Pianissimo einer völlig verinnerlichten Fast-Körperlosigkeit zurücknimmt, - bis auf den Schluss, dieses „Macht mich auf ewig wieder jung“, für das Wolf ausdrücklich ein Forte vorschreibt.


    So wie diese stimmliche Verinnerlichung hier zu erleben ist, habe ich dieses Lied von keiner einzigen Sopranistin sonst je gehört. Noch nicht einmal ansatzweise. Ich versuche, das an einzelnen Stellen der Interpretation zu konkretisieren. Das Wort „scheinen“ lässt die Sängerin ruhig und lange klingen, nimmt dann die Stimme noch weiter zurück, gibt aber gleichwohl dem Wort „werde“, das Gewicht, das ihm zukommt. Bei den Worten „nicht aus“ kommt ein leichtes Vibrato in die Stimme. Es ist Ausdruck der flehentlichen Bitte, die dieser Vers zum Ausdruck bringt („Zieht mir das weiße Kleid nicht aus“). Bei „schönen Erde“ vernimmt man einen Anflug von Verzückung in der gleichwohl immer noch leicht gebrochen wirkende Stimme. Bei „feste Haus“ erhält das Wort „feste“ einen Akzent, indem das Vibrato völlig aus der Stimme genommen wird.


    Wunderbar, wie E. Schwarzkopf die melodische Linie auf den Worten „eine kleine Stille“ stimmlich gestaltet. Sie nimmt unmittelbar nach dem Wort „stille“ die Stimme in dem kleinen Sekundfall, der sich hier ereignet, stark zurück und verstärkt damit dessen melodische Wirkung. Bei den Worten „dann öffnet sich der frische Blick“ bringt sie ein leichtes Crescendo in die melodische Linie, das hier gar nicht vorgeschrieben ist, so dass man an diesem imaginierten „Sich-Öffnen“ teilzuhaben meint. Die Worte „reine Hülle“ und „Kranz“ werden melodisch äußerst behutsam akzentuiert, indem ihre Deklamation ganz leicht verzögert wird.


    Bei dem Vers „Und jene himmlischen Gestalten“ kommt wieder ein leichter Ton der innerlichen Verzückung in die Deklamation der bogenförmigen melodischen Linie. Das Wort „Gestalten“ erfährt eine leichte deklamatorische Verzögerung auf der Basis eine fast ins Brüchige zurückgenommenen Stimme. Die Worte „keine Falten“ erklingen in einer Weise, die den mit einer harmonischen Rückung verbundenen Sextfall, den Wolf hier bewusst komponiert hat, voll zum Ausdruck bringt. Bei den Worten „Umgeben den verklärten Leib“ meint man in der stimmlichen Umsetzung der bogenförmig gedehnt fallenden und dann wieder steigenden melodischen Linie die „Verklärung“ des Leibes regelrecht zu vernehmen.


    Elisabeth Schwarzkopf bringt es – so wie Fischer-Dieskau, an den man sich in diesem Fall erinnert fühlt – ohne Mühe fertig, ein lyrisch-musikalisches „Zwar“ stimmlich perfekt zu gestalten. Die Stimme bleibt hier, wo die melodische Linie auf einer tonalen Ebene verharrt, in gleichsam „sachlicher“ Weise zurückgenommen. Aber mit dem „Doch“ („fühlt ich tiefen Schmerz genung“) kommt dann eine innere Anspannung in die Stimme, und sie bringt danach das Crescendo der aufsteigenden melodischen Linie in ruhig sich ereignender, und deshalb umso wirkungsvollerer Weise zum Ausdruck.


    Tief beeindruckend die sängerische Gestaltung der letzten Verse. Die Worte „Vor Kummer altert´ ich zu frühe“ wirken in der gebrochenen Zurücknahme der Stimme wie schmerzvoll in sich hineingesprochen. Und dann folgt der äußerst expressive Ausbruch der bislang zurückgehaltenen vollen Stimmlichkeit beim letzten Vers. Wobei unmittelbar anrührt, wie diese expressive Gestaltung des gedehnten Sekundfall-Bogens bei den Worten „auf ewig“, der am Ende in einen äußerst ausdrucksstarken und mit einer harmonischen Rückung verbundenen Oktavfall mündet, von Elisabeth Schwarzkopf interpretiert wird. Sie nimmt ihre Stimme einen Augenblick lang fast völlig zurück und lässt sie dann bei dem Oktavsprung am Ende wie zu neuem Leben erwacht erklingen.

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