Schubert und Goethe. Wie große Lyrik zu großer Liedkunst wurde

  • Das Lied entstand am 23. Oktober 1815. Es gehört in die Reihe der Wilhelm Meister-Vertonungen. Ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde, die Tonart ist A-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „Mässig“. Der Form nach handelt es sich um ein variiertes Strophenlied: Die erste und die zweite Strophe sind identisch, die dritte weicht in ihrer Faktur von ihnen ab. Identisch ist bei den beiden ersten Strophen auch der Refrain, den Schubert textlich stark ausweitet. Er lautet hier: „Dahin, dahin / dahin möchte ich mit dir, o mein Geliebter (Beschützer) ziehn / dahin, dahin, dahin / dahin möchte ich mit dir o mein Geliebter (Beschützer) ziehn / dahin, dahin, dahin.“ Die dritte Fassung des Refrains weist wiederum kleine Modifikationen in der Faktur auf.


    Ein derart massiver Eingriff in den lyrischen Text in Gestalt von geradezu exzessiver Wiederholung ist ungewöhnlich für Schuberts Liedkomposition. Offensichtlich hat er in dem als tiefinnerlichen Wunsch und als nachdrücklich geäußerte Bitte artikulierten „Dahin“ das lyrische Zentrum des Gedichts gesehen und sein Lied von daher komponiert. Immerhin konnte er von Goethe ja wissen, dass Mignon das „Kennst du es wohl?“ „geheimnisvoll und bedenklich“ aussprach, die Schlussverse aber „bald bittend, dringend, hurtig und vielversprechend“. Genau dieses will auch der Refrain in Schuberts musikalischer Faktur zum Ausdruck bringen. Und ganz in der Logik des im Grunde ja szenischen Ansatzes dieser Komposition liegt es auch, dass die melodische Linie der Singstimme in arioser Weise weit phrasiert angelegt ist.


    Zwar liegt auf den ersten vier Versen je eine Melodiezeile, und in ihre Abfolge ist sogar noch jeweils eine Achtelpause eingeschoben. Dennoch empfindet man diese Versgruppe als melodische Einheit, auf die dann nach einer dreitaktigen Pause der Singstimme das melodisch isolierte und dadurch in seinem Fragecharakter akzentuierte „Kennst du es wohl?“ folgt. Vor dem Einsatz der Singstimme wird hier ein sechsstimmiger arpeggierter Akkord angeschlagen, der den ganzen Takt über gehalten wird und im Zusammenhang mit einer harmonischen Rückung in einen weiteren Akkord mündet. Die melodische Linie macht bei diesen Worten einen ausdrucksstarken Quartfall, dem eine bogenförmige Aufwärtsbewegung mit anschließender Dehnung (Fermate) folgt. „Geheimnisvoll und bedenklich“ (im Sinne von nachdenklich) klingt das sehr wohl. Und vor allem wirkt es eindringlich, und man empfindet es wie eine Öffnung eines musikalischen Portals für den expressiven Refrain.


    Dass man die vier Melodiezeilen trotz ihrer Trennung durch Pausen als musikalische Einheit empfindet, das hat wesentlich damit zu tun, dass sie melodisch ineinandergreifen und so strukturiert sind, dass sie jeweils wie die Fortführung der vorangehenden Zeile wirken. So setzt zum Beispiel die zweite Melodiezeile („Im dunklen Laub…“) mit einem auftaktigen Sextsprung auf genau dem gleichen Ton an wie die erste. Die dritte macht zweimal dieselbe Abwärtsbewegung und endet dabei jeweils auf dem Ton, mit dem die zweite ausklang. Und die vierte schließlich setzt auf dem Ton an, mit dem die dritte endete. Das sind die gleichsam strukturellen Ursachen dafür, dass man die Melodie des Liedes als ausgeprägt kantabel und arios empfindet.


    Unterstützt wird dieser klangliche Eindruck durch den Klaviersatz. Ist er bei den ersten beiden Versen zunächst noch vorwiegend akkordisch angelegt, so geht er nach einer harmonischen Rückung am Ende des zweiten Verses in eine Abfolge von triolischen Arpeggien im Diskant über, die das Klangbild bis zu den Frage „Kennst du es wohl?“ stark prägen und auch die dreitaktige Pause ausfüllen, bevor die Singstimme sie in dieser markanten Weise deklamiert.


    Beim Refrain treten an die Stelle der triolischen Arpeggien sich rasch auf und ab bewegende Sechzehntel, denen in rhythmisch akzentuierter Weise akkordische Achtel im Bass zugeordnet sind. Auf diese Weise wird der drängend-eindringliche Charakter der melodischen Linie der Singstimme in markanter Weise intensiviert. Eine Steigerung dieses Effekts erreicht Schubert dadurch, dass er bis zu der Wiederholung der Worte „Dahin möcht ich mit dir…“ diese rasche Abfolge von Sechzehnteln in sich mehrfach wiederholender Aufwärtsbewegung anlegt. Dann aber, wenn der Geliebte („Beschützer“, „Vater“) angesprochen wird, voll zieht sich das Auf und Ab der Sechzehntel auf nur einer tonalen Ebene, und damit wird das klanglich Drängende aus der melodischen Linie ein wenig zurückgenommen und der Charakter von Wunsch und Bitte tritt stärker in den Vordergrund.


    Bei den letzten Wiederholungen des „Dahin“ steigert sich dieser Quartsprung, mit dem das Wort deklamiert wird, vom Forte ins Fortissimo, und die Dreiergruppen von Sechzehnteln bewegen sich nun in einem größeren tonalen Intervall wieder auf und ab und verstärken so den Eindruck des unruhigen Drängens, den die Vokallinie hier macht. Sie steigert diesen am Ende ja noch dadurch, dass sie bei den beiden letzten „Dahin“ den Quartsprung zunächst in eine lange Dehnung auf einem hohen „e“ münden lässt und von da aus noch höher zu einem zweigestrichenen „a“ bei der Silbe „-hin“ steigt, das sie mehr als einen Takt lang hält,


    Das ist in der Tat ein Lied von einer für Schubert ungewöhnlich großen ariosen Emphase. Man kann darüber streiten, ob es in dieser musikalischen Faktur der literarischen Gestalt der Mignon angemessen ist. Aber Schubert hat dieses ihr Lied eben so gelesen.


    (Das Gedicht und der Kommentar dazu finden sich am Ende der vorangehenden Seite)

  • Dieses berühmte Gedicht wurde viele Male vertont, u.a. von Beethoven, J. Fr. Reichardt, C. F. Zelter, R. Schumann, Hugo Wolf und Franz Liszt. Ein Vergleich zwischen all diesen Liedern wäre höchst reizvoll, weil sich dabei erfassen lässt, wie die Komponisten die Verse jeweils gelesen haben. Robert Schumann meinte:
    „Die Beethovensche Komposition ausgenommen, kenne ich keine einzige dieses Liedes, die nur im mindesten der Wirkung, die es ohne Musik macht, gleichkäme. Ob man es durchkomponieren müsse oder nicht, ist eins; laßt es euch von Beethoven sagen, wo er seine Musik herbekommt.“

    In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass D. Fischer-Dieskau von Schuberts Komposition nicht so recht angetan war. Er meint, sie „wirke verhältnismäßig schwach“. Vermutlich habe Schubert ursprünglich eine strophische Komposition erwogen, aber „in seiner ganz persönlichen Haltung zu Goethes Dichtung und aus seiner damaligen Lust am Experimentieren heraus“ habe er sich dann für die komplexere Form des variierten Strophenliedes entschieden und sich dabei Beethoven ein wenig angenähert.


    Ich kann dieses Urteil nicht ganz nachvollziehen. Vor allem halte ich Schuberts Entscheidung gegen ein reines Strophenlied für vom lyrischen Text her für wohlbegründet. Dass sich dabei „Einfachheit nicht herstelle“, wie Fischer-Dieskau kritisiert, scheint mir kein schlüssiges Argument zu sein. Dieses Gedicht ist ja doch sowohl in seinem formalen Aufbau, als auch in seiner dichterischen Aussage alles andere als einfach. Und der Unterschiedlichkeit der lyrischen Bilder der einzelnen Strophen, hinter der das komplexe Seelenleben dieser geheimnisvollen Gestalt „Mignon“ steht, kann eine strophische Komposition wohl nicht ganz gerecht werden.


    Hugo Wolf hat dies mit seinem immensen Gespür für die semantische Tiefenschicht von lyrischer Sprache sehr wohl erfasst und dieses Gedicht durchkomponiert. Wie sinnvoll dies ist, das kann man an einem schlichten Vergleich der Struktur der Melodiezeilen erkennen, die jeweils auf dem ersten Vers der drei Strophen liegen. Wenn der südliche Zauber südlicher Landschaft angesprochen wird, wie in der ersten Strophe, dann weist die melodische Linie bei Wolf in ihrer Bewegung einen leicht schweifenden Charakter auf: Sie steigt um eine Sekunde an, macht danach einen Sextfall, verharrt auf dieser tonalen Ebene und bewegt sich danach über einen Quintsprung zu einem „as“ hinauf. Geht es um das „Haus mit seinem Säulendach und seinem „glänzenden Saal“, so wirkt die melodische Linie eher statisch, pendelt in ruhigem Auf und Ab zwischen nur zwei tonalen Ebenen hin und her. Ganz anders ist sie hingegen bei der dritten Strophe mit ihren expressiven Naturbildern angelegt: Hier ereignet sich in der Vokallinie eine fast dramatisches Steigen und Fallen über Tremoli im Klaviersatz.


    Man kann bei einem Vergleich der verschiedenen Vertonungen dieses Mignon-Liedes durchaus zu der Auffassung gelangen, dass Hugo Wolf der Komplexität der dichterischen Aussage und der ihr zugrundeliegenden Metaphorik von allen Komponisten am ehesten gerecht geworden ist. Vielleicht hatte Fischer-Dieskau diese Vertonung im Ohr, als er sich in kritischer Weise über das Schubertlied äußerte.

  • Dieses Lied der Mignon wurde auch von Franz Liszt („Mignons Lied“)vertont. Eine Besprechung findet sich als Beitrag 50 (vom 18.11.2001) im Thread „Franz Liszt und seine Lieder“. Eine kurze vergleichende Betrachtung der beiden Vertonungen ist höchst aufschlussreich, lässt sie doch den fundamentalen Unterschied im liedkompositorischen Ansatz bei Schubert und Liszt erkennen.


    Liszts „Mignons Lied“ ist ein zweifellos gut zu hörendes und in seiner Melodik und Harmonik eingängiges Lied. Überaus expressiv ist die melodische Linie, die auf den Versen „Dahin, dahin möcht ich mit dir, o mein Geliebter (Beschützer), ziehn“. Sie ist aber nicht nur expressiv, sondern sogar von der Art Eingängigkeit, dass man meint, sie sei einem durchaus bekannt. Hier, an diesem Vers, zeigt sich zugleich auch ein Phänomen, auf das man man bei Liszts frühen und mittleren Liedern immer wieder stößt: Er gerät bei seinem Versuch, den affektiven Gehalt eines lyrischen Verses mit musikalischen Mitteln aufzugreifen und zum Ausdruck zu bringen, leicht in die Gefahr, darin ein wenig zu übertreiben. Die Vokallinie wird nicht nur mit großer Emphase versehen, auch im Klaviersatz wird mit expressiven Mitteln gearbeitet, vom unruhigen Auf und Ab der Achtelfiguren bis hin zu arpeggierten Akkorden. Zudem kommt auch das Mittel der Wiederholung zum Einsatz:„Dahin, dahin, dahin / möcht ich mit dir, o mein Geliebter ziehn! / Dahin, dahin, dahin / mit dir, o mein Geliebter / mit dir, o mein Geliebter ziehn.“


    Nun ist freilich bemerkenswert, dass auch Schubert bei diesem Schlussvers der Strophen in für ihn auffälliger Weise dramatisiert. Er scheint bei dieser Komposition sehr stark unter dem Einfluss der Vertonung gestanden zu haben, wie sie Beethoven vorgelegt hat (sie ist eine der großartigsten!), und es ist nicht recht erklärlich, warum er dieses Lied im Unterschied zu seinen anderen Kompositionen auf die lyrischen Texte aus „Wilhelm Meister“ nicht noch einmal überarbeitet hat. Auch Schumann arbeitet übrigens mit dem Mittel der Wiederholung, nur Hugo Wolf tut es nicht. Vermutlich steht ja hinter all dem nicht nur die lyrische Nachdrücklichkeit dieses Verses, dieses doppelte „dahin“, sondern auch das Wissen um die Stelle in Goethes Roman, an der der lyrische Text zitiert wird. Dort heißt es nämlich zu der Art, wie Mignon das Lied vortrug:


    „Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das >Kennst du es wohl?< drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem >Dahin! Dahin!< lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr >Laß uns ziehn< wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, dass es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.“

    Vergleicht man nun die verschiedenen Kompositionen auf dieses Goethe-Gedicht von Reichardt und Zelter bis hin zu Hugo Wolf, dann wird wieder recht deutlich, dass Franz Liszt der sich hier zeigenden Linie in der Entwicklung des Kunstliedes nicht wirklich angehört. Er steht sozusagen seitab, - womit kein Qualitätsurteil über seine Liedkomposition verbunden sein soll.


    Nimmt man Schubert als Bezugspunkt, - der ja auch die jeweilige Schlusszeile der Strophen aus einem durchaus auf pathetische Expressivität hin angelegten kompositorischen Gestus heraus gestaltet, so zeigt sich: Der auffällige Unterschied zu Liszt ist, dass dieses nicht aufgesetzt wirkt, sondern sich wie eine Art Steigerung einer durchgehenden Melodik ausnimmt. Schubert nimmt Goethes Text in versübergreifende Melodiezeilen auf. Und die kompositorische Gestaltung des Strophen-Schlussverses wirkt – unbeschadet seiner mit dem Mittel der Wiederholung zustande gebrachten dramatischen Steigerung – wie eine Fortsetzung derselben.


    Bei Liszt hingegen ist eine solche in der musikalischen Bindekraft der Melodiezeile wurzelnde innere Einheit des Liedes nicht in dieser Weise vorhanden. Seine Vertonung wirkt wie aus musikalisch expressiven Einzelelementen komponiert, - zusammengehalten durch den Klaviersatz, der sich – wie eine Art musikalisches Bindemittel – in den Pausen der Singstimme beharrlich zu Wort meldet. Das ist wahrlich eine ganz neue Art der Liedkomposition: Die Musikalisierung des Kunstliedes ist sozusagen an ihrem Endpunkt angelangt.

  • Wer sich der Einsamkeit ergibt,
    Ach! der ist bald allein;
    Ein jeder lebt, ein jeder liebt
    Und läßt ihn seiner Pein.


    Ja! laßt mich meiner Qual!
    Und kann ich nur einmal
    Recht einsam sein,
    Dann bin ich nicht allein.


    Es schleicht ein liebender lauschend sacht,
    Ob seine Freundin allein?
    So überschleicht bei Tag und Nacht
    Mich Einsamen die Pein,
    Mich Einsamen die Qual.
    Ach werd´ ist erst einmal
    Einsam im Grabe sein,
    Da läßt sie mich allein!


    Dieses Gedicht stammt aus Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und findet sich dort im 13. Kapitel des „Zweiten Buchs“. Wilhelm hört zunächst durch die Tür den Alten das Lied „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“ singen, und nachdem er das Zimmer betreten hat, spricht er den Alten mit den Worten an: „Ich finde dich sehr glücklich, dass du dich in der Einsamkeit so angenehm beschäftigen und unterhalten kannst und, da du überall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest.“ Darauf antwortet ihm der Alte mit eben diesem Lied.


    Das Gedicht weist eine Art dialektische Innenspannung auf, die sich am Ende auflöst. In Strophe eins wird eine allgemeine Feststellung getroffen: Einsamkeit bedeutet Allein-Sein, von all denen verlassen, die dem Gesetz ihres eigenen Lebens folgen wollen. In Strophe zwei spricht der Harfner dann von sich selbst, und zunächst klingt es so, als könne er sehr wohl einsam sein, ohne allein sein zu müssen. Es bleibt zwar offen, was mit dem „recht einsam-Sein“ gemeint sein kann, aber man kann seine Worte so verstehen, dass dergleichen in seinem Leben durchaus möglich sein könnte


    Mit dem Bild vom „Liebenden“ in der dritten Strophe wird dann aber deutlich, dass er in der realen Situation, in der sich sein Leben ereignet, von „Qual und Pein umlauert“ ist. Das Glück einer „rechten“ Einsamkeit kann er hier nicht wirklich finden. Das wird, so zeigt sich am Endes des Gedichts, erst „im Grabe“ möglich sein. Dann erst wird er „recht einsam“ sein können, weil alle Qual ihn verlassen haben wird.

  • Bei Goethe hat dieses Gedicht drei Strophen, in der musikalischen Faktur Schuberts werden daraus aber vier. Die letzten drei Verse der dritten Strophe heben sich deutlich von den ersten fünf derselben ab. Schon das lässt darauf schließen, dass Schubert dieses Gedicht auf seine ganz eigene Weise gelesen und zum sprachlich-lyrischen Substrat seines Liedes gemacht hat. Es entstand am 13, November 1815.


    Den inneren musikalischen Zusammenhang des Liedes schafft die triolische Grundfigur in der Klavierbegleitung, die dem Harfenton nachempfunden ist und, bis auf die ersten vier Verse, das ganze Lied klanglich prägt. Sie erklingt auch in der Einleitung, durchläuft dort mehrere, zum Teil harmonisch verminderte Tonarten und landet schließlich in der Grundtonart a-Moll.


    Die Singstimme setzt mit einem weit ausholenden melodischen Bogen ein, der auf dem Wort „Einsamkeit“ aufgipfelt. Es deutet sich an, dass Schubert sein Lied ganz auf dieses zentrale Wort abgestellt hat. Die erste Melodiezeile umfasst die beiden ersten Verse und findet ihren Ruhepunkt auf dem Wort „allein“, das dadurch ebenfalls besonderes Gewicht bekommt. Beim dritten Vers klingt die melodische Linie so, als würde sie zweimal einen Anlauf nehmen, um dann in einer großen, ins a-Moll abfallenden Bewegung der Aussage des vierten Verses ganz besonderen Nachdruck verleihen zu können: „Und läßt ihn seiner Pein.“


    Diese vier Verse der ersten Strophe sind stark rezitativisch geprägt. Das Klavier begleitet auch nicht mit Harfentriolen, sondern mit stützenden Akkorden, über denen an manchen Stellen der Diskant der melodischen Linie der Singstimme folgt. Klanglich stark prägend ist vom ersten Vers an eine Art wehmütiger Klageton, der sich als bogenförmig abfallende Bewegung in der melodischen Linie der Singstimme artikuliert. Er taucht an noch zwei weiteren Stellen des Liedes auf.


    Mit der zweiten Strophe ändert sich der Ton des Liedes deutlich. Schubert berücksichtigt hier, dass lyrisch ein Perspektivwechsel stattgefunden hat: Von allgemeingültigen Aussagen des Sängers in der ersten Strophe hin zu seinem eigenen Ich. Bei dem Vers „Ja, laßt mich meiner Qual“ setzt die melodische Linie der Singstimme auf F-Dur ein. Diese Tonart bleibt jedoch nicht stabil, sondern es erfolgen permanente Rückungen durch mehrere Quartsextakkorde, einen verminderten Septakkord und einen Dominantseptakkord, bevor die Singstimme wieder auf der Grundtonart a-Moll landet. Das Klavier begleitet jetzt mit Harfentriolen und scheint immer wieder einmal die Singstimme voranzudrängen.


    Deutlich vernehmbar ist wieder die melodische Akzentuierung des Wortes „einsam“ („recht einsam sein“). Die melodische Linie schlägt hier einen Bogen über eine halbe, eine Viertel- und eine Achtelnote, und auf diese Weise nimmt das Wort einen ganzen Takt ein.


    Die zweite Strophe findet ihren Höhepunkt in dem lyrischen Ton, der mit dem letzten Vers angeschlagen wird: „Dann bin ich nicht allein“. Schubert hebt ihn dadurch hervor, dass er auf das Wort „bin“ einen Vorhalt legt. Das Bild von dem „schleichenden Liebenden“ greift Schubert musikalisch in der Weise auf, dass er die melodische Linie in kleinen Schritten, in die immer wieder ein Rückschritt eingefügt ist, ansteigen lässt, wobei das Klavier jetzt eine eigenständige Bewegung entfaltet, die zwar ebenfalls melodisch und harmonisch ansteigt, dies aber in einem anderen Rhythmus tut.


    Hierin spiegelt sich musikalisch die dem lyrischen Bild innewohnende seelische Qual. Die melodische Linie der Singstimme zeigt bei dem Vers „Mich einsamen die Pein“ eine deutliche Aufgipfelung. Es ist wieder die melodische Figur zu hören, die man vom ersten Vers des Liedes her kennt.


    Die letzten drei Verse des Liedes sind in ihrem klanglichen Eindruck ganz von der chromatisch abfallenden Linie im Klavierbass geprägt. Man hat den Eindruck, dass hier das Klavier sehr stark in den Vordergrund des musikalischen Geschehens rückt. Jedenfalls tritt es als eigenständiger musikalischer Faktor stärker in Erscheinung als in den vorangehenden Strophen des Liedes. Gleichwohl entfaltet die Singstimme beim letzten Vers wieder starke Expressivität: Sie beschreibt wieder den großen, wie eine Klage wirkenden melodischen Bogen, der das ganze Lied prägt. Dieser Teil des Liedes wird in leicht modifizierter Form wiederholt. Das ist ein kompositorisches Mittel, das Schubert häufig einsetzt, wenn ihm eine lyrische Aussage wichtig ist und deshalb mit besonderem musikalischem Nachdruck versehen werden soll.


    „Einsamkeit“ ist für ihn das zentrale Thema des Liedes. Seine musikalische Faktur lässt dies deutlich erkennen. Und am Ende steht die Aussage: Erst der Tod bringt die Erlösung. Man trifft auf sie in vielen anderen Schubertliedern.

  • Dieses Lied des Harfners wurde u.a. auch von C. F. Zelter, Robert Schumann und Hugo Wolf vertont. Diese Lieder sollen im folgenden hier kurz vorgestellt werden. Wie in allen anderen Fällen, in denen solche vergleichenden Betrachtungen verschiedener Kompositionen auf denselben lyrischen Text vorgenommen werden, steht dahinter die Absicht, das jeweilige liedkompositorische Konzept zu erfassen und auf diesem Hintergrund die spezifische Eigenart des Liedes von Schubert hervortreten und fassbar werden zu lassen.


    Der Musikologe Manfred Wagner fand einmal, um das liedkompositorisch Neue bei Schubert in kontrastiver Weise zu verdeutlichen, den bildhaften Begriff von der „syllabischen Dienstbarkeit“, die das Verhältnis von Sprache und Musik im vorschubertschen Lied, bei Zelter und Reichardt u.a. also, in signifikanter Weise prägt und bei Schubert dann aufgegeben und überwunden wurde. Hier, in dieser Vertonung von Goethes Harfner-Gedicht, kann man hören und erfassen, was mit diesem Begriff gemeint ist.


    Syllabische Dienstbarkeit der Musik, - das heißt ganz konkret: Sie unterstützt in der Struktur der melodischen Linie der Singstimme die einzelnen Silben des lyrischen Textes, und sie geht in der Funktion auf, dem lyrischen Text gleichsam ein klangliches Gewand zu verleihen. Ein Eigensein im Sinne eines die Aussage der Vokallinie ergänzenden, kommentierenden oder kontrastierenden Beitrags geht dem Klaviersatz dabei ab.


    Genau dies ist der Höreindruck bei diesem Lied Zelters. Es beginnt mit einem langen Vorspiel, in dem das Klavier Harfenklänge imitiert. Ein musikalisch-thematischer Zusammenhang mit der musikalischen Faktur, in die die Singstimme dann eingelagert ist, besteht allerdings nicht. Die Klaviereinleitung hat ausschließlich die Funktion, eine Art musikalische Szenerie aufzubauen, in der die Singstimme dann mit den ihr eigenen Mitteln den lyrischen Text deklamieren kann.


    Das geschieht in der Weise, dass durchgehend und mit nur wenigen Ausnahmen, bei der musikalischen Linie der Singstimme auf jeder Silbe ein Ton sitzt. Deren Verlauf vollzieht sich in einfachen Tonschritten, denen das Klavier mit stützenden Akkorden oder, wie etwa beim dritten Vers („Ein jeder lebt…“) sogar unisono mit einem Einzelton im Diskant folgt. An wenigen Stellen finden sich mehrere Tonschritte auf einer Silbe oder einem Wort, so etwa bei „einmal“ im zweiten Vers der zweiten Strophe.


    Zwischen dieser und der dritten Strophe ist ein kurzes Klavier-Zwischenspiel eingeschoben. Das Bild vom „schleichenden Liebenden“ wird melodisch genauso behandelt wie die beiden ersten Verse des Gedichts: Sie werden auf dieselbe melodische Linie gesungen.


    Das Wort „Grab“ wird noch einmal durch einen Doppeltonschritt besonders hervorgehoben. Ansonsten aber verbleibt die melodische Linie der Singstimme auf einer Linie, die sich im wesentlichen zwischen Tonika, Dominante und Subdominate bewegt.


    Das Lied weist also eine musikalische Faktur auf, die man – ohne jeglichen wertenden Unterton – als schlicht, weil wenig komplex bezeichnen kann. Der Begriff „Komplexität“ beinhaltet dabei insbesondere den Grad der Eigenständigkeit der Klavierstimme.

  • Schumanns Vertonung des Goethe-Gedichts entstand 1849. Sie gehört nicht zu den bekannten Liedern des Komponisten, und das ist auch erklärlich. Es fehlt diesem Lied etwas, das ganz offensichtlich für eine große Liedkomposition erforderlich ist: Der in sich stimmige kompositorische Wurf. Wenn man den ersten Höreindruck auf einen Nenner bringen sollte, dann sähe der so aus:


    Dieses Lied ist, wie das von Schubert, noch primär von Goethes lyrischer Sprache aus komponiert. Aber viel stärker als bei Schubert drängt sich hier schon der musikalische Aspekt in den Vordergrund. Dieses Lied ist ein Beispiel für den historisch nächsten Schritt in der Musikalisierung des Kunstliedes.
    Es ist das historisch modernere. Schumann hat – in deutlichem Unterschied zu Schubert – die subjektive Perspektive in die Komposition einfließen lassen. Das Lied lebt musikalisch noch deutlicher als das von Schubert aus der Subjektivität dessen, der sich hier lyrisch-musikalisch artikuliert.


    Nach einer nur zweitaktigen Einleitung aus einer Art Harfenklängen pendelt die melodische Linie der Singstimme in einer Art schwermütigem Ton zwischen Dur- und Mollharmonien, wobei man den Eindruck hat, dass das eine Art Zurückfallen nach dem Versuch ist, sich in Dur-Regionen zu erheben. Auf dem Wort „Pein“ liegt ein deutlicher Akzent in Form eines Melismas und eines Crescendos.


    Die erste Strophe geht nahezu fugenlos in die zweite über. Jetzt aber dominieren Dur-Klänge. Beim Vers „recht einsam sein“ steigt die melodische Linie langsam an und erfährt dann im folgenden Vers eine deutliche Aufgipfelung. Jedes Wort wird da in prononcierter Weise deklamiert: „Dann bin ich nicht allein“.


    Ein kurzes Klavierzwischenspiel leitet zur dritten Strophe über. Auf das Bild vom „schleichenden Liebenden“ legt Schumann, ganz im Unterschied zu Schubert, eine heitere, fast tänzerische melodische Linie. Er scheint dieses Bild sozusagen absolut genommen zu haben. Bei der Überleitung zu diesem erklingen aber im Klavierdiskant leicht schrille Sekundklänge. Damit wird dann doch ein musikalischer Zusammenhang zu den Wörtern „Pein“ und „Qual“ hergestellt, die im Zentrum dieser Strophe stehen.


    Jetzt drängen sich wieder Moll-Klänge in die melodische Linie der Singstimme: Sie zeigt wieder diese abfallende Bewegung, die über eine verminderte Harmonik in Moll endet. Die letzten drei Verse („Ach wird ich erst einmal…“) werden bedeutungsschwer artikuliert: Die Singstimme deklamiert wie bei einem Choral jedes einzelne Wort. Vor dem letzten Vers erklingt wieder ein Klavierzwischenspiel, das die melodische Linie der Singstimme mit ihrer choralartigen Schwere noch einmal wiederholt.


    Das „Da läßt sie mich allein“ wird ebenfalls, mit einer nur wenig ansteigenden melodischen Linie und einer kurzen Pause nach „läßt“, bedeutungsschwer musikalisch artikuliert. Das lange Klaviernachspiel greift dieses für das Lied so typische Pendeln zwischen Dur- und Moll-Klängen, bei letztlicher Dominanz des Durs, wieder auf.


    Für den Vergleich mit Schubert wichtig ist dieses: Anders als dieser hebt Schumann nicht die Allgemeingültigkeit der Aussage hervor, die hier vom Harfner gemacht werden. Er lässt diesen Menschen ganz aus seinem subjektiven Empfinden heraus singen. Die „Qual“ und die „Pein“ der Einsamkeit haben nicht das Schmerzlich-Bedrückende wie bei Schubert. Und dem Bild vom Grab am Ende des Liedes geht auch der Beigeschmack von Tod ab, den es bei Schubert ganz deutlich hörbar hat.

  • Noch ausgeprägter, als man dies bei Schumann beobachten kann, ist Wolfs Lied von der Musik und ihrem affektiven Potential her komponiert: Der Prozess der Musikalisierung des Liedes ist hier deutlich hörbar fortgeschritten.


    Schon die Klaviereinleitung lässt das hören und erkennen. Sie ist umfangreich und entwickelt die musikalische Substanz, aus der das Lied lebt. Grundmodell ist auch hier der Harfenklang, den Wolf mit arpeggierten Akkorden suggeriert. Diese durchlaufen allerdings mehrere (Moll-) Tonarten in jeweils abfallenden melodischen Linien, in die sich freilich auch eine aufsteigende Linie mit Dur-Harmonik einschiebt, worauf dann wieder über eine z.T. verminderte Harmonik die Bewegung hin zur Dominante sich anschließt.


    Der klangliche Eindruck ist der einer inneren Unbestimmtheit, ja Zerrissenheit, womit Wolf wohl – und das ist bezeichnend für seinen liedkompositorischen Ansatz generell - eine Art Psychogramm dieser rätselhaften Gestalt des Harfners kompositorisch gestalten wollte.


    Die melodische Linie, die auf dem ersten Vers liegt, vollzieht die von Moll-Harmonik getragene, fallende Linie nach, die in der Einleitung sozusagen programmatisch vorgegeben ist. Mit dem zweiten Vers setzt sich diese Fallbewegung fort und kommt erst auf dem Wort „allein“ zur Ruhe. Dieses, wie auch das „Ach“ und das Wort „bald“ werden durch eine Dehnung mit einem musikalischen Akzent versehen. Ähnlich wie bei Schubert vollzieht sich bei dem nachfolgenden Vers („Ein jeder lebt…“) eine Art sich steigernder melodischer Anlauf, der dann schließlich bei dem Wort „Pein“ seinen Gipfelpunkt erreicht.


    Die zweite Strophe ist unüberhörbar auf den letzten Vers hin komponiert. Das „Dann bin ich nicht allein“ weist eine leicht ansteigende, in eine Dur-Harmonik sich bewegende melodische Linie auf, der jeglicher Klageton abgeht. Und sie ruht sich hörbar dort oben im versöhnlichen Dur aus.


    Die Art, wie Wolf die beiden ersten Verse der dritten Strophe („Es schleicht ein Liebender…“) in Musik gefasst hat, erinnert stark an Schumann. Auch hier wird von der Idyllik der Szene her komponiert. Das schleichend Bedrohliche, das Schubert an dieser Stelle in das Lied gebracht hat, fehlt (wie bei Schumann!) hier völlig. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich fließend in hohen Lagen der Dominante mit geringen Tonintervallen, von triolischen Bewegungen im Klavierdiskant begleitet. Und das alles im Pianissimo und ohne jeglichen dynamischen Ausbruch.


    Von dem, was bei Goethe nachfolgt, „Qual“ und „Pein“ nämlich, ist – wie bei Schumann – auch hier zunächst nichts zu hören. Aber wie wiederum bei Schumann, kündigt sich an, was folgt. Ein Crescendo bricht in die melodische Linie ein, und sie steigt mit fast beängstigender Dynamik in höhere Lagen auf. Bei „Mich Einsamen die Pein“ erreicht sie einen extremen Höhepunkt und eine für dieses Lied bis jetzt nicht erreichte Lautstärke. Beim folgenden Vers fällt sie aber wieder ab und macht einen fast schmerzlich wirkenden Quartsprung am Versende, bei dem Wort „Qual“. Als wäre das aber allzu viel des Gefühlsausdrucks, steigt sie im Ausklang, auf der Silbe „al“, mit einem Sekundschritt nach oben wieder an. Das Klavier greift diesen Schritt ins Versöhnliche mit einem Zwischenspiel auf.


    Die letzten drei Verse („Ach, wird ich erst einmal…“) werden mit einer Melodiezeile versehen, die ganz in Moll-Klängen einsetzt, über Dur-Klängen ansteigt und dann wieder in Moll-Harmonien mündet. Am Versende, bei dem Wort „sein“, hält sie erst einmal inne, um dann, in einer kurzen Aufwärtsbewegung, die kurz auf dem Wort „mich“ zögernd innehält, am Gedichtende auf der Tonika zum Ruhepunkt zu gelangen. Jedes Wort des Verses wird dabei mit einem deklamatorischen Akzent versehen. Das Wort „allen“, eben weil es auf der Tonika ruht, in ganz besonderem Maß.


    Das Klaviernachspiel greift die musikalische Thematik der Einleitung auf und wiederholt sie. Allerdings endet es nicht wie dort auf der Tonika, sondern auf der Dominante. Dem Hörer soll auf musikalische Weise offener Raum zum Nachdenken bleiben.

  • „Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das >Kennst du es wohl?< drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem >Dahin! Dahin!< lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr >Laß uns ziehn< wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, dass es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.“

    Lieber Helmut,


    wiichtig scheint mir die Zeile bei Goethe, die unmittelbar danach kommt:


    "Nachdem sie (Mignon, H.K.) das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einen Augenblick inne."


    Demnach trägt Mignon das Lied vor in einer Art Endlosschleife von Wiederholungen und das Endigen ist eher so eine Art kurze Atempause. Diese Endlosigkeit von Wiederholungen scheinen die Vertonungen jede auf ihre Art ausgedeutet zu haben. Bei Schubert finde ich, daß bei ihm die einzelnen Strophen sehr kompakt wirken und so der Eindruck eines Strophenlieds im Vordergrund steht. Schubert scheint sich an der Idee der romantischen Wanderschaft zu orientieren. Ganz anders Liszt: Er vertont den exotischen Traum von Italien. Weil Liszt mit einem kurzen charakteristischen Motiv arbeitet, bekommt das Ganze den Eindruck einer Litanei - so als ob sich das Subjekt immer mehr in diese fremde Traumwelt hineinträumt und in sie verfängt. Liszt interessiert mehr das Ziel der Reise und nicht der Weg dorthin, die Wanderschaft an sich, wie bei Schubert, so scheint es mir.


    Heute Nachmittag höre ich mir auch noch mal Wolf an... :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Mir ist etwas sehr Unangenehmes passiert, für das ich um Entschuldigung bitten möchte. Bei der Durchsicht meiner letzten Beiträge hier ist mir aufgefallen:
    Die obige Besprechung des Schubert-Liedes "Wer sich der Einsamkeit ergibt" ist mit der falschen Deutschverzeichnis-Nummer versehen. In seiner Faktur beschrieben und in seinem klanglichen Charakter gedeutet wurde nicht D 325, sondern die Zweitfassung des Harfner-Gesangs D 478. Die Erstfassung D 325 ist mit dieser nicht vergleichbar. Sie beruht auf einem Sechsachteltakt, auf dessen Grundlage sich eine melodische Linie entfaltet, die eingängige Kantabilität aufweist und klanglich von Wehmut und Schmerzlichkeit geprägt ist, aber den lyrischen Text in seiner Aussage nicht so vollkommen zu erfassen vermag, wie das bei der zweiten Fassung der Fall ist.


    Da ich hier chronologisch vorgehe, stand nach dem Lied "Mignon" nun die Beschäftigung Schuberts mit der Gestalt des "Harfners" an. Daraus entstand zunächst am 13. November 1815 eine Erstfassung des Liedes, die mit der Deutsch-Verzeichnis-Nummer 325 versehen ist. Schubert hat sich ein knappes Jahr später, nämlich im September 1816, noch einmal dieser Harfner-Gestalt liedkompositorisch zugewandt und alle drei Gesänge vertont, wobei er dem ersten ("Wer sich der Einsamkeit ergibt") eine ganz neue Faktur verlieh. Diese ist oben in Beitrag 125 (vom 29. September) beschrieben. Die beiden anderen Lieder, die zu dieser Gruppe gehören ("Wer nie sein Brot mit Tränen aß" und "An die Türen will ich schleichen") liegen bereits als Besprechungen vor und werden hier eingestellt, wenn ich im September 1816 angekommen bin. Das wird alsbald der Fall sein.

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  • Mir ist persönliche "Mignon" in der Vertonung von Liszt und Wolf näher als Schubert. Schubert ist mir einfach zu "häußlich", da fehlt dieser auf den Symbolismus und die Dekadenz vorausweisende Exotismus, das Verbotene, Andersartige, Fremde, was seine Anziehungskraft hat als das eigentliche Paradies und magisch beschworen wird. Bei Schubert höre ich statt dessen den typischen Schubert-Ton (den ich auch von anderen Liedern und seinen Klavierstücken her kenne) - für den Exotismus bei Goethe hat er im Grunde gar keinen Sinn! Stark ist die Rhetorik der Frage bei Ihm ("Kennst Du das Land?") - das Fragezeichen hört man förmlich. Schuberts Befindlichkeit ist die eines Subjekts, das zuhause ist, sich dort beengt fühlt und irgendwie weg will - in die Ferne. Das Bild des paradiesischen Italiens interessiert ihn dabei reichlich wenig - wahrscheinlich auch mangels Anschauung, die Liszt z.B. durch seine Italien-Reisen natürlich hatte.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Der Komposition Schuberts auf diesen Harfner-Gesang wurden Vertonungen von Zelter, Schumann und Wolf zur Seite gestellt, und dies in der Absicht, auf diesem liedkompositorischen Hintergrund die spezifische Eigenart der Schubertschen Liedsprache hörbar und deskriptiv fassbar werden zu lassen. Nun wäre eigentlich, gerade um Letzteres, das deskriptive Erfassen also, hier einzulösen, ein Vergleich der einzelnen Vertonungen unter liedanalytischer Perspektive erforderlich.


    Ich möchte aber davon Abstand nehmen, um diesen Thread nicht mit allzu viel abstraktem Sich-Einlassen auf Musik zu überfrachten. Es erscheint mir überdies auch nicht notwendig zu sein, kann man doch auch in diesem Fall im rein hörenden Vergleichen der Lieder die spezifische Eigenart der Schubertschen Liedsprache vernehmen: Diese Verwandlung von lyrischer in musikalische Sprache, wobei diese einem so begegnet, als habe sie die Sprache des Dichters, unbeschadet ihrer gleichsam substantiellen Verwandlung, ganz und gar unverändert in sich aufgenommen.


    Eigenartigerweise empfindet man dies – wie das auch bei diesem Lied der Fall ist – selbst dann, wenn sich die Musik über deren Prosodie hinwegsetzt und etwa zwei Verse so zu einer Melodiezeile in der Weise zusammenzieht, dass einzelnen lyrische Worte ihre den Vers schließende Reimfunktion verlieren und andere einen Akzent erhalten, den sie von der Metrik her har nicht tragen.


    So zu erfahren beispielsweise in der zweiten Strophe. Das Wort „Qual“ trägt eine lange Dehnung auf einem „f“, die dadurch melodisch so markant wirkt, weil sich die melodische Linie der Singstimme in einer von einem hohen „e“ ausgehenden Fallbewegung in Sechzehnteln darauf zubewegt. Das Reimwort „einmal“ am Ende des zweiten Verses wirkt hingegen musikalisch regelrecht unterbelichtet, denn Schubert kommt es darauf an, das für die seelische Verfassung des Harfners so zentrale Wort „einsam“ melodisch-musikalisch in besonderer Weise hervorzuheben, und das tut er mittels einen bogenförmigen Terzsprungs und nachfolgendem - aber erst nach einem punktierten Viertel, also buchstäblich in letzter Minute erfolgendem – verminderten Quartfall auf der Silbe „-sam“.


    Das ist musikalische Sprache, die die Semantik der lyrischen erfasst, - auch und gerade dann, wenn sie sich über deren spezifische metrische Struktur hinwegsetzt. Dahinter steht ein kompositorisches Denken und Fühlen unmittelbar von der Sprache her, wie es ganz typisch und bezeichnend für Schubert ist.


    Man könnte dies in vielfältiger Weise an diesem Lied mit weiteren Beispielen belegen, - etwa mit den vielen Fermaten in der ersten Strophe (bei den Worten „allein“, „lebt“, „liebt“ und „Pein“), die dem Gesang des Harfners bei Schubert etwas Stockendes verleihen, das man als musikalischen Ausdruck seiner Seelenpein empfindet, die ihn beinahe verstummen lässt. Man könnte zeigen, dass Schubert seinen Harfner erst dann wirklich singen lässt, wenn er eben diese Pein musikalisch artikulieren darf. Und man könnte schließlich im unmittelbaren Vergleich mit dem Lied von Hugo Wolf zeigen, dass nicht nur dieser, sondern auch Schubert die seelische Verfassung einer dichterischen Gestalt musikalisch auszuloten vermag, - nicht mit deklamatorischer, sondern mit kantabler Melodik.


    Aber es soll dieser liedanalytischen Betrachtungen nun genug sein. Dieses erste Harfner-Lied ist ein klanglich so schönes, dass man sich davor hüten sollte, es gedanklich zu zerpflücken. Es ist zum Hören da. Schubert wollte das so.

  • Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
    Es ist der Vater mit seinem Kind;
    Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
    Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.


    „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“ -
    „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
    Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?“ -
    „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“ -


    »Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
    Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
    Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
    Meine Mutter hat manch gülden Gewand.«


    „Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
    Was Erlenkönig mir leise verspricht?“-
    „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
    In dürren Blättern säuselt der Wind.“ -


    »Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
    Meine Töchter sollen dich warten schön;
    Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
    Und wiegen und tanzen und singen dich ein.«


    „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
    Erlkönigs Töchter am düstern Ort?“ -
    „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
    Es scheinen die alten Weiden so grau.“ -


    »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
    Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.«
    „Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
    Erlkönig hat mir ein Leids getan!“ -


    Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
    Er hält in Armen das ächzende Kind,
    Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
    In seinen Armen das Kind war tot.


    Die Ballade entstand 1782. Zu ihrer Abfassung wurde Goethe angeregt durch Herders Übersetzung der dänischen Volksballade „Erlkönigs Tochter“. Die Germanisten halten auch für möglich, dass ihr ein Erlebnis Goethes selbst zugrunde liegt: Ein nächtlicher Ritt mit dem siebenjährigen Sohn der Charlotte von Stein. Wie dem auch sei: Was daraus entstand, ist zum Inbegriff der Ballade als literarische Gattung geworden. Es gibt gleichwertige dichterische Schöpfungen, - keine aber, die sie übertrifft.


    Man hat den Inhalt in einem Anflug von Realismus auf die Fieberträume eines kranken und während des nächtlichen Ritts sterbenden Kindes reduziert. Das wird dem dichterischen Gehalt aber nicht gerecht, denn der transzendiert diesen realen Kern. Was dieses Kind erlebt – und was dem nüchtern rationalistischen Vater verschlossen bleiben muss - , das ist jene Dimension der Begegnung des Menschen mit der Natur, die im seelischen Innenraum angesiedelt ist und Reflex von dessen emotionaler Tiefe ist. Natur vermag in der vielfältigen Weise, wie sie vom Menschen erfahren werden kann, zur Projektionsraum von Emotionen werden, die von Glück und Freude bis hin zu Furcht und Todesangst reichen. Eine Erkenntnis, die Gegenstand der Dichtung der Romantik wurde und von Goethe – wie so oft – wieder einmal dichterisch antizipiert wurde.


    Im Aufbau ist diese Ballade einfach angelegt: Zwei narrative Strophen rahmen sechs, die dialogischen Charakter aufweisen. Die dichterische Größe dieses Werks wurzelt in der Struktur und klanglichen Gestalt der lyrischen Sprache. Beispielhaft dafür sei auf die Unterschiede verwiesen, in der die drei Personen jeweils sprechen. Die Rede des Vaters weist metrisch eine freie Füllung auf, ist rhythmisch gemäßigt und klanglich von dunklen Vokalen geprägt; die des Kindes weicht in ihrer sich steigernden rhythmischen Unruhe deutlich davon ab.


    Die Sprechweise des „Erlkönigs“ weist klanglich eine auffällige Häufung von hellen Lauten, insbesondere des Vokals „i“, auf und ist rhythmisch von einem penetrant wirkenden Wechsel von Hebung und Senkung geprägt. In der höchsten Stufe ihrer verführerischen Eindringlichkeit nimmt sie sogar einen daktylischen Rhythmus an: „Und wiegen und tanzen und singen sich ein“.

  • Von dieser Ballade gibt es vier Fassungen. Die erste entstand im Herbst 1815. Davon gibt es den berühmten Berichts Joseph von Spauns (16. Nov. 1815), dem zufolge Schubert „glühend“ die Ballade laut lesend auf und ab gegangen sei, sich dann plötzlich hingesetzt und das Lied „in kürzester Zeit“ zu Papier gebracht habe. Die zweite Fassung komponierte Schubert möglicherweise im April 1816 und gab sie – mit vereinfachtem Klaviersatz – der Liedsendung an Goethe bei. Die dritte Fassung ist ebenfalls auf das Jahr 1816 zu datieren, und die vierte erschien als Druckfassung im März 1821. Sie trägt die Opuszahl 1 und steht in g-Moll. Sie weist einen Viervierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Schnell“ versehen.


    Von vielen wurde diese Ballade Goethes vertont, vor Schubert u.a. von Reichardt, Klein und Zelter. Aber selbst Carl Loewe kam mit seiner musikalisch beeindruckenden und durchaus gleichrangigen Komposition nicht an die mitreißende dramatischen Dichte und die hohe Binnenspannung des Schubertschen Werkes heran. Es ist darin wahrlich einmalig.


    Natürlich sind es zunächst einmal diese jagenden und Atemlosigkeit erzeugenden permanent repetierenden Achtel-Oktav-Triolen, die die Grundlage für diesen klanglichen Eindruck legen. Wobei nicht übersehen werden darf, dass der klanglich-rhythmische Effekt, der von ihnen ausgeht, durch die immer wieder aufrauschenden und schwerschrittig fallenden Achtel im Bass ganz wesentlich intensiviert und gesteigert wird. Diese hämmernden Oktav-Triolen beherrschen das Lied total, - wenn man nach dem subjektiven Eindruck urteilt, den es auf den Hörer macht.


    Aber da wäre kein Genie wie Schubert am Werk, wenn sich in diesen Eindruck nicht andere rhythmische Klangbilder drängten und ihn differenzierter erscheinen ließen. Immer dann, wenn der „Erlkönig“ seine verlockenden Lieder ertönen lässt – und das sind die melodisch eingängigsten Passagen der Ballade – tritt an die Stelle dieser wohl den Hufschlag des Pferdes imaginierenden triolischen Achtel-Repetitionen ein Rhythmus, der, weil aus dem Wechsel von Oktaven im Bass und Akkorden im Diskant hervorgehend oder gar zum fließenden Auf und Ab von Achteln sich zurücknehmend, klanglich weicher, ja einnehmend wirkt.


    Worin die Größe dieser Liedkomposition auch gründet, das ist die innere Geschlossenheit, die sie aufweist, obgleich die melodische Linie der Singstimme ein regelrechtes Spannungsfeld von rezitativischen, dramatischen und lyrischen Passagen durchläuft. Bei der ersten Strophe bewegt sie sich noch ruhig. Jedem Vers ist eine Melodiezeile zugeordnet, Viertelpausen liegen jeweils dazwischen. Von daher kommt der Eindruck einer gewissen narrativen Ruhe, wobei auch sicher eine Rolle spielt, dass auf den eine Betonung tragenden Silben jeweils eine halbe Note liegt. Die Worte „er hält ihn warm“ werden in besonderer Weise dadurch hervorgehoben, dass die melodische Linie hier ihren tiefsten Punkt erreicht hat und auf den Worten drei halbe Noten liegen. Freilich entfaltet sich unter diesem noch ruhigen Ton der Vokallinie die Unruhe der repetierenden Oktav-Triolen und der heraufdrängenden Achtel im Bass.


    Mit dem ersten Vers der zweiten Strophe kommen die ersten Elemente des Unheimlichen in das Lied. Schon die in großen und kleinen Sekunden ansteigende melodische Linie macht das vernehmlich, zumal dies mit einer chromatischen Rückung verbunden ist. Dann ist da noch die Unruhe, die durch das Auf und Ab der Sext- und Quintsprünge und –abstürze bei der Antwort des Sohnes in die melodische Linie kommt. Und schließlich ist diese auch noch in ihrer Harmonisierung von starkem Chroma durchsetzt, das sich später bis zu schrillen Dissonanzen steigern wird. Noch aber klingt die Antwort des Vaters ruhig: In tiefer Lage bewegt sich die Vokallinie bedächtig auf nur einer tonalen Ebene.


    Der „Erlkönig“ tritt als verführerischer Liedsänger auf, der sich mit einschmeichelnder Melodik an das Kind wendet. Immer ist sie in reinem Dur (hier B-Dur) harmonisiert und meidet schroffe harmonische Rückung und jedes Chroma. Weit gespannt ist die Phrasierung, Pausen gibt es nicht. Der einschmeichelnde Ton kommt durch das Auf und Ab einer von durch Punktierung der halben Noten leicht rhythmisierten melodischen Linie zustande und wird durch die Einlagerung von Melismen („spiel ich“ / „gülden Gewand“) sogar noch gesteigert. Die Reaktion des Kindes auf die erste Begegnung mit dem „Erlkönig“ ist harmonisch noch dissonanter als bei seiner ersten Antwort an den Vater. Die große innere Erregung wird darin vernehmlich, dass die Singstimme kurzschrittig auf einer tonalen Ebene deklamiert und von dieser nur um eine Sekunde abweicht, bevor die Frage bei dem Wort „spricht“ in eine lange melodische Dehnung mündet, die ihre Eindringlichkeit noch intensiviert.


    In C-Dur erklingt der zweite Verführungsgesang des „Erlkönigs“. Die melodische Linie bewegt sich nun lebhafter, da sie ausschließlich aus dem Auf und Ab von Vierteln und Achteln besteht. Ihre klangliche Eindringlichkeit steigert sich am Ende durch die Wiederholung des in große Höhe ausgreifenden und weit gespannten melodischen Bogens, der auf den Worten „Und wiegen und tanzen und singen dich ein“ liegt. Wieder reagiert das Kind mit diesem hektischen und penetrant auf einer Tonhöhe verbleibenden Deklamieren, an dessen Ende die lange Frage-Dehnung steht. Der Vater zeigt in seiner Antwort erstmals auch Unruhe: Verminderte Tonsprünge und das Verharren auf einer tonalen Ebene vor dem Quintfall am Ende lassen sie vernehmen.


    In Es-Dur erklingt die dritte Verführungsmelodie des „Erlkönigs“. Nun aber wird sie bedrängend, ja bedrohlich, da nun ebenfalls in insistierender Weise auf einer Tonhöhe deklamiert wird und am Ende ein mit einer Modulation nach d-Moll verbundener Quintfall mit Dehnung bei dem Wort „Gewalt“ steht. Die Ballade hat in ihrer Dynamik das Forte-Fortissimo erreicht. In schrill-dissonanter Form artikuliert das Kind sein Entsetzen (Schuberts Zeitgenossen waren darüber erschrocken). Wieder wird auf hoher Tonlage deklamiert, wobei die maßgeblichen Worte durch melodische Dehnungen akzentuiert werden und chromatische harmonische Rückungen den Ausdruck der melodischen Linie verstärken. Am Ende, bei dem Wort „getan“, ereignet sich ein Quintfall mit Dehnung, der wie ein Erlöschen der Ausdruckskraft, ja des Lebens wirkt.


    Wie getrieben von den Oktavtriolen und den immer wieder von unten heranstürmenden Achteln wirkt die melodische Linie in der letzten Strophe. Von Pausen unterbrochen und in Sekunden ansteigend, bewegt sie sich nach oben und gipfelt bei den Worten „das ächzende Kind“ in hoher Lage auf. Danach wirkt es, als würde sie abreißen. Eine fast dreitaktige Pause folgt. Zwar meldet sich die Vokallinie mit dem zweitletzten Vers noch einmal. Aber das wirkt wie ein Nachklang ihrer Bewegungen davor: Auf mittlerer tonaler Ebene wird in fast gleichförmiger Weise berichtend deklamiert. Und dann erlischt das unablässige Stakkato der Oktav-Triolen und mündet in einen lang gehaltenen Akkord.


    Die letzten Worte erklingen als Rezitativ ohne Klavierbegleitung in Gestalt einer bogenförmigen melodischen Linie über einem „as“. Noch einmal ein Akkord mit Fermate. Und dann, wie in den klanglich leeren Raum in Gestalt eines kleinen Sekundsprungs zu einem tiefen „d“ hin die Worte „war tot“. Piano erklingen sie. Zwei hart und forte angeschlagene Akkorde kommentieren das kalt.

  • Der "Erlkönig" von Schubert ist für mich schlicht ganz große Kunst, ein Kunstlied in Vollendung. Da bekommt die Dichtung noch einmal Gewicht durch die Musik, so daß man sie sich ohne die Vertonung gar nicht mehr vorstellen kann. Überschwang in der Bewunderung finde ich hier völlig angebracht! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • In meiner Besprechung dieser Ballade findet sich die Feststellung: Aber selbst Carl Loewe kam mit seiner musikalisch beeindruckenden und durchaus gleichrangigen Komposition nicht an die mitreißende dramatischen Dichte und die hohe Binnenspannung des Schubertschen Werkes heran. Es ist darin wahrlich einmalig.


    Ich könnte mich dabei in Übereinstimmung mit D. Fischer-Dieskau fühlen, der meint: "Carl Loewes Vertonung schildert die rauschenden Erlen zwar anschaulich, bewegt sich aber musikalisch auf wesentlich simpleren Pfaden". Und er fügt an: "Im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wien finden sich auch Skizzen Beethovens zu einer Erlkönig-Vertonung, die in ihrer 6/8-Einfachheit mehr zu Loewes Auffassung hinneigen, was die solitäre Leistung Schuberts noch unterstreicht. Diesem >milchjungen Knaben< konnte kein Erwachsener das Wasser reichen."


    Nun habe ich mir eben gerade Loewes Vertonung dieser Goethe-Ballade noch einmal genau angehört. Und ich denke: Obwohl ich das eigentlich gar nicht vorhatte, muss ich mich darauf doch noch einmal einlassen. Man sollte es sich nicht so einfach machen mit der Frage der adäquaten Vertonung von Lyrik.

  • Der "Erlkönig" von Schubert ist für mich schlicht ganz große Kunst, ein Kunstlied in Vollendung. Da bekommt die Dichtung noch einmal Gewicht durch die Musik, so daß man sie sich ohne die Vertonung gar nicht mehr vorstellen kann.


    Wozu ich Dir, lieber Holger, nur voll zustimmen kann. Es sollte eigentlich Sinn jeder Vertonung von Text sein, dass sie den Text unmittelbar und emotional verständlicher macht. Eine schlechte musikalische Umsetzung eines Textes schadet dem Text und ist damit überflüssig.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Es ist sozusagen zwingend, dann, wenn man sich liedanalytisch auf Schuberts „Erlkönig“ einlässt, auch auf die gleichnamige Ballade von Carl Loewe einzugehen. Ich habe aus diesem Grund eine Besprechung derselben in den Thread „Carl Loewe – Meister der Ballade und des Liedes“ eingestellt. Loewes Komposition entstand drei Jahre später, – in Unkenntnis der von Schubert übrigens übrigens. Deshalb ist es umso seltsamer, dass sie nicht nur dieselbe Opuszahl trägt, sondern überdies in der gleichen Tonart steht: g-Moll. Damit hat es sich aber auch mit den Ähnlichkeiten.


    Warum ist es zwingend? Ich beantworte die Frage mit einem Bekenntnis, das mir ein guter, inzwischen verstorbener Bekannter, der von Beruf Musiklehrer war, einmal machte, als ich ihn bei einer zufälligen Begegnung fragte, was er denn heute seinen Gymnasiasten so beigebracht habe „Schuberts Erlkönig“, antwortete er. Ich: „Großartig, wunderbar, ein singuläres Meisterwerk Schuberts“. Darauf er: „Ja, du hast ja recht. Ist ja auch musikwissenschaftlich gut erklärbar, und so bringe ich das meinen Schülern auch bei. Aber“, - so nach einer kurzen Pause und zu mir geneigt, als wolle er mir ins Ohr flüstern – „ich gestehe ganz ehrlich: Den Loewe-Erlkönig find ich besser.“


    In der Tat ist sich die Musikwissenschaft darin einig, dass Loewes „Erlkönig“ eine kongeniale und derjenigen Schuberts durchaus gleichrangige kompositorische Umsetzung von Goethes Ballade ist. Warum aber bekennt dann ein Golo Mann, sie sei die einzige Ballade Goethes, die er „nicht hersagen könne“. „Warum? Man käme ins Singen. Warum? Wegen der Schubertschen Komposition. Melodie und Wort haben sich derart vereinigt, daß sie nie mehr voneinander zu scheiden sind; was für die Melodie spricht und das Wort auch.“


    Womit das Wesen dieser Komposition Schuberts - und das Wesen seiner Liedkomposition überhaupt – treffend erfasst ist. Wenn man den Unterschied im liedkompositorischen Ansatz von Schubert und Loewe auf einen Nenner bringen sollte, könnte man sagen:
    Wo der eine, Schubert nämlich, sich in die zugrundliegende narrative Situation und das Denken und Fühlen der darin agierenden Personen versetzt und dies musikalisch zum Ausdruck bringt, schildert der andere die Szene und das Geschehen darin aus der Distanz des Beobachters mit klanglich höchst ausdrucksstarken Mitteln. In diesem musikalischen Sich-Hineinversetzen in die situativen Gegebenheiten, das Geschehen und die Akteure wurzelt die Größe dieser Ballade Schuberts.

  • schildert der andere - gemeint ist Loewe - die Szene und das Geschehen darin aus der Distanz des Beobachters mit klanglich höchst ausdrucksstarken Mitteln.


    Lieber Helmut,


    kannst Du bitte posten, womit Du Deine Meinung von den "klanglich..."begründest?


    Schuberts Komposition stammt aus 1815 (welche Fassung?), die UA (gängige Fassung!) - unter sehr starkem Beifall - Veröffentlichung und Notendruck waren 1921.
    Loewes Vertonung kam 1824 „auf den Markt“ (beide Daten lt. Wikipedia).



    Bis vor einiger Zeit – heute ist das nicht mehr möglich – galt: Es kann risikoärmer und aber genauso erfolgreich sein, ein Geschäftsmodell zu kopieren und zu versuchen, Verbesserungen einzubauen, anstatt eine neue Geschäftsidee auf dem Markt zu etablieren und zum Erfolg zu führen.
    Beispiel: Mc Donald 1940 – Burger King 1954 (auch lt. Wikipedia).


    Ich weiß, der Vergleich hinkt – aber Loewe hat doch wesentliche formale Merkmale aus Schuberts Komposition übernommen, aber Verbesserungen???


    Ich freue mich auf Deine Antwort,
    mit vielen Grüßen
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich gestehe, dass ich nicht so ganz verstanden habe, worauf Du hinauswillst, lieber zweiterbass. Aber selbstverständlich bemühe ich mich um eine Antwort.


    Zu (Zit.): "...kannst Du bitte posten, womit Du Deine Meinung von den "klanglich..."begründest?"


    Ich dachte, das hätte ich bereits getan. Ich verweise auf meine Ausführungen zu Loewes Ballade von heute im Loewe-Thread. Hieraus ein Zitat, das deutlich werden lässt, was ich mit den "klanglich höchst ausdrucksstarken Mitteln" bei Loewe meine:
    " Großartig ist Loewe der Schluss der Ballade gelungen. Hier begegnet man seiner ganzen Meisterschaft in der szenischen Schilderung mit klanglichen Mitteln. In die melodische Linie der Singstimme kommt eine regelrechte Hast, da sie sich in der raschen, immer wieder von Pausen unterbrochenen Bewegung von Achteln auf nur einer tonalen Ebene entfaltet. Im Klavier wird das rasche Galoppieren des Pferdes klanglich imaginiert: Die Punktierung des ersten Achtels der Dreiergruppen im Bass erzeugt eine ausgeprägte Rhythmisierung."


    Zu (Zit.): " Loewe hat doch wesentliche formale Merkmale aus Schuberts Komposition übernommen, aber Verbesserungen???


    Warum bei Wikipedia nachschlagen, die Entstehungsdaten der Balladen betreffend? Steht doch alles hier (Beitrag 134)!


    Von Schuberts Ballade gibt es vier Fassungen. Die erste entstand im Herbst 1815. Die zweite Fassung komponierte Schubert möglicherweise im April 1816 und gab sie – mit vereinfachtem Klaviersatz – der Liedsendung an Goethe bei. Die dritte Fassung ist ebenfalls auf das Jahr 1816 zu datieren, und die vierte erschien als Druckfassung im März 1821. Loewes Komposition entstand drei Jahre später, – in Unkenntnis der von der Schuberts übrigens. Meiner Besprechung liegt die Druckfassung zugrunde.


    Loewe kann von Schuberts Ballade keine "formalen Merkmale" übernommen haben, denn man geht davon aus, dass er sie gar nicht kannte. Loewe hatte, wie ein Musikwissenschaftler einmal sehr treffend bemerkte, "eine sehr distanzierte und isolierte Haltung der zeitgenössischen Musik gegenüber". Von "Verbesserungen" habe ich nicht gesprochen. Dieser Begriff wäre auch völlig unangebracht, denn Loewes Ballade lag ja doch ein anderes liedkompositorisches Konzept zugrunde. Ich habe versucht, in der Beschreibung der Faktur der Loewe-Ballade eben diesen Unterschied im liedkompositorischen Ansatz aufzuzeigen.

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  • Es war ein König in Thule
    Gar treu bis an das Grab,
    Dem sterbend seine Buhle
    einen goldnen Becher gab.


    Es ging ihm nichts darüber,
    Er leert’ ihn jeden Schmaus;
    Die Augen gingen ihm über,
    So oft trank er daraus.


    Und als er kam zu sterben,
    Zählt’ er seine Städt’ im Reich,
    Gönnt’ alles seinen Erben,
    Den Becher nicht zugleich.


    Er saß beim Königsmahle,
    Die Ritter um ihn her,
    Auf hohem Vätersaale
    Dort auf dem Schloß am Meer.


    Dort stand der alte Zecher,
    Trank letzte Lebensglut,
    Und warf den heil’gen Becher
    Hinunter in die Flut.


    Er sah ihn stürzen, trinken
    Und sinken tief ins Meer.
    Die Augen täten ihm sinken;
    Trank nie einen Tropfen mehr.


    Die Ballade entstand 1774. Goethe lässt sie im Faust Gretchen singen. Im Unterschied zu den Versen „am Spinnrad“ sollen diese also tatsächlich gesungen werden. Es heißt: „Sie fängt an zu singen, indem sie sich auszieht“.
    Das Königreich „Thule“ hat es nie gegeben. Es steht hier für ein fernes nordisches Reich, und Goethe greift damit eine Thematik auf, wie sie einige Jahre davor in die deutsche Dichtung durch Klopstock und andere eingeführt wurde.


    Das zentrale lyrische Bild ist der „goldne Becher“. Er ist hier Symbol der Liebe, und dies motiviert auch Gretchen in jener Szene im „Faust“, die Ballade, die hier dramatisch als bereits vorhandenes Lied behandelt wird, leise vor sich hin zu singen, während sie sich entkleidet. Sie identifiziert sich dabei emotional mit jener Sagengestalt in ihrer absoluten Liebe zu jener Frau, die ihm sterbend eben jenen „goldnen Becher“ schenkte.


    Dem König, bei dem es nun seinerseits ans Sterben geht – von Goethe viel schöner formuliert: „Er kam zu sterben“ - , bedeutet irdisches Gut nichts mehr. Er „gönnt alles seinen Erben“, ohne irgendwelche testamentarischen Differenzierungen vorzunehmen. Im Augenblich des Sterbens reduziert sich seine Existenz auf das einzig Wesentliche: Die Erfahrung der Liebe.


    Der Becher, der sie symbolisch verkörpert, ist nicht vererbbar. Indem ihn der König, nachdem er ein letztes Mal aus ihm getrunken hat, ins Meer wirft, bekennt sich zur Endlichkeit nicht nur seiner selbst, sondern auch dieses höchsten Gutes, die die Liebe ihm bedeutet. Gerade darin liegt für ihn dessen Wert: In der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit.


    Überaus eindrucksvoll das lyrische Bild dabei: Der Becher „stürzt“ nicht nur im Fall, er „trinkt“ das Meerwasser und „sinkt“ dabei. Das ist die willige Vereinigung mit jenem Element, aus dem alles Leben hervorging, und das bereit ist, dieses wieder in sich aufzunehmen.

  • Diese Ballade entstand im Frühjahr 1816 und wurde in die an Goethe gerichtete Liedsendung aufgenommen, - wohl in der Hoffnung, dass hier eine diesem genehme Vertonung dieser Verse vorliegen würde. Und diese Hoffnung war ja durchaus berechtigt, denn Schubert hat den archaisierenden, gleichsam nordischen Volkston der Verse Goethes musikalisch adäquat umgesetzt.


    Das Lied steht in d-Moll, weist einen Zweivierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Etwas langsam“ versehen. Es handelt sich um eine Strophenlied-Komposition, - allerdings in der Gestalt, dass Schubert jeweils zwei Strophen zu einer musikalischen Einheit zusammengefasst hat, so dass seine Ballade also aus drei Strophen mit der jeweils gleichen Faktur besteht. In ihrem Aufbau weist diese Liedstrophe insofern die Anmutung von Volksliedhaftigkeit auf, als mit dem Prinzip der Wiederholung melodischer Figuren gearbeitet wird. Volksliedhaft ist auch, dass auf jedem Vers eine Melodiezeile liegt und danach jeweils eine Viertelpause folgt. Und schließlich ist auch der Klaviersatz auf volksliednahe Einfachheit angelegt. Er besteht durchweg aus einer Abfolge von je zwei Viertelakkorden im Diskant, denen Oktaven im Bass in Gestalt von halben Noten unterlegt sind. Einfacher geht es kaum noch.


    Die Melodiezeilen von jeweils zwei Versen bilden eine melodische Einheit. Bei dem auf das erste Verspaar folgenden zweiten wiederholt sich die Vokallinie exakt. Auch bei den folgenden beiden Verspaaren der Großstrophe orientiert sich Schubert an diesem volksliedhaften Prinzip der Wiederholung. Allerdings muss er, weil er sich der Aussage des lyrischen Textes verpflichtet fühlt und die melodische Linie zudem zu einer Kadenz hinführen muss – auch dies volksliedgemäß! – beim letzten Verspaar Modifikationen in der Bewegung der Vokallinie vornehmen, so dass nur hinsichtlich der Grundstruktur von einer Wiederholung gesprochen werden kann.


    Auch wenn der Grundeindruck bei diesem Lied der von Einfachheit ist, so zeigt der nähere Blick auf die Faktur doch die kompositorische Kunstfertigkeit, die ihm zugrunde liegt. So bringt Schubert eine gewisse melodiöse Gesanglichkeit in die ein wenig schwerfällige Dreihebigkeit der Verse Goethes, indem er jeden Vers mit einem Achtelauftakt beginnen lässt, - in zwei Fällen sogar in eine Abfolge von Achtel und Sechzehntel aufgelockert. Zudem gibt es immer wieder Melismen in der Bewegung der melodischen Linie: Einen Triller in der zweiten, bzw. vierten Melodiezeile und bogenförmige Achtel-, bzw. Sechzehntelbewegungen in den beiden anderen Melodiezeilen-Paaren. Klanglich reizvoll ist die harmonische Rückung, die mit dem kleinen Sekundsprung bei dem Wort „Thule“ erfolgt. Dem Bild „treu bis an das Grab“ wird dadurch melodische Expressivität verliehen, dass die Vokallinie eine abwärts gerichtete Bogenbewegung mit eingelagertem Triller beschreibt.


    Bei all seiner strukturellen Einfachheit steckt auch im Klaviersatz durchaus kompositorische Kunstfertigkeit. Man begegnet ihr vor allem in den harmonischen Modulationen, die die melodische Linie immer wieder einmal aus ihrer Einbettung in das d-Moll heraushebt und ihrer jeweiligen Aussage einen besonderen Akzent verleiht. So moduliert zum Beispiel die Tonart beim ersten Verspaar in die Parallele F-Dur, was dem lyrischen Bild dort durchaus angemessen ist. Dann aber, bei der letzten Melodiezeile, ist die Vokallinie wieder in d-Moll harmonisiert. Das letzte Bild machte dies für Schubert zwingend: „Trank nie einen Tropfen mehr“.

  • Lieber Helmut,


    hat die Einfachheit der Liedkomposition nicht auch etwas zu tun mit der Person, um die es im Gedicht geht?
    Der König von Thule – Thule ein Fabelreich wie Du schreibst – ist ein „einfacher, kreuzbraver, charakterfester Mann, ein Mensch aus Fleisch und Blut – so wie das Volk sich einen König wünschen würde – nicht machtbesessen, gierig, heimtückisch, unberechenbar und was es sonst noch an unangenehmen Herrschereigenschaften geben mag.“ Diese Einfachheit eines Menschen, dieses unverbildet Sein, drückt das nicht auch Goethe in seinem Gedicht aus. Ich meine damit nicht, das Gedicht sei einfach, aber Goethe charakterisiert einen Menschen mit guten Eigenschaften, so wie einfache Menschen sich das vorstellen, ob er nun König ist oder nicht ist Nebensache. So wenigstens verstehe ich das Gedicht.


    Viele Grüße
    Horst

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit: „So wenigstens verstehe ich das Gedicht.“


    Ja, lieber zweiterbass, und so hat es offensichtlich auch Schubert gelesen und verstanden. Das ist ganz im Sinne Goethes. Denn der lässt die Ballade ja Gretchen leise vor sich hinsingen: Ein einfaches Mädchen aus dem Volk identifiziert sich mit einer nordischen Sagenwelt, in der ethische Werte gleichsam absolute Gültigkeit beanspruchen dürfen: „Liebe“ als höchstes Gut geht einher mit „Treue bis zum Grab“.


    Dieser einfach strukturierten und klar geordneten Welt entspricht die einfach gebaute dichterische Sprache. Sie ist gleichsam Vers für Vers narrativ konstatierend, - angefangen mit dem gleichsam märchenhaft schlichten „Es war…“ und gefolgt von solchen sprachlichen Wendungen, in denen Goethe ganz bewusst und sehr gekonnt die Welt der nordischen Sagas sprachlich aufklingen lässt: „Und als er kam zu sterben“, „Die Augen täten ihm sinken“ …
    Schuberts musikalische Sprache, die ich oben zu beschreiben versucht habe, greift diese archaisierende Einfachheit in Wortwahl und Syntax in vollkommen adäquater Weise auf. Das macht diese Ballade so hörenswert. Und ich bin sicher: Hätte Goethe sie gehört – wovon ich nicht ausgehe – er wäre höchst angetan davon gewesen.


    Auch Carl Friedrich Zelter hat bei der Vertonung dieser Ballade bewusst eine sehr einfache Liedsprache verwendet. Im folgenden Beitrag möchte ich darauf eingehen.

  • Es ist wie so oft: Ein vergleichender Blick auf die Vertonung dieser Ballade durch Carl Friedrich Zelter lässt die Eigenart von Schuberts Umgang mit dem lyrischen Text sinnfällig werden. Zelters Lied, das den Titel „Der König von Tule“ trägt, steht in a-Moll, weist einen Sechsviertel-Takt auf und ist eine reine Strophenlied-Komposition von recht schlichter Art. Es gibt eine einzige Melodiezeile, die über einem rein akkordischen, an Lautenbegleitung erinnernden Klaviersatz erklingt.


    Man kann sie schon nach zweimaligem Hören ohne Probleme nachsingen, und Zelter ist damit ganz sicher ein melodischer Wurf gelungen. Sie besteht aus zwei Teilen, die nicht nur mit dem gleichen Quartsprung einsetzen und insofern ineinandergreifen, sondern sich auch in ihrer Struktur ähneln. Die Vokallinie besteht ausschließlich aus Sprung- und Fallbewegung im tonalen Raum von der Terz bis zur Sexte. Die dazwischen liegenden Noten werden auf einer tonalen Ebene deklamiert.


    Zelter ging es offensichtlich primär darum, dem lyrischen Text eine Melodie zu unterlegen, die singbar ist und in ihrem Klangcharakter die Grund-Atmosphäre der Ballade einfängt. Daher die durchweg in Moll harmonisierte Fallbewegung, die in gleicher Weise permanent wiederholt wird. Schubert verfolgte dagegen eine ganz andere Absicht. Obgleich er sich auch grundsätzlich für eine Strophenlied-Form entschied, sah er sich genötigt, der Aussage des lyrischen Textes so weitgehend gerecht zu werden, wie das diese Form eben zuließ.


    Nun ist Goethes Ballade ja eine höchst kunstvolle Kombination aus episch-narrativen und genuin lyrischen Elementen. Gleich die beiden ersten Strophen lassen das erkennen: Die erste erzählt in gleichsam sachlicher Weise, die zweite hingegen öffnet diese Erzählung in den Raum des Seelischen, wenn davon die Rede ist, dass dem König „die Augen übergingen“, wenn er aus dem Becher trank.


    Schubert konnte die melodische Linie, die auf der ersten Strophe lag, nicht auch für die zweite verwenden: Sie wirkt, obgleich sie melismatische Elemente aufweist, mit ihrem Terzsprung und dem nachfolgenden verminderten Quartfall, wie überhaupt in der Art ihrer Bewegung eher narrativ. Das gilt nicht für die Vokallinie der zweiten Strophe: Sie macht von ihrer Struktur her einen eher auf melodisches Fließen hin angelegten Eindruck: Mit dem ruhigen Anstieg in Sekunden am Anfang und den zwei Mal erfolgenden, leicht elegisch wirkenden Fallbewegungen. Eine wichtige Rolle spielen hierbei auch der Aspekt der harmonischen Modulation und die Rückung von Moll nach Dur.


    Man kann, ohne das mit einem Qualitätsurteil zu verbinden, mit guten Gründen feststellen, dass Schubert der dichterischen Aussage eher gerecht wird, weil er sie – trotz Strophenlied-Konzept - in ihrer Vielfalt in musikalisch differenzierterer Weise erfasst.

  • Im Felde schleich ich still und wild,
    Gespannt mein Feuerrohr.
    Da schwebt so licht dein liebes Bild,
    Dein süßes Bild mir vor.


    Du wandelst jetzt wohl still und mild
    Durch Feld und liebes Tal,
    Und ach, mein schnell verrauschend Bild,
    Stellt sich dirs nicht einmal?


    (Des Menschen, der die Welt durchstreift
    Voll Unmut und Verdruß,
    Nach Osten und nach Westen schweift,
    Weil er dich lassen muß.)

    Mir ist es, denk ich nur an dich,
    Als in den Mond zu sehn;
    Ein stiller Friede kommt auf mich,
    Weiß nicht, wie mir geschehn.


    Das Gedicht entstand 1775 und wurde ein Jahr später veröffentlicht. Im Aufbau ist es einfach angelegt: Die Strophe besteht aus vier Versen mit Kreuzreim, jeweils vierhebige und dreihebige Jamben wechseln einander ab. Inhalt ist ein Monolog, den das lyrische Ich über die Gedanken und Empfindungen, die sich bei der nächtlichen Pirsch einstellen, mit sich selbst führt. Zwar wird die Geliebte dabei angesprochen, sie ist jedoch nur in Gestalt eines „lieben“ und „süßen Bildes“ gegenwärtig, das dem lyrischen Ich vorschwebt.


    Der Versuche, sich die Geliebte in ihrem Sein, Fühlen und Denken in stärkerer Weise zu vergegenwärtigen, mündet in Fragen. Das lyrische Ich ist sich dessen nicht sicher und gewiss, ob die Geliebte ihm so innig verbunden ist, dass ihr sein Bild in der Weise gegenwärtig ist, wie das bei ihm mit ihrem Bild der Fall ist. Es könnte ein „verrauschend Bild“ sein, stellt er sich vor, das sich ihr „nicht stellen“ will.


    Die dritte Strophe fällt lyrisch ein wenig aus dem Rahmen, – und vermutlich hat Schubert sie deshalb auch nicht in seine Komposition aufgenommen. Das lyrische Ich verfällt in eine gedankliche Reflexion seiner Situation: Für den aktiven Menschen, der die Welt durchstreifen muss, ist die unvermeidliche Trennung von der Geliebten etwas, das „Unmut und Verdruss“ bereitet.


    In der letzten Strophe kommt „stiller Friede“ in das lyrische Ich. Genau heißt es: „Auf“ das lyrische Ich. Und das ist auch lyrisch-sprachlich ganz konsequent, denn es ist das Mondlicht, das, indem es mit dem Bild der Geliebten verschmilzt, diesen inneren Frieden zu schenken vermag. Wie man das von Goethes Gedicht „An den Mond“ kennt, vermag dieses die harten Konturen der realen Welt verschwimmen zu lassen und mit diesen auch alle die konkreten Fragen und Probleme, die sich bei Denken an die ferne Geliebte einstellen wollen. Begreiflich ist das letzten Endes nicht: Das lyrische Ich weiß nicht, wie ihm geschehen.

  • Diese Fassung des Liedes entstand vermutlich am Anfang des Jahres 1816. Schubert hatte sich dem Gedicht Goethes schon einmal zugewendet, und zwar im Juni 1815. Und hier nun ereignete sich etwas liedkompositorisch höchst Bemerkenswertes: Während die erste Fassung, die nur die beiden ersten Strophen des Gedichts enthält, durchkomponiert war entschied sich Schubert bei der Neufassung für ein Strophenlied-Konzept.


    Er tat gut daran, - wie ein Hörvergleich auf ziemlich deutliche Weise zeigt. Zwar entfaltet bei der Erstfassung die Vokallinie insbesondere bei der zweiten Strophe sehr viel Melos, gleichwohl meint man, die Aussage des lyrischen Bildes sei nicht so vollkommen musikalisch eingefangen, wie dies in der zweiten Fassung der Fall ist. Das Seltsame und Verwunderliche zugleich ist freilich, dass diese, obgleich sie ja dem Einheitlichkeitszwang ausgesetzt ist, den das Strophenlied-Konzept zwangsläufig mit sich bringt, dem lyrischen Text eher gerecht wird als die erste Fassung, bei der sich Schubert durchaus um eine textnahe Gestaltung der melodischen Linie der Singstimme bemüht hatte.


    Die Ursachen dafür dürften in dem gleichsam radikaleren kompositorischen Ansatz zu finden sein, den Schubert in der zweiten Fassung verfolgt. Während er in der ersten Fassung noch den deskriptiven Rahmen des Gedichts berücksichtigt, dieses „im Felde Schleichen des Jägers“, und dementsprechend die melodische Linie ruhig auf einer tonalen Ebene führt, konzentriert er sich in der Zweitfassung ganz und gar auf den lyrischen Kern, - die lyrischen Bilder also, die allesamt in der Imagination des lyrischen Ichs geboren werden und insofern einen inneren Zusammenhang aufweisen und eine Einheit bilden. Nicht der still und leise schleichende Jäger ist für ihn nun Ansatzpunkt der Komposition, sondern das, was in ihm seelisch vorgeht. Und da nun all dieses sein Zentrum in dem „lieben Bild“ der Geliebten hat, kann er getrost alle Strophen einer einzigen Faktur anvertrauen, - so diese denn all das, was um dieses eine Bild an weiteren lyrischen Bildern kreist, musikalisch trifft. Aus diesem Grund musste Schubert allerdings die dritte Strophe ausklammern: Sie sprengt von ihrem Gehalt her dieses kompositorische Konzept.


    Wenn auch die lyrischen Bilder, die die seelische Innenwelt des Jägers spiegeln und der eigentliche Quellgrund der Komposition sind, so schlagen sich in deren Faktur die jeweiligen Aussage des lyrischen Textes und seine sprachliche Struktur sehr wohl nieder. So weist die Liedstrophe eine gewisse Zweiteiligkeit auf, die im Gehalt des mit den Partikeln „da“, „und“ und „ein“ eingeleiteten zweiten Verspaares der drei Strophen wurzelt. Das Lied steht in Ges-Dur, weist einen Zweivierteltakt auf und soll „sehr langsam, leise“ vorgetragen werden. Und in der Tat: Es verlässt den Pianissimo-Bereich durchweg nicht und weist nur an einer Stelle, eben am Anfang dieses zweiten Verspaares, ein leichtes Crescendo auf, das aber schon im übernächsten Takt wieder zurückgenommen wird. Es geht hier tatsächlich um die musikalische Expression seelischer Innenwelt.


    Im ersten Teil macht die melodische Linie der Singstimme den Eindruck schwebender Leichtigkeit. Das hat seine Ursache darin, dass sie auftaktig angelegt ist und auf der ersten Zählzeit des Taktes jeweils eine Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels liegt. Zudem kehrt sie im übernächsten Takt immer wieder zu dem Ton zurück, von dem sie zuvor ausgegangen ist. Man kann, wenn man möchte, darin durchaus einen musikalischen Reflex dieses „still und wild Schleichens“ sehen. Ich neige aber eher dazu, darin einen Ausdruck des In-sich-versunken-Seins dieses lyrischen Ichs zu vernehmen.


    Wenn sich der Faktor „Bewegung“, der im ersten Verspaar der Strophen eine Rolle spielt, in der Faktur niedergeschlagen hat, dann wohl im Klaviersatz. Er besteht im ersten Teil des Liedes aus gleitend emporsteigenden Sexten, die am Ende in Terzen übergehen. Und diese stehen in ihrer Rhythmik und Klanglichkeit in einer überaus reizvollen Spannung zur schwebenden Ruhe der Melodik. Dies insofern, als ei deren Neigung zur ruhigen seelischen Innenschau entgegenwirken und ihr die Dynamik abnötigen, die die Fülle der lyrischen Bilder fordert. Insofern treiben diese aufsteigenden Sexten und Terzen die melodische Linie der Singstimme zum zweiten Teil der Strophe hinüber und stiften damit die innere Einheit des Liedes.


    Klanglich bestechend ist die Fallbewegung der Vokallinie im dritten Vers. Sie setzt – wiederum auftaktig – an einem hohen „f“ an, macht danach noch einen kleinen Sekundsprung, verharrt dort einen Augenblick und steigt danach wiederum in Sekundschritten langsam herab, - einschließlich eines kleinen Melismas bei dem Wort „Bild“. Kann man dieses „Schweben des lieben Bildes“ musikalisch schöner zum Ausdruck bringen, als mit dieser Vokallinie, die ja eigentlich weniger herabsteigt, als vielmehr herabschwebt und zudem die Höhe ihres Ansatzes auch noch aus einer harmonischen Rückung gewinnt, die an ihrem Anfang steht?


    Melismen prägen die melodische Linie des letzten Verses, der wiederholt wird, als sollte die lyrische Aussage, in deren Zentrum das „süße Bild“ steht, gleichsam musikalisch potenziert werden. Auf dem Wort „süßes“ liegt eine bogenförmige melodische Fallbewegung in Sekundschritten aus Vierteln und Achteln, das Wort „mir“ erhält einen Akzent durch einen nach unten ausgreifenden triolischen Bogen aus Sechzehnteln, und die Wiederholung des Wortes „Bild“ ist mit einem Sechzehntel-Melisma versehen.


    Die große kompositorische Kunst eines Franz Schubert wird hier darin sinnfällig, dass er die melodische Linie nicht einfach wiederholt, sondern sie modifiziert. Dies nicht nur in ihrer Struktur, sondern auch in der Harmonisierung. So bezieht die Wiederholung des Wortes „Bild“ daraus ihre ganz besondere musikalische Expressivität, dass beim ersten Mal eine harmonische Rückung über einen Quartsextakkord in die Parallele es-Moll erfolgt. Wenn dann die Wiederholung im ursprünglichen Ges-Dur erklingt, so entfaltet dies eine ganz besondere klangliche Strahlkraft.

  • Dieses Gedicht wurde auch von einer ganzen Reihe anderer Komponisten vertont, - so etwa von Reichardt, Zelter, Tomaschek und Weber. Ein vergleichender Blick, der darauf abzielt, das Neue in der Liedsprache Schuberts aufzuzeigen, ist nur im Falle Zelters und Reichardts sinnvoll.


    Zelter macht aus Schuberts Gedicht ein in Melodik und Klaviersatz überaus schlichtes, mit dem Volksliedton liebäugelndes Lied. Und natürlich ist es ein reines Strophenlied, das alle vier Strophen des Gedichts umfasst. Die melodische Linie steigt beim ersten Verspaar in Doppelschritten von Sekunden und Terzen zu ihrem Höhepunkt bei dem Wort „gespannt“ empor und bewegt sich danach in einem Quart- und einem Terzfall mit nachfolgenden Achtelschritten wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Das ist der Grundton. Das Klavier folgt ihr dabei exakt mit zweistimmigen Akkorden.


    Beim zweiten Verspaar kommt ein wenig mehr Fluss in die Bewegung der melodischen Linie. Und auch der Klaviersatz wird klanglich aufwendiger. Er besteht jetzt aus einer Abfolge von aufsteigenden Sechzehnteln, denen drei über den Takt gehaltene Akkorde folgen. Im Nachspiel erklingt eine Art fallende Kaskade von Sechzehnteln, die in den Grundton im Wert von einer ganzen Note mündet. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich nach einem zunächst deklamatorisch silbengetreuen Verharren auf einer tonalen Ebene nach oben, hält bei dem Wort „Bild“ einen Augenblick inne und steigt danach in zwei aufeinander folgenden Abwärtsbewegungen in Terzintervallen zur Terz herab, die einen ganzen Takt lang gehalten wird.


    Es liegen liedkompositorische Welten zwischen dieser Vertonung von Goethes Versen und jener Schuberts. Hier die mit Tönen unterlegte lyrische Sprache. Dort ihre musikalische Ausleuchtung und Interpretation mit den Mitteln der Musik.


    Zu der Art, wie Reichardt mit dem Gedicht kompositorisch umgeht, lässt sich feststellen:
    Es besteht eine nahtlose Übereinstimmung zwischen sprachlicher Struktur und der Faktur der Komposition. Die Singstimme deklamiert exakt so, wie es das jambische Versmaß vorgibt. Die erste Melodiezeile steigt in Sekundschritten an bis hin zur Quinte, endet dann aber auf der Terz. Auf jeder Silbe sitzt ein Ton. Danach steigt die melodische Linie in ähnlichen Schritten abwärts, um in einem Wechsel von Dominante und Tonika zu enden.


    Die Tonschritte der Singstimme erinnern unüberhörbar an Hornsignale, was ja auch vom Text nahegelegt wird. Reichardt nimmt den Text also ganz wörtlich: Er sieht da einen Jäger abends durchs Gelände ziehen, der nicht zu seiner Geliebten kann, weil er "die Welt durchstreift", seine "Jägerwelt". Die Klavierbegleitung der Singstimme besteht aus schlichten Akkorden, die wiederum exakt mit der Skandierung der melodischen Linie übereinstimmen. Diese Klavierbegleitung hat neben ihrer klanglichen Stützfunktion keine weitere. Man könnte sie genauso gut weglassen und nur die Melodie singen: Diese würde dadurch überhaupt nichts von ihrem inneren Ausdruck verlieren.


    Das Gesamtbild der Komposition ist eindeutig: Das ist wortgetreu in Musik gesetzte lyrische Sprache. Reichardt "achtet" den Text bis in seine kleinsten Feinheiten. Aus dieser "Achtung" heraus hütet er sich vor jeglicher Eigenständigkeit im Umgang mit Goethes Gedicht. Er lässt den Sänger exakt nach den metrischen Vorgaben silbengetreu skandieren. Von einer eigenständigen Interpretation des Gedichts durch den Komponisten kann keine Rede sein.

  • Spude dich, Kronos!
    Fort den rasselnden Trott!
    Bergab gleitet der Weg;
    Ekles Schwindeln zögert
    Mir vor die Stirne dein Zaudern.
    Frisch, holpert es gleich,
    Über Stock und Steine den Trott
    Rasch ins Leben hinein!


    Nun schon wieder
    Den eratmenden Schritt
    Mühsam Berg hinauf!
    Auf denn, nicht träge denn,
    Strebend und hoffend hinan!


    Weit, hoch, herrlich der Blick
    Rings ins Leben hinein,
    Vom Gebirg zum Gebirg
    Schwebet der ewige Geist,
    Ewigen Lebens ahndevoll.


    Seitwärts des Überdachs Schatten
    Zieht dich an
    Und ein Frischung verheißender Blick
    Auf der Schwelle des Mädchens da.
    Labe dich! – Mir auch, Mädchen,
    Diesen schäumenden Trank,
    Diesen frischen Gesundheitsblick!


    Ab denn, rascher hinab!
    Sieh, die Sonne sinkt!
    Eh sie sinkt, eh mich Greisen
    Ergreift im Moore Nebelduft,
    Entzahnte Kiefer schnattern
    Und das schlotternde Gebein.


    Trunknen vom letzten Strahl
    Reiß mich, ein Feuermeer
    Mir im schäumenden Aug,
    Mich geblendeten Taumelnden
    In der Hölle nächtliches Tor.


    Töne, Schwager, ins Horn,
    Raßle den schallenden Trab,
    Daß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt.
    Drunten von ihren Sitzen
    Sich die Gewaltigen lüften.


    Spätere (von Schubert benutzte) Fassung des Schlusses:
    Daß der Orkus vernehme: wir kommen,
    Daß gleich an der Türe
    Der Wirt uns freundlich empfange.


    Ein unverschämt anmaßendes Gedicht ist das, - lyrische Ausgeburt eines aufstrebenden Genius, der erste literarische Erfolge hatte („Götz von Berlichingen“, „Die Leiden des jungen Werthers“) und sich nun auf dem Weg zum literarischen Ruhm wähnt. Nur „Prometheus“ ist diesem Werk in seinem Geist noch vergleichbar. Aber wie auch immer: Es ist ein großer, wahrlich genialischer lyrischer Wurf.


    Dass das Gedicht in einer Postkutsche entstanden ist, kann man lesend spüren. Man nimmt an der Kutschfahrt regelrecht teil: Holpert über Stock und Stein, quält sich langsam den Berg hinauf, erlebt den herrlichen Blick in der Höhe und landet bei der raschen Fahrt hinunter in „des Überdachs Schatten“. Das ist die so überaus bildhaft-konkrete lyrische Sprache, durch die Goethe als Lyriker berühmt und wahrlich singulär werden sollte. Kann man die Begegnung mit einem „Mädchen“ während der Rast sprachlich treffender, plastischer und unmittelbar anrührender ausdrücken als mit den Worten „schäumender Trank“ und „frischer Gesundheitsblick“? Dabei verheißt der Blick des Mädchens auf der Schwelle überdies „Frischung“. Das ist große Poesie!


    Das Gedicht trägt in der Handschrift den Vermerk „An Schwager Kronos in der Postchaise den 10. Oktober 1774“. Goethe war damals von Klopstock, der damaligen dichterischen Autorität, besucht worden, durfte ihn auf seiner Reise nach Karlsruhe begleiten und empfand dies alles als eine große Ehrung und Anerkennung seiner literarischen Leistung. Auf der Rückreise entstand, ganz offensichtlich im Überschwang dieses Erlebnisses und ganz vom Geist des „Sturm und Drang“ beflügelt, eben dieses Gedicht, bei dem er im strömenden Fluss der freien Rhythmen jegliche traditionellen Formen von Lyrik schlechterdings ignoriert und über den Haufen wirft. Verse wie „Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein“ sind sprachlicher Ausfluss eines jenseits von syntaktischen Zwängen sich frei entfaltenden poetischen Gestaltungsvermögens.


    Ein „anmaßendes Gedicht“, - warum? Da setzt einer den Vater von Zeus und Hera mit dem Zeitgott „Chronos“ gleich, pflanzt ihn als „Schwager“ auf den Kutschbock, erteilt ihm Kommandos und erlaubt sich sogar, über sein „Haudern“ (später: „Zaudern“) in helle Empörung auszubrechen. Und am Ende sieht er sich sogar als „Fürsten“, vor dem sich die „Gewaltigen des Orkus“ „von ihren Sitzen zu lüften“ haben. Wie in so vielen Fällen seiner Sturm und Drang-Poesie (auch des „Werther“!) war Goethe das später ein wenig peinlich, so dass er, als der „Schwager Kronos“ in die „Werke“ aufgenommen werden sollte, eben diese letzten Verse in ihrem anmaßenden Gestus ein wenig milderte.

  • In diesem Lied erlebt man als Hörer auf eindrucksvolle Weise die Folgen der Schubertschen Verwandlung von lyrischer in musikalische Sprache. Schon der Grundrhythmus, wie er im Vorspiel mit dem Auf und Ab von oktavischen Achteln in Dreiergruppen vorgegeben wird, ist der eines eiligen Holperns, - ganz wie der Text es sagt. Die melodische Linie der Singstimme setzt mit fast schmetterndem Ton ein: Das „Spude dich“ trägt eine Dehnung, und wenn die Singstimme nicht dringlich auf einem Ton deklamiert, macht sie energische Sprünge. Wie eng die Anbindung an die Aussage und die Struktur des lyrischen Textes ist, erfährt man in diesem Lied unablässig, - so zum Beispiel schon bei den Versen „Ekles Schwindeln zögert / Mir vor die Stirne dein Zaudern“. An die Stelle der lebhaften Bewegung tritt jetzt in der melodischen Linie ein langes insistierendes Verharren auf einzelnen Tönen (punktierten Vierteln), während im Klavierdiskant permanent Stakkato-Achtel nach oben laufen und zudem noch eine Rückung in den Moll-Bereich erfolgt. Die Empfindungen des lyrischen Ichs an dieser Stelle kommen auf diese Weise musikalisch voll zum Ausdruck.


    Wenn der „eratmende Schritt“ und die Mühe des Bergaufs eine Hemmung in den Elan der Bewegung bringen, verbleibt die melodische Linie in ihren lebhaften Bewegungen im engen tonalen Raum einer Quarte, und in den Klaviersatz kommt ein rhythmisches Stocken dadurch, dass die anlaufenden drei Achtel immer wieder in einen sforzato angeschlagenen Akkord münden. Bei dem Wort „mühsam“ macht die Vokallinie einen Quintsprung mit nachfolgender bogenförmiger Fallbewegung und verleiht ihm auf diese Weise eine starke Expressivität. Beim folgenden Vers („Auf denn…“) kommt hingegen energische Munterkeit in die melodische Linie. Sie setzt auf einem hohen „es“ an und bewegt sich mit munteren Sprüngen in mittlerer Lage wieder zu diesem Ton zurück. Im Diskant laufen derweilen wieder die Dreiergruppen aus Oktav-Achteln nach oben und treiben die Singstimme an.


    Strahlende klangliche Weite kommt in das Lied – ganz dem lyrischen Text gemäß – mit dem ersten Vers der dritten Strophe: „Weit, hoch, herrlich rings der Blick“. Das Wort „rings“ ist von Schubert eingefügt. Die melodische Linie der Singstimme steigt in markantem Sekundschritt zu dem Wort „herrlich“ empor, wobei auf jeder Silbe ein punktiertes Viertel liegt, und macht dort einen ausdrucksstarken Quartfall. Im Klavier erklingen vierstimmige Akkord-Repetitionen im Diskant, und im Bass rauschen Oktaven nach oben. Unablässig moduliert die Tonart: Von H-Dur über e-Moll, C-Dur und f-Moll nach Cis-Dur. Diese gewaltige musikalische Emphase wird – fortissimo! – die ganze Strophe über durchgehalten, wobei die Singstimme in markanter Weise immer wieder auf einer Tonhöhe deklamiert, nachdem sie gerade eine Abwärtsbewegung vollzogen hat. Unablässig hämmern im Klavierdiskant die Achtel-Akkord- Repetitionen, und im Bass ereignet sich ein unruhiges Auf und Ab von Oktaven. Der dichterische Gehalt dieser Strophe erfährt auf diese Weise eine mächtige Steigerung seiner lyrischen Expressivität.


    Ganz anders der Ton, der mit der fünften Strophe in das Lied einkehrt. Nun, da es um „des Überdachs Schatten“ und den „Erfrischung verheißenden Blick“ des Mädchens geht, kommt eine fast idyllische Klanglichkeit auf. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich ruhig, meidet große Sprünge und überlässt sich immer wieder einmal Dehnungen, die in eine Pause münden. Die Akkordrepetitionen dünnen klanglich immer mehr aus, - von der Dreistimmigkeit hin zur Zweistimmigkeit. Und sie treiben die Singstimme auch nicht mehr voran, weil ihnen der unruhige Untergrund im Bass fehlt. Vielmehr scheint der Klaviersatz die Singstimme auf fast liebliche Weise zu umspielen. Wunderbar kommen die mit den Worten „labe dich“ eingeleiteten letzten Verse zum Ausdruck. Die melodische Linie weist lange Dehnungen auf, und im Klavierbass erklingt eine fast schelmisch wirkende, den Sechsachteltakt tänzerisch hervorhebende Dreierfigur aus Akkorden und Stakkato-Achteln.


    Es ist wohl nicht erforderlich, immer wieder aufs Neue anhand von Beispielen die für Schuberts Liedsprache so typische enge Anbindung an die Struktur und die Semantik des lyrischen Textes hervorzuheben, die dazu führt, dass die lyrische Aussage eine interpretative Verstärkung mit musikalischen Mitteln erfährt, so dass man meint, der lyrische Text spreche sich sozusagen musikalisch selbst aus. Hingewiesen sei nur noch auf das plötzlich eintretende Piano in der chromatisch ansteigenden melodischen Linie bei den Worten „Eh mich Greisen ergreift im Moore Nebelduft“, auf das in der Musik – und zwar im chromatischen Anstieg der Akkord-Repetitionen – vernehmliche „Schlottern des Gebeins“, auf die „Trunkenheit vom letzten Strahl“, die sich in aus hoher Lage im Diskant herabspringenden Stakkato-Achteln ausdrückt, und schließlich auf die klanglich mitreißenden, immer wieder aufklingenden Horntöne, die die letzte Strophe klanglich prägen. Auch das Rasseln des Trabs ist im Klaviersatz zu vernehmen.

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