Richard WAGNER: PARSIFAL (Berliner Staatsoper unter den Linden, 1992)

  • Libretto: Richard Wagner



    Parsifal – Poul ELMING


    Gurnemanz – John TOMLINSON


    Kundry – Waltraud MEIER


    Amfortas – Falk STRUCKMANN


    Klingsor – Günter VON KANNEN


    Titurel – Fritz HÜBNER



    Chor der Deutschen Staatsoper
    Chorleiter: Ernst STOY


    Staatskapelle Berlin
    Musikalische Leitung: Daniel BARENBOIM


    Regie: Harry KUPFER


    Bühne: Hans SCHAVERNOCH


    Kostüme: Christine STROMBERG



    Spieldauer: 245 Min. (3 DVDs)


    Gesamturteil: Sehens- und hörenswerte Interpretation mit inszenatorischen Schwächen.



    Düster und futuristisch anmutend präsentiert sich Kupfers Interpretation des „PARSIFAL“, als ob es die Gralsritter in eine nicht näher
    definierte Zukunft verschlagen hätte. (Auch sein „Ring“ in Bayreuth war ja in einer zukünftigen postatomaren Welt angesiedelt.)


    Der erste Aufzug zeigt eine Art dunkles, mit gewelltem Metall ausgeschlagenes Areal, durch das von links helles Licht einbricht,
    welches durch die Öffnung einer riesigen runden, an eine Tresortür erinnernden Öffnung flutet. Es ist ein kaltes, weißes Licht, welches lediglich
    Nebelschwaden zeigt, die draußen vorbeitreiben. Von dort kommen auch die „Waldhüter“, die Gurnemanz zu sich ruft und auch der See, in dem Amfortas sein
    Bad nimmt, liegt jenseits dieser Tür. Das kalte Licht und der Nebel deuten jedoch an, dass es um die Natur da draußen nicht zum Besten bestellt ist. Weiß
    ist ebenfalls die Farbe, in der die Bewohner der Gralswelt gekleidet sind und deren Kleidung (z.B. bei Gurnemanz) entfernt an mittelalterlich-ritterliche
    Gewänder aber auch an die Jedi-Ritter aus den Star-Wars-Filmen erinnern. Kundry trägt einen langen Mantel unter dem sie mit einem schwarzen Oberteil und einer Hose bekleidet ist, während Parsifal in langen schmucklosen – an Jesusdarstellungen erinnernden - Leinenkleidern auftritt.


    Gurnemanz wird hier als stattlicher, aktiver Mann gezeigt, der z.B. die Gralsritter, die Kundry mit Fußtritten traktieren, zur Raison
    bringt und Parsifal mehrfach zum Niederknien in der Gralsburg anhält. (Parsifal, mit dem Ritus nicht vertraut nimmt aber eine eher geduckte,
    eingeschüchterte Haltung an.) Auch scheint Gurnemanz schon recht früh bei dem Gespräch mit Parsifal zu ahnen, wen er da vor sich haben könnte. Als er den
    jungen Toren dann aber aus der Gralswelt weist und nochmals das „Durch Mitleid wissend…“ ertönt, ist es aber Kundry, die, aus dem Dunkel hervorkriechend, die
    Bedeutung Parsifals zu erkennen scheint.


    Gralskönig Amfortas trägt man auf einem Stuhl herein, der eher an ein Krankenhausutensil, als an eine Sänfte oder einen Thron denken
    lässt. Groß und deutlich sieht man das Blut der Wunde auf seinem Gewand. Bei der Enthüllung des Grals leidet er wie ein Hund, während die Ritterschaft wie
    in einem kollektiven Taumel zu Boden sinkt. Er selbst wird, auf einer großen Stahlnadel (dem verlorenen Speer nachgebildet?) liegend, den Gral hochhaltend,
    in die Höhe gefahren. Sein Vater, Titurel, sitzt derweil auf einem erhöhten „Krankenhausthron“, unfähig, sich noch von der Stelle zu bewegen. Nach dem
    Zeremoniell blicken alle, auch der erschöpfte Amfortas, erwartungsvoll auf Parsifal. Der weiß natürlich nicht, was man von ihm erwartet – wie soll er
    auch? – und zuckt später nur ratlos mit den Schultern, als Gurnemanz ihn fragt, ob er wisse, was er gesehen habe. Hilfesuchend wie ein Kind fällt Parsifal
    daraufhin Gurnemanz zu Füßen – und wird seines Weges gewiesen.


    Auch der zweite Aufzug zeigt einen großen dunklen Raum, in den sich (diesmal rechts) eine große, runde Stahltür öffnet (durch die Klingsor
    später Parsifals Kampf mit seinen Rittern beobachtet). Klingsor wird mit dem heiligen Speer (aus Plexiglas?!?) auf einem großen beleuchteten Stahldorn
    liegend von links auf die Bühne gefahren. Die Bühne zeigt also einen spiegelverkehrten / umgekehrten Aufbau der Gralsburg
    aus dem ersten Aufzug, wobei Amfortas und der Gral durch Klingsor und den Speer ersetzt wurden. Beide besetzen also ein Ende der von der einen in die andere
    Welt ragende Stahlnadel. Allerdings nimmt die verführerische Kundry später deren Platz ein, wenn sie Parsifal zu verführen trachtet. (Die Glaubenswelt des
    Grals, Klingsors alles in Frage stellende Welt und die durch Kundry verkörperte Erotik bilden also ein Dreieck, in dem sich Parsifal befindet. Eine nicht
    uninteressante Konstellation, die aber kaum aufzulösen ist.)


    Zuvor sieht sich aber der reine Tor noch mit den Blumenmädchen konfrontiert, die hier lediglich ausschnittweise auf Bildschirmen auftauchen,
    die sich wiederum auf einem rot leuchtenden „Lichtnetz“ befinden. Verführerisch ist das nicht, gemahnt aber an modernen Cybersex, was wohl auch beabsichtigt
    ist. Aber leider ist es recht uninteressant Parsifal zwischen den Monitoren herumirren zu sehen. Ein Zusammenspiel in irgendeiner Form findet hier nicht statt. Bei der Begegnung mit Kundry sieht das schon anders aus, da das Verhalten und die Ansichten Parsifals sie mitunter aus der Fassung bringen. Hier zeigt sich Kupfers Stärke, ganz nah am Text zu inszenieren. Der Untergang von Klingsors Reich ist da allerdings eher enttäuschend: Klingsor bricht unter einem Funkenregen (einem Kurzschluss?) zusammen, während im Hintergrund die durchgebrannten Monitore der Blumenmädchen sichtbar werden.


    Der dritte Aufzug zeigt wieder eine linksseitige Stahl-/Tresor-Tür, durch die Licht auf eine dominierende Stahlwand der Gralswelt fällt, vor der sich einige niedrige Sitzgelegenheiten(?) befinden. Ein Wartesaal der futuristischen Gralsburg?


    Kundrys Figur hat eine Wandlung durchgemacht, da sie nun mit einer an eine Nonne oder Mariengestalt erinnernden Kopfbedeckung zu sehen ist.
    Wie betäubt irrt sie umher und kann nur noch stammelnd die Worte „Dienen..dienen…“ hervorbringen. Ihre Verwandlung scheint nicht zu ihrem Vorteil erfolgt zu sein.
    Parsifal erscheint in einem bodenlangen schwarzen Gewand mit hochgeschlagenem Kragen, während Gurnemanz´ Kleidung eher nachlässig angelegt wirkt.


    Der Karfreitagszauber wirft überraschend eine Projektion von Wolken, die über einen blauen Himmel ziehen, auf die große Stahlwand.
    Beeindruckend – aber was soll dieses Bild? Repräsentiert es die Erinnerung an eine im Text immer wieder beschworene Natur, die es hier doch schon gar nicht
    mehr gibt? Ein „Märchen aus uralten Zeiten“?


    In der Gralsburg (mit Titurels schmucklosem Sarg) begehrt Amfortas mit nacktem Oberkörper und somit gut sichtbarer Wunde gegen seine
    Ritterschaft auf. Parsifal – noch immer schwarz gewandet – berührt ihn mit dem Speer, ohne dass sich die Wunde nun irgendwie verändern oder schließen würde.
    Gurnemanz hilft Amfortas von der Stahlnadel, während der Gral und der Speer darauf vereint über die Ritterschaft emporgehoben werden. Ein Teil der
    Ritterschaft sinkt oder fällt zu Boden, ohne dass sie weiter auf Parsifal oder Amfortas achten, der sich nun dem neuen Gralskönig mit einer hilfesuchenden
    Geste entgegenwendet – und stirbt. Kundry, nun mit offenem Haar, will Parsifal mit sich aus der Gralsgesellschaft führen, dieser aber bleibt mit verzweifelt
    vors Gesicht geschlagenen Händen stehen. Gurnemanz berührt in sanft und Parsifal lässt die Hände wieder sinken. Der Vorhang schließt sich und sichtbar
    bleiben vor ihm Kundry, Parsifal und Gurnemanz (frontal zum Publikum gewandt) stehen.



    Alles in allem eine Inszenierung, die viele Fragen aufwirft und sie nicht alle beantworten kann oder will. Die merkwürdige Stahlnadel (Speerspitze? Kompassnadel?)
    bleibt ebenso ein Rätsel, wie die im Text immer wieder beschworene Natur, die auf der Bühne (außer im Karfreitagszauber) nicht sichtbar wird.


    Am stärksten wirkt hier der erste Aufzug, da Kupfer hier das Leiden Amfortas´ regelrecht spürbar macht und mit der runden
    Tresortür/Stahltür/Luftschleuse ein starkes Bild für die (weltfremde?) hermetische Abgeschiedenheit der Gralswelt findet. Auch das Verhalten der
    Ritter, regelrechten Gralsjunkies, ist beeindruckend in Szene gesetzt. (Selbst wenn die merkwürdigen, sich gegenseitig umklammernden kleinen Gruppen, in denen
    sich die Ritter anfangs bewegen, recht seltsam anmuten.) Der zweite und dritte Aufzug fallen gegen diese Geschlossenheit ab.


    Das Ende der Inszenierung bietet reichhaltigen Stoff zur Interpretation und Spekulation: Kundry, Parsifal und Gurnemanz blicken ratlos
    ins Publikum – für sie gibt es nichts mehr zu tun: Der Speer ist wieder an seinem Ort (auch wenn man an seiner Wunderkraft zweifeln kann), die
    Ritterschaft hat ihre Gralsenthüllung und scheint sich für nichts weiter zu interessieren. Was bleibt ihnen also zu tun? Die Beibehaltung des neuen staus quo scheint den Dreien jedenfalls nicht zu behagen. (In einer früheren Inszenierung hat Kupfer Parsifal mit dem Gral abgehen lassen, woraufhin ihm Kundry, Gurnemanz und einige Ritter folgten. Die Gralsgesellschaft brach auseinander, hatte aber immerhin auch die Chance zu einem Neuanfang, der hier nicht in Aussicht gestellt wird.)


    Musikalisch und sängerisch überzeugt diese Produktion jedoch durchaus. Struckmanns ruppiges Timbre ist zwar Geschmackssache, aber ansonsten ist jede Rolle gut (Parsifal, Klingsor) bis sehr gut (Kundry, Gurnemanz) besetzt und Daniel Barenboim dirigiert das Werk ohne jegliche Extravaganzen in der Tempiwahl, die er sich
    sonst bei Wagner gerne gönnt. Leider scheinen die Sänger jedoch im dritten Aufzug alle etwas nachzulassen. Ich verstehe nicht ganz, warum das so ist, da
    es sich meines Wissens nach nicht um einen „am Stück“ aufgezeichneten Livemitschnitt handeln dürfte, wo das natürlich vorkommen kann.


    Ein kurzes Wort noch zum Booklet der DVDs: Hier hätte man sich mehr Mühe geben müssen! Neben der Auflistung der Besetzung und der Tracks
    der einzelnen DVDs findet man lediglich einen kurzen Begleittext und eine dürftige Inhaltsangabe von einem gewissen David Patmore. Beides auf niedrigem
    Schülerniveau und noch dazu grottenschlecht aus dem Englischen von Stephanie Wollny übersetzt. Das ist peinlich.



    Fazit: Mehr Fragen als Antworten in einer musikalisch ansprechenden Produktion.

  • Die Inszenierung scheint auch vor allem darauf bedacht zu sein, ja nicht Wagners Librettoanweisungen zu befolgen. Herr Kupfer hat sich scheinbar verlesen: Nicht Amfortas, sondern Kundry stirbt am Ende. So ein Schwachsinn. Kann man nicht einmal das sehen, was Wagner vorschreibt? Einmal, ein einziges Mal nur? Einfach nur zum Jammern. :no:


    (Soll keine Kritik an deiner Rezension sein, es geht allein um die Inszenierung.)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Na, für den geheilten Amfortas is da ja sicher noch n Dienstwagen und ne Sekretärin drin ...


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Hallo,


    ja sicher.Wenn es einen emeritierten Papst gibt,warum nicht dann auch einen emeritierten Gralskönig?
    Aber ernsthaft:ich habe im vergangenen Jahr den neuesten Bayreuther Parsifal auf meinem Mediareciever aus dem Fernsehen aufgenommen.Bisher hatte ich nicht den Mut,ihn auch anzuschauen.Der Parsifal ist offenbar die liebste Spielwiese der Regisseure.Wann kommt einmal der Dirigent,der sagt: "hier mache ich nicht mit,Staatsoper hin oder her".


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Zitat

    Zitat von Joachim Schneider: Wann kommt einmal der Dirigent,der sagt: "hier mache ich nicht mit,Staatsoper hin oder her".


    Lieber Joachim,


    erst einmal herzlich willkommen im Kreis der Forumsmitglieder. Deine Frage habe ich mir schon oft gestellt. Es gibt Dirigenten, die diesen Müll ablehnen, aber viele sind auch abhängig davon, was der Intendant diktiert und haben - wie die Sänger - dann Schwierigkeiten, irgendwo anders angenommen zu werden.
    Ich hatte mir diesen Parsifal aus Bayreuth damals auch aufgenommen und dann aber nur im Schnelldurchlauf angesehen, weil das nun wirklich mit Wagners Parzifal wenig zu tun hatte. Du versäumst wohl nichts, wenn du ihn dir nicht oder - um dir ein Urteil zu bilden - nur im Querschnitt anschaust. Der Salzburger Parzifal 2013 war noch ein gutes Stück schlimmer.
    Wenn ich dir eine Parzifal-Inszenierung empfehlen darf, ist es diese, an der man sich wirklich erfreuen kann.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Hallo Gerhard,


    vielen Dank für den Hinweis.
    Es gibt übrigens eine amüsante Anekdote über Hans Knappertsbusch.Dieser wurde gefragt,wie er denn mit den "Hypermodernen" Inszenierungen von Wieland Wagner zurechtkomme (das waren noch Zeiten!).Knappertsbusch antwortete brummend:ich sehe einfach nicht hin".


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Wenn es einen emeritierten Papst gibt,warum nicht dann auch einen emeritierten Gralskönig?

    Den gab es ja vorher auch schon in Gestalt von Titurel zur Zeit der Regentschaft des Amfortas. Ganz abwegig finde ich die Idee aber nicht, Amfortas anstelle Kundrys sterben zu lassen, weil einerseits "Erlösung" bei Wagner sonst ja eigentlich auch immer nur im Tode möglich ist, und weil man andererseits über Wagners Zeichnung der Kundry ja nicht in Begeisterung ausbrechen muss (auch nicht über sein generelles Frauenbild). Und wenn man dann noch Kundry als doch antisemitisch gefärbte Rolle mitdenkt und sich erinnert, dass der Schriftsteller Wagner die Erlösung der Juden nur in deren physischer Vernichtung möglich sah, dann finde ich diese "Korrektur" Wagners durch Kupfer sehr verzeihlich. Übrigens ließ Kupfer schon in seiner ersten "Parsifal"-Inszenierung an der Staatsoper Berlin (Premiere am 10. Juli 1977) Amfortas statt Kundry sterben. Insgesamt hat mich diese erste "Parsifal"-Inszenierung Kupfers an der Staatsoper Berlin weit mehr überzeugt als die zweite, die hier auf DVD erschienen ist und besprochen wurde - gerade das "klinische" Bühnenbild des Herrn Schavernoch ist gar nicht meins und die einzelnen Brüste und Augen auf Monitoren während der Blumen-Szene (die Sängerinnen sangen im benachbarten Apollo-Saal. ihre Stimmen wurde elektronisch in den Zuschauerraum übertragen,während auf der Bühne nur diese flackernden Monitore zu sehen waren) überzeugten mich auch nicht wirklich. Auch dieser Karfreitagszauber als Lichtspiegelung auf dem "Müllcontainer" war auch nicht mein Fall, das war in der ersten Kupfer-Inszenierung noch ganz hinreißend gelöst, als der Schnee in Gestalt weißer Laken dem Grün der erblühenden Aue wich). Insofern ist es schade, dass nicht auch die erste Kupfer-Inszenierung von 1977 (Premierenbesetzung war Dvorakova, Wenkoff, Adam, Vogel und Stryczek unter Suitner) in dieser technisch guten Qualität gesendet und/oder aufgezeichnet wurde.


    Musikalisch und sängerisch überzeugt diese Produktion jedoch durchaus. Struckmanns ruppiges Timbre ist zwar Geschmackssache, aber ansonsten ist jede Rolle gut (Parsifal, Klingsor) bis sehr gut (Kundry, Gurnemanz) besetzt

    Komisch, ich mag gerade Struckmann ganz besonders und sehe mir von dieser Aufzeichnung fast immer nur die erste Gralsszene an - wegen Struckmann als Amfortas und wegen Fritz Hübner als Titurel - während Tomlinson für mich ein rotes Tuch ist, da er stimmästhetisch meines Erachtens häufig zu deutlich über die "Grenzen des guten Geschmacks" hinausgeht.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Hallo,


    ob die Tatsache,daß Wagner Kundry sterben lässt,Ausdruck seines eliminatorischen Antisemitismus ist,kann man kontrovers diskutieren.Aus seiner bekannten Hetzschrift sind bei dem für Wagner typischen verquasten Deutsch auch andere Interpretationen möglich,was von seinen Apologeten auch eifrig ausgenutzt wird.Eher ist die Darstellung Kundrys typisch für Wagners Frauenbild,worauf ja Stimmenliebhaber schon hingewiesen hat.


    Merkwürdig und unlogisch ist mir immer vorgekommen,daß in Gegenwart des Grals,der ja Titurel über seine Zeit hinaus am Leben gehalten hat,überhaupt jemand "entseelt" zu Boden sinken kann.
    Konsequent wäre es dann für die Regie,beide,Amfortas und Kundry,am Leben zu lassen.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Merkwürdig und unlogisch ist mir immer vorgekommen,daß in Gegenwart des Grals,der ja Titurel über seine Zeit hinaus am Leben gehalten hat,überhaupt jemand "entseelt" zu Boden sinken kann.
    Konsequent wäre es dann für die Regie,beide,Amfortas und Kundry,am Leben zu lassen.


    Ich habe jetzt nicht im Text nachgeschaut, aber gibt es da nicht so einen Hinweis, dass nur den der Gral stärkt und geleitet, der "von ihm erkoren" ist? Amfortas ist erkoren und könnte demnach nicht in Gegenwart des Grales sterben, Kundry als vom Gral nicht Erkorene (noch heute sind ja in der katholischen Kirche die Frauen nicht zum Priesteramt "erkoren") hingegen schon.


    Als ich noch jung war und das Werk nicht besonders mochte, habe ich mir immervorgestellt, dass bei der Gralsenthüllung in der Schluss-Szene vielleicht Titurels Sargdeckel aufgehen müsste und der alte Gralskönig sich rekelnd neu gestärkt zu neuem Leben erwacht... :D

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Hallo,


    das ist wirklich einmal eine ungewöhnliche Idee!Sollte hier ein Opernregisseur mitlesen,wissen wir ja,was wir bei einer der nächsten Inszenierungen zu erwarten haben.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

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  • So wie ich den heutigen Opernbetrieb einschätze, hat es das inzwischen bestimmt längst schon irgendwo gegeben. :D


    In Braunschweig soll Titurel im Schlussbild des 3. Aktes noch munter mit rumgerannt sein, bis er von den Gralsrittern erschlagen wurde... ;(

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Aber ernsthaft:ich habe im vergangenen Jahr den neuesten Bayreuther Parsifal auf meinem Mediareciever aus dem Fernsehen aufgenommen.Bisher hatte ich nicht den Mut,ihn auch anzuschauen.


    Das dürfte der Herheim-Parsifal gewesen sein; schau mal hier.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Hallo,


    ich möchte auf das Feuilleton der heutigen FAZ verweisen, in dem sich ein Artikel von Christian Wildhagen über den "Gralsraub", d.h. die massenweise Aufführung des Parsifal nach dem Ende der damaligen Schutzfrist (31.12.1913) befindet.
    Vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges gab es -nur in Europa- Parsifal-Aufführungen in 50 Städten!
    Sehr interessant und diskussionswürdig ist auch Wildhagens Vermutung, daß hier eine gewisse Vorstufe zu "jenem kollektiven Begeisterungstaumel" zu sehen sei,"der im August des Jahres ganz Europa erfasst" habe.Er meint selbst, dies sei sicher eine grob verkürzte Darstellung, aber folgenden Gedanken finde ich durchaus nachdenkenswert:
    "Der kultische Geist des Bühnenweihfestspiels kreuzte sich mit den jugendbewegten Idealen einer Epoche, die Jüngertum, kollektive Hingabe an eine Sache und schließlich das bedingungslose Opfer für Volk und Vaterland bis zur Hysterie propagierte".


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Ich habe das auch gelesen und finde den Beitrag bemerkenswert. Nur kann ich auch den von Dir herausgehobenen Gedanken nicht nachvollziehen. Interessant ist er allemal.


    LG Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • "Der kultische Geist des Bühnenweihfestspiels kreuzte sich mit den jugendbewegten Idealen einer Epoche, die Jüngertum, kollektive Hingabe an eine Sache und schließlich das bedingungslose Opfer für Volk und Vaterland bis zur Hysterie propagierte".


    Nichts Neues unter der Sonne.
    Massenhysterie zu entfachen ist schon seit Urzeiten ein wirksames Mittel im Kampf um religiöse oder politische Macht. Wie einfach das sein kann,
    lässt sich aus der Rede des Marc Anton nach der Ermordung Cäsars ersehen.


    Am Grad der Wirkung gemessen, war die Musik der Beatles ebenso suggestiv wie eine Rede Hitlers. Das Ergebnis war immer ein mentaler Schockzustand der Zuhörer, bei Hitler beabsichtigt, bei den Beatles vermutlich nicht. Doch wären die Beatles nicht DIE BEATLES ohne in Ekstase kreischende oder gar ohnmächtig werdende Teenager.


    Wieso also sollte die Hysterie der Dreißigerjahre die der Kreuzzüge oder des Hexenwahns übertroffen haben?


    Gänzlich unverständlich nun finde ich die genannte Verbindung zu Parsifal.


    War nicht Parsifal ein eigenwilliger und bisweilen sogar verstockter Einzelgänger? Wo gibt es in dieser Oper Ansätze zu Hysterie außer bei den Rittern? Die aber bekleckern sich dort fürwahr nicht mit Ruhm, eher mit Rum oder was da eben im Kelch ist.
    Ein unsympathisches, mitleidloses Rittergezücht, wenn man so will.Und Gurnemanz? Er gibt väterlichen Rat, ein Volksverhetzer ist er durchaus nicht.
    Dann haben wir noch Kundry. Die Eigenwilligste von allen.
    Und wo, frage ich mich, taucht hier Volk und Vaterland aus der Gralsburg auf?


    Es tut mir leid, ich sehe es nicht. Hat hier jemand einen schärferen Blick?

  • Hallo,


    Wildhagen hat hier nicht das "Personal" des Parsifals im Blick oder die für uns Heutige mögliche Interpretationsweise der Handlungen dieser Personen, sondern die vom chauvinistischen und nationalistischen "Bayreuther Kreis" gepflegte und z.B. mit den Bayreuther Blättern der Öffentlichkeit aufgedrängte spezifische Sicht der unmittelbaren Wagner-Anbeter, die ihre Auffassung vom Parsifal als vom "Meister" und der "Meisterin" im Sinne einer Ersatzreligion geheiligte und einzig Legitime betrachteten.
    Bedenkt man zudem, daß die Lebensreformbewegung am Anfang des Jahrhunderts und auch der Wandervogel z.T. in nationalistischem und antisemitischem Fahrwasser unterwegs waren (Karl Klindworth,der Adoptivvater von Winifred Wagner gehörte z.B. einer Lebensreformgemeinde an) und daß auch der Schulunterricht in allen Schultypen an die Opferbereitschaft und den Idealismus der Schuler appellierte, wobei sowohl der Geschichts- wie der Deutschunterricht entsprechend eingesetzt wurden, so kann man schon Verbindungen zu dem vielbesungenen "Gemeinschaftserlebnis" des Volkes in den ersten Kriegsmonaten und der Parsifalbegeisterung zum Anfang des Jahres 1914 sehen.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Wildhagen hat hier nicht das "Personal" des Parsifals im Blick oder die für uns Heutige mögliche Interpretationsweise der Handlungen dieser Personen, sondern die vom chauvinistischen und nationalistischen "Bayreuther Kreis" gepflegte und z.B. mit den Bayreuther Blättern der Öffentlichkeit aufgedrängte spezifische Sicht der unmittelbaren Wagner-Anbeter, die ihre Auffassung vom Parsifal als vom "Meister" und der "Meisterin" im Sinne einer Ersatzreligion geheiligte und einzig Legitime betrachteten.


    Vielen Dank für die Ergänzung. Ich habe Wildhagens Artikel nicht gelesen, glaube aber, dass der genannte Bayreuther Kreis der Vergangenheit angehört und vermutlich in naher Zukunft auch nicht auferstehen wird.
    Interessiert hat mich diese Art metaphysischer Deutung wagnerscher Werke im Grunde nie, selbst wenn der große Meister selbst der Urheber war.
    Man weigert sich ja auch nicht, im Notfall eine lebensrettende Medizin zu nehmen, auch wenn deren Entwickler ursprünglich böse Absichten mit ihr verfolgte.

  • Geschichtsphilosophisch möchte hier einige Zweifel anmelden. Parsifal ist kein Neuerer, sondern ein Konservator. Die Entwicklung der Handlung ist zirkulär, Parsifal muß Amfortas´ Vergehen durch Verzicht rückgängig machen und dessen Wunde mit der zweideutigen Longinuslanze verschließen. Die komplexe Weltentzweiung der Gralswelt, wie wir sie zu Beginn der Oper erleben, wird in ihr ideales, schlichtes Schema zurückgebogen. Die Idee Wolframs von Eschenbach, die höchste Entwicklungsstufe des ritterlichen Bewußtseins mit der christlichen Ethik zu identifizieren, schrumpft bei Wagner zu einer liturgisch-symbolischen Geste der Selbstverneinung. Das klingt wie Wotans "Das Ende! Das Ende!" Bei Syberberg sterben am Schluß Kundry und Amfortas, aufgebahrt wie auf einem gotischen Katafalk. Eigentlich könnten alle entseelt niedersinken, denn der Erlösungsgetus erschöpft sich in sich selbst. Für den Parsifal des dritten Akts gibt es kein "zu neuen Taten", eher ein posttraumatischen Belastungssyndrom.


    Der Aufbruch einer Jugendgeneration in die Schlachten von 1914 scheint mir damit wenig kompatibel.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Das klingt wie Wotans "Das Ende! Das Ende!"


    Bei Amfortas doch nur, was sich aber in seinem Fall zu einer realen Euthanasie-Frage entwickelt. Gurnemanz und Kundry sind alt und haben wie die Lachse nach einer langen Wanderung ihre Pflicht getan. Das ist schlicht, ohne alle Metaphysik, nur der Gang der Natur.


    Sorry, gemeint war es so sicherlich nicht, wenn es überhaupt ernsthaft gemeint war.
    Für mich ist dieses quasi-sakrale Werk einfach Karfreitags-Musik, mit Leiden und Erlösung als zentrales Thema. Das Wunder offenbart sich hier in der überirdisch schönen Musik.


    Das übrigen Wunder stützen in gewisser Weise Nietzsches Verdacht, Wagner wolle sich mit dem Parsifal die Gunst der katholischen Kreise in Deutschland erkaufen.


    Allerdings, der Erlösungsgedanke findet sich in fast allen Wagner-Opern, was wiederum Nietzsche in Aktion brachte:
    "In jeder seiner Opern kommt ein altes Weiblein vor, das erlöst werden möchte."