Visionäre Entrückung wird in diesem Lied musikalisch imaginiert. Die Musik folgt jenem Weg von der „schönen Erde“ hinab in das „tiefe Haus“ und leuchtet dabei mit ihrer Melodik und einem in seiner Struktur komplexen Klaviersatz alle Bilder aus, die sich dabei im lyrischen Ich einstellen, wobei die des „realen Lebens“ sich mit jenen vermengen, die aus der Vision eines paradiesischen Lebens kommen. Und das Große an diesem Lied ist, dass diese Bilder alle ihre je eigene Musik finden. Sie will aus dem a-Moll, das ihr vorgegeben ist, immer wieder heraus, pendelt zwischen Dur und Moll hin und her, ergeht sich phasenweise in B-Dur, wird aber ins a-Moll wieder zurückgeholt, bis sie am Ende, jedenfalls mit der Harmonisierung der Melodik, in leuchtendem A-Dur landet. Das Nachspiel holt sie freilich wieder ins a-Moll zurück. Wie ist das zu verstehen?
„Sehr langsam und zart“ soll das Lied vorgetragen werden. Es setzt im Klaviersatz mit einem aus Terzen und Sexten gebildeten akkordischen Motiv ein, das in seiner melodisch fallenden Struktur dem Lied seinen klanglichen Grundcharakter verleiht. Es prägt die Begleitung der Singstimme in vielfältig modifizierter Form durchgehend, taucht auch mal wieder in seiner anfänglichen Gestalt auf und erklingt schließlich auch im Nachspiel. Und nicht nur dies: Es prägt sich über weite Strecken auch der melodischen Linie der Singstimme ein, die wirkt, als würde sie sich ihm anschmiegen und könne sich aus dieser Bindung nur vorübergehend lösen.
Gleich am Anfang, bei den Worten „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ ist dieses Sich-Einfügen der melodischen Linie der Singstimme in den Klaviersatz zu vernehmen. Pianissimo setzt sie auf einem hohen „c“ ein und folgt bei ihrem Weg hinunter zu einem tiefen „e“ genau der Abwärtsbewegung der Akkorde im Diskant. Es ist in ihrer durchgängigen Moll-Harmonisierung und in der Dominanz der fallenden Linie eine klanglich von Ergebung in das Schicksal und sanfter Trauer geprägte Melodik, die da in der ersten Strophe aufklingt. Freilich gibt es in der melodischen Linie auch Andeutungen von Entschiedenheit. Man vernimmt sie bei der zweiten Versgruppe der ersten Strophe. Zwar ist die Grundstruktur der Vokallinie hier noch immer eine fallende, es gibt darin aber immer wieder einmal partielle Aufwärtsbewegungen, und am Ende ereignet sich sogar zu dem lyrischen Wort „Haus“ hin ein mit einer harmonischen Rückung, in der kurz ein Dur aufklingt, verbundener Quintsprung mit nachfolgender Dehnung.
Mit dem ersten Vers der zweiten Strophe kommt eine gewisse Statik in die Struktur der melodischen Linie. Sie neigt dazu, auf einer tonalen Ebene zu verharren und weicht davon in silbengetreuer Deklamation zunächst nur um Sekunden nach oben und unten ab, bis sich dann der mit den Worten „frische Blick“ verbundene doppelte Sekundsprung mit nachfolgender Dehnung ereignet, der klanglich wie eine Befreiung aus den Zwängen der Moll-Harmonik wirkt. Das Lied wendet sich nach B-Dur hinüber, und das ist auch von der Metaphorik her angemessen: Das lyrische Ich lässt in seiner Imagination alles, was es im Augenblick an irdischer Kleidung trägt, zurück. Bemerkenswert aber: Im letzten Augenblick, bei dem Wort „zurück“ nämlich, schleicht sich das a-Moll wieder in die Harmonik der Vokallinie ein. Holt die reale Welt die Visionen des lyrischen Ichs wieder ein?
„Sehr leise“ (Anweisung) setzt die Singstimme mit dem ersten Vers der dritten Strophe ein. Das Klavier lässt wieder das fallende Terz-Sextakkord-Motiv erklingen, und die melodische Linie schmiegt sich, wie am Liedanfang, in diese Bewegung ein. Beim zweiten Vers macht sie jedoch am Ende (bei dem Wort „Weib“) einen Quartsprung mit Dehnung, der eine Öffnung für das mit sich bringt, was im dritten Vers mit der Konjunktion „und“ eingeleitet wird: Die Vision des „verklärten Leibs“. Mit einem ausdrucksstarken Sextfall bei dem Wort „keine“ und einer langen melodischen Dehnung auf dem Wort „umgeben“ wird sie musikalisch akzentuiert.
Mit der letzten Strophe steigert sich die Expressivität des Liedes von Vers zu Vers, bis sie beim letzten ihren klanglich überaus beeindruckenden Höhepunkt erreicht. „Mit immer gesteigertem Ausdruck“, so lautet denn auch hier die Vortragsanweisung. Tonrepetitionen prägen die melodische Linie der Singstimme, wobei der Steigerungseffekt nicht nur dadurch zustandekommt, dass in insistierender Weise auf einer tonalen Ebene deklamiert wird, sondern auch dadurch, dass diese von Vers zu Vers um eine Sekunde und einmal um eine Terz angehoben wird, und dabei ein Crescendo auf das andere folgt. Bei dem Wort „genung“ am Ende des zweiten Verses tritt ein Augenblick der Ruhe in Gestalt einer Dehnung in die Vokallinie, die sich in einer Abfolge von Achteln aufwärts bewegt. Dehnungen dienen auch dazu, lyrisch bedeutsame Worte besonders zu akzentuieren, - „Kummer“ und „altert“ nämlich.
Bei dem Wort „frühe“ am Ende des dritten Verses macht die melodische Linie zwar einen kleinen Sekundfall, der dient aber nur dazu, dem Terzsprung zu einem hohen „ges“ bei dem Wort „macht“ eine um so stärkere klangliche Expressivität zu verleihen. Die Singstimme hat jetzt den Forte-Bereich erreicht. Im weiteren Verlauf der Deklamation bleibt sie zunächst auf diesem hohen „ges“, macht aber bei dem Wort „ewig“ einen überaus ausdrucksstarken doppelten Sekundfall mit Dehnung. Das Wort wird auf diese Weise melodisch stark hervorgehoben. Und als wäre der Expressivität noch nicht genug, ereignet sich auf seiner letzten Silbe ein Oktavfall zu dem Wort „jung“ hin, der mit einer harmonischen Rückung nach A-Dur verbunden ist.
Dem innigen Wunsch des wieder Jung-Werdens wird mit diesen melodischen Mitteln und der ungewöhnlichen harmonischen Rückung auf höchst beeindruckende Weise musikalischer Ausdruck verliehen. Freilich ist da ein kleines Decrescendo in der Vokallinie. Drückt sich darin Zweifel an der Erfüllbarkeit des Wunsches aus? Das Nachspiel mit seinen a-Moll-Figuren verstärkt diesen Eindruck.
(der zugrundeliegende lyrische Text findet sich mitsamt Kommentar am Ende der vorangehenden Seite!)