Ich glaube nicht, daß man, um "religiöse" Musik verstehen und angemessen interpretieren zu können, religiös im konfessionellen oder dogmatischen Sinne sein muß. Aber man muß die geistige Dimension, die religiöse Einstellung, mitvollziehen und nacherleben können, die dem Musikstück zugrunde liegt. Franz Liszt war ein tief religiöser Mensch und "Erfinder" des religiösen Klavierstücks. Wenn man das Stück "Engel" oder die Wasserspiele der Villa d´Este aus dem 3. Band der "Annes de Pelerinage" ohne religiöse Haltung spielt, dann wird das leeres Tastengeklimper. Viele Interpreten scheitern genau deshalb an diesem 3. Band, flüchten sich etwa in eine Dramatisierung. Mit "religiös" ist hier eine Haltung kontemplativer Andacht gemeint, die das Bewußtsein über das Alltägliche hinaushebt. Man kann das mit Friedrich Schleiermachers Idee der Kunstreligion begründen (Kunst als Anschauung des Univsersums ist religiös ohne eine Religion zu sein) oder mit Wilhelm Weischedel "ontologische Erfahrung" nennen - eine Erfahrung der Zeitenthobenheit.
Schöne Grüße
Holger