Schubert und Goethe. Wie große Lyrik zu großer Liedkunst wurde

  • Ich bin der wohlbekannte Sänger,
    Der vielgereiste Rattenfänger,
    Den diese altberühmte Stadt
    Gewiß besonders nötig hat.
    Und wären’s Ratten noch so viele,
    Und wären Wiesel mit im Spiele,
    Von allen säubr’ ich diesen Ort,
    Sie müssen miteinander fort.


    Dann ist der gutgelaunte Sänger
    Mitunter auch ein Kinderfänger,
    Der selbst die wildesten bezwingt,
    Wenn er die goldnen Märchen singt.
    Und wären Knaben noch so trutzig,
    Und wären Mädchen noch so stutzig,
    In meine Saiten greif’ ich ein,
    Sie müssen alle hinterdrein.


    Dann ist der vielgewandte Sänger
    Gelegentlich ein Mädchenfänger;
    In keinem Städtchen langt er an,
    Wo er’s nicht mancher angetan.
    Und wären Mädchen noch so blöde,
    Und wären Weiber noch so spröde,
    Doch allen wird so liebebang
    Bei Zaubersaiten und Gesang.


    In diesem, vom lyrischen Geist des Bänkelgesangs geprägten Gedicht, greift Goethe die Sage vom Rattenfänger von Hameln auf, wandelt sie aber in interessanter Weise ab. Das Gedicht entstand wahrscheinlich schon Anfang der achtziger Jahre, wurde aber erst 1804 in „Cottas Taschenbuch auf der Jahr 1804“ publiziert. Die drei Strophen bestehen aus jeweils acht Versen, die jeweils vier Hebungen auf der Grundlage eines jambischen Versmaßes aufweisen.


    Jede Strophe hat in der Art und Weise, wie der „Rattenfänger“ sich präsentiert und von sich selbst spricht, einen eigenen thematischen Schwerpunkt. Der Rattenfänger der Sage wird bei Goethe zu einem „Sänger“, einem Künstler also, der sich am Anfang jeder Strophe so vorstellt, - mit verschiedenen Adjektiven versehen: „Wohlbekannt“, „gut gelaunt“ und „vielgewandt“. Zwar säubert er die Stadt auch von Ratten, und er weist in diesem Zusammenhang auf seine Wichtigkeit hin. Aber in der zweiten Strophe lernt man ihn als einen „Sänger“ kennen, der mit seinen „goldnen Märchen“ Kinder in Bann zu schlagen vermag.


    In der dritten Strophe schließlich präsentiert sich der Protagonist dieser Romanze als „Mädchenfänger“, - als einer, der mit seinen „Zaubersaiten“ und seinem Gesang Frauen für sich einzunehmen vermag, - und zwar alle. Es wird deutlich: Im Zentrum steht die Macht der Kunst, der Dichtung, der Musik über die Menschen. Sie vermag, ist nur der wahre Künstler am Werk, alle in Bann zu schlagen.
    Bilder und Gedanken, mit denen sich ein Dichter wie Goethe und ein Musiker wie Schubert nur allzu gern beschäftigt haben.

  • Das Lied wurde am 19. August 1815 komponiert. Auch hier hat Schubert die Goethesche Vorlage wörtlich genommen: Er hat aus der volkstümlichen Romanze ein volksliedhaft schlicht anmutendes und ein wenig vom Geist des Bänkelgesangs geprägtes Strophenlied gemacht. Und das lyrische Bild, das ihm dabei gleichsam leitbildhaft vorschwebte, war offensichtlich das des Sängers, - des Musikanten also. Es war nicht das des zwielichtig-hinterhältigen Rattenfängers und Verführers. Man ist, die Vertonung von Hugo Wolf im Hinterkopf, versucht, hier den „naiven Goetheleser“ und Liedkomponisten Schubert dem diese Gestalt psychologisch ausleuchtenden und mit dem Flair des Satanischen versehenden Hugo Wolf entgegenzusetzen. Damit täte man Schubert aber unrecht: Er ist mit seinem Lied dem Geist des lyrischen Textes musikalisch näher, als die Hugo Wolf mit seiner Komposition gelang, - bei all der klanglichen Faszination, die von dieser ausgeht.


    Schubert hat den Strophen Goethes eine Zweigliederung in musikalische Halbstrophen unterlegt, - und auch das ist keine kompositorische Distanzierung von der lyrischen Vorlage oder gar ein Eingriff in deren sprachliche Gestalt. Es ist von Goethe nahegelegt, denn in allen Strophen setzt der fünfte Vers mit einem „und“ ein, das eine Neu-Ausrichtung der lyrischen Perspektive mit sich bringt. Wieder einmal begegnet dem analytischen Blick auf ein Lied Schuberts dessen gleichsam bruchlose Nähe zum lyrischen Text.


    Obgleich sich Schubert in der Anlage des Liedes am Modell des Volksliedes orientiert, so ist diese dennoch nicht in allen ihren Bereichen als einfach zu qualifizieren. Schlicht in seiner Struktur, seiner Funktionalität und seiner Harmonik ist der Klaviersatz. Er unterstützt die Singstimme gemäß ihrer Skandierung des lyrischen Textes und folgt häufig der Bewegung der melodischen Linie. Die Harmonik weist keine Modulationen in weitab liegende Tonarten auf. Wenn solche erfolgen, dann bei der ersten Hälfte der Strophe in den Bereich der Dominante, bei der zweiten eher in den der Subdominante. Auffällig aber – und eben volksliedhaft - , dass die Harmonik nach jeder Modulation die alsbaldige Rückkehr zur Tonika anstrebt.


    Bei der Vokallinie kann man aber nicht ohne weiteres von Einfachheit sprechen. Zwar ist ihre klangliche Anmutung die eines volkstümlichen Bänkelsangs. Schaut man aber eine wenig genauer auf ihre Struktur, so stößt man auf viele Indizien einer durchweg kunstvollen Anlage. Bemerkenswert sind zunächst einmal die vielen Melismen. Insgesamt fünf Mal beschreibt die melodische Linie der Singstimme solche gezierten Bewegungen, mit denen wohl die Kunstfertigkeit des „Sängers“ zum Ausdruck gebracht werden soll, mit der er alles um sich herum zu bezaubern und zu verführen vermag. Und er weiß dies auch: Mit einem gleichsam deklamatorisch selbstbewussten Oktavsprung bei den Worten „Ich bin“ lässt Schubert ihn auftreten. Wie zur Bekräftigung ereignet sich bei dem Worten „wohlbekannte“ noch einmal ein Quartsprung in der melodischen Linie, und im Anschluss daran beschreibt diese ein Melisma, das dieser Selbsteinschätzung des lyrischen Ichs weiteren musikalischen Nachdruck verleiht.


    An vielen Stellen stößt man auf den Niederschlag der Aussage des lyrischen Textes in der Struktur der melodischen Linie. So fällt auf, dass immer dann, wenn der Rattenfänger explizit von sich selbst spricht, silbengetreu deklamiert wird, dann aber, wenn die Rede von dem ist, was er tut, und welche Bedeutung und Folgen dies hat, die melodische Linie auf den einzelnen Silben und Wörtern lebhafte Bewegungen in Gestalt von Achteln beschreibt. Bei „der vielgereiste Rattenfänger“ steigt die Vokallinie in fast bedächtigen Sekundschritten aus hoher Lage über fast eine Oktave herab. Bei den nachfolgenden Versen, bei denen es um die „altberühmte Stadt“ und darum geht, dass sie einen solchen „Sänger“ nötig habe, bewegt sie sich in lebhaftem, mit Melismen geschmücktem Auf und Ab, und bei dem Wort „besonders“ vollzieht sie sogar eine mit einem Quintsprung eingeleitete höchst expressive Bogenbewegung.


    Wenn von den Ratten und Wieseln die Rede ist, reflektiert dies die melodische Linie wiederum mit einer regelrechten Flut von Achteln und Vierteln auf den einzelnen Worten und Silben. Bei dem Wort „Spiele“ macht sie einen von einem hohen „d“ ausgehenden doppelten Terzfall, der am Ende mit einer Fermate versehen ist und in eine Pause mündet. Ein ebenfalls lange gehaltener fünfstimmiger D-Dur-Akkord verleiht dieser so expressiven melodischen Figur den erforderlichen Nachdruck.


    Am Ende, wenn der Rattenfänger – erneut von sich selbst und seiner Tätigkeit sprechend – in die Attitüde der Ankündigung verfällt, weist die melodische Linie der Singstimme wieder markante Sprünge und silbengetreue Deklamation auf. Bei den Worten „von allen säubr´´ ich“ und „sie müssen mit-(-einander)“ macht die Vokallinie einen Quint- und einen Terzsprung über eine ganze Oktave. Dieser Rattenfänger ist sich seiner Sache sicher. Und das drückt sich an dieser Stelle unüberhörbar in der Art aus, wie er sich melodisch artikuliert.

  • Um einen kurzen vergleichenden Blick auf Hugo Wolfs Vertonung von „Der Rattenfänger“ kommt man nicht herum, schon allein deshalb, weil er allenthalben erfolgt, wenn man sich auf das Schubertlied einlässt und auch D. Fischer-Dieskau (in seinem Schubertbuch) in diesem Zusammenhang von einem „frühen Gegenpol“ zu Hugo Wolfs >Rattenfänger<“ .spricht. Er meint, Schuberts „Rattenfänger“ sei im Vergleich zu dem von Wolf „ein regelrecht harmloser Bramarbas“, und an anderer Stelle heißt es bei ihm, Schuberts Version des Gedichts nehme sich gegenüber der von Wolf „geradezu gemütlich“ aus.


    Das ist ja alles richtig, bleibt aber sehr an der Oberfläche. Es wird dabei nämlich allzu leicht übersehen, dass den beiden Liedern eine gänzlich unterschiedliche kompositorische Intention zugrunde liegt, die ihrerseits wieder in der jeweiligen Rezeption von Goethes Gedicht wurzelt. Wo Schubert in dem „Rattenfänger“ letztlich einen Sänger, Musiker und Künstler sieht, der mit seiner Kunst Mensch und Tier, also auch Ratten, in Bann zu schlagen vermag, sieht Wolf in ihm einen gefährlichen Verführer mit satanischem Anflug, dessen „Künste“ durchaus ambivalent sind. Von daher müssen die Kompositionen also schon unterschiedlich ausfallen. Es kommt noch hinzu, dass der Wagner-Bewunderer Wolf sein ganzes kompositorisches und speziell klangmalerisches Instrumentarium in Anschlag bringt, um – durchaus mit Blick auf Schubert - einmal zu zeigen, was man aus diesem dichterischen Werk musikalisch machen kann.


    Schubert kann es sich von seinem kompositorischen Ansatz her leisten, ein Strophenlied zu schaffen. Wolf muss(!) durchkomponieren. Und das tut er auf zweifellos genialische Weise, - wenn man auch hie und da ein wenig Selbstgefälligkeit zu hören meint. Jede Strophe erhält ihren ganz eigenen Ton. Das nur soll an wenigen Beispielen aufgezeigt, also keine detaillierte Besprechung des Liedes vorgelegt werden.


    Dass dem Klavier – im Unterschied zu Schubert – eine große, wenn nicht das Lied beherrschende – Rolle zukommt, ist schon beim Vorspiel zu vernehmen, dessen zentrales Motiv im Lied noch mehrfach auftaucht und im – ungewöhnlich langen – Nachspiel ebenfalls eine motivisch sehr differenziert ausgearbeitete Rolle spielt. Es handelt sich um die vier äußerst rasant nach oben rauschenden Zweiunddreißigstel, die in einen Akkord münden und in der Abfolge dieser Figur auf der Grundlage des Sechsachteltakts einen energisch hüpfenden Rhythmus ergeben. Die Eindringlichkeit der gefährlichen Verlockung, die von dieser Gestalt des Rattenfängers ausgeht, ist hier überaus markant zum Ausdruck gebracht.


    Die kompositorische Genialität Wolfs besteht darin, die jeweilige Wirkung und Auswirkung der verführerischen Künste des Rattenfängers mit klangmalerischen Mitteln einzufangen. Bei den Worten „Sie müssen alle miteinander fort“ erklingen gegenläufig Achtelfolgen in Bass und Diskant, so dass ein regelrechter klanglicher Wirbelwind entsteht, der dann prompt in das Anfangsmotiv des Vorspiels mündet. Wenn er „die goldnen Märchen singt“ nimmt die Vokallinie, die bislang sich in lebhaften Auf und Ab bewegte, mit einem Mal eine fast ariose Phrasierung an. Und in ähnlicher Weise entfaltet sich die melodische Linie auch bei den Worten „Wo er´s nicht mancher angetan“. Und fast schon in persiflierend-höhnischem Ton werden die Worte deklamiert: „Doch allen wird so liebebang“. Hier weist die melodische Linie auffällig lange Dehnungen auf, und bei dem Wort „liebebang“ macht sie einen mit einer harmonischen Rückung verbundenen verminderten Quartsprung, dem tatsächlich so etwas wie Hohn innewohnt. Im Klaviersatz ereignet sich - dazu passend - derweilen ein klanglich dissonanter Wirbel von aufwärts und abwärts laufenden Achteln.


    Diese Beispiele dürften genügen, um die Eigenart der Wolfschen Komposition deutlich werden zu lassen und ihre Unvergleichbarkeit mit dem Lied Schuberts einsichtig zu machen.

  • Arm am Beutel, krank am Herzen,
    Schleppt’ ich meine langen Tage.
    Armut ist die größte Plage,
    Reichtum ist das höchste Gut!
    Und, zu enden meine Schmerzen,
    Ging ich, einen Schatz zu graben.
    Meine Seele sollst du haben!
    Schrieb ich hin mit eignem Blut.


    Und so zog ich Kreis’ um Kreise,
    Stellte wunderbare Flammen,
    Kraut und Knochenwerk zusammen:
    Die Beschwörung war vollbracht.
    Und auf die gelernte Weise
    Grub ich nach dem alten Schatze
    Auf dem angezeigten Platze;
    Schwarz und stürmisch war die Nacht.


    Und ich sah ein Licht von weiten,
    Und es kam gleich einem Sterne
    Hinten aus der fernsten Ferne,
    Eben als es Zwölfe schlug.
    Und da galt kein Vorbereiten:
    Heller ward’s mit einem Male
    Von dem Glanz der vollen Schale,
    Die ein schöner Knabe trug.


    Holde Augen sah ich blinken
    Unter dichtem Blumenkranze;
    In des Trankes Himmelsglanze
    Trat er in den Kreis herein.
    Und er hieß mich freundlich trinken;
    Und ich dacht’: es kann der Knabe
    Mit der schönen lichten Gabe
    Wahrlich nicht der Böse sein.


    Trinke Mut des reinen Lebens!
    Dann verstehst du die Belehrung,
    Kommst, mit ängstlicher Beschwörung,
    Nicht zurück an diesen Ort.
    Grabe hier nicht mehr vergebens:
    Tages Arbeit! Abends Gäste!
    Saure Wochen! Frohe Feste!
    Sei dein künftig Zauberwort.


    Diese Ballade entstand im Mai 1797 und wurde im Jahr darauf in Schillers „Musenalmanach“ veröffentlich. Dieser kommentierte sie so: „Dies ist so musterhaft schön und rund und vollendet, daß ich recht dabei gefühlt habe, wie auch ein kleines Ganze, eine einfache Idee durch die vollkommene Darstellung einem den Genuß des Höchsten geben kann.“


    An diesem Urteil Schillers ansetzend, könnte man fortfahren: Die „einfache Idee“ dieser Ballade ist das Motiv des Teufelspakts, den einer eingehen will, um in den Besitz irdischer Schätze zu geraten. Schön nach der Maxime: „Reichtum ist das höchste Gut“. Dem gibt Goethe aber nicht nur eine höchst reizvolle, weil überraschende Wendung. Sie ist auch mit einer Art „Moral“ verknüpft, die das gleichsam materialistische Denken des Protagonisten dieser Ballade hinterfragt und konterkariert.


    Der überraschend auftretende „Knabe mit der lichten Gabe“ der ein wenig an Ganymed erinnert, verkündet am Ende der Ballade eine parolenhaft vorgebrachte Botschaft, die den wahren „Schatz“, den das Leben zu geben hat, in der Arbeit des Alltags und den „sauren Wochen“ sieht, aus denen es besteht. Denn sie beinhalten auch die Möglichkeit der Erfahrung von Festlichkeit, mit Gastlichkeit gekrönt und überhöht. Dem Goethe-Kenner klingt hier ganz von ferne die dichterische Botschaft des „Faust“ auf. Und er hört: „am farbigen Abglanz haben wird das Leben“.


    Übrigens: Diese Ballade gibt sich volksliedhaft, ist aber recht kunstvoll gebaut. Die vierhebigen Trochäen sind in den Strophen reimmäßig höchst kunstvoll verschränkt: der erste Vers reimt sich auf den fünften, der vierte auf den achten. Dazwischen erlaubt sich der Dichter eine Freiheit vom Reim, die wohl sprachlicher Reflex des Fantastischen ist, das sich in dieser Ballade ereignet.

  • Auch dieses Lied weist in seiner Faktur durchgehend den für Schubert typischen engen Textbezug auf. Man muss gar nicht in die Noten schauen, um ihn zu erkennen, man vernimmt ihn hörend ganz unmittelbar. Da spricht lyrisch-musikalisch ein „Schatzgräber“, - ein Mensch des tätig zupackenden Grabens nach den Schätzen dieser Erde. Aber zugleich einer, der „arm am Beutel“ und „krank am Herzen“ ist, weil er die Erfahrung der Vergeblichkeit seines Tuns mit sich herumschleppt.


    Und wie hört man das? An der unablässigen Wiederkehr der gleichen melodischen Grundfigur. Es ist eine Fallbewegung der melodischen Linie, die energisch einsetzt, dann aber wie zu erschlaffen scheint, weil es in kleinen Schritten abwärts geht und dort in einem müden Hin und Her endet. Es ist immer eine punktierte Viertelnote, mit der die melodische Linie der Singstimme in all diesen Fällen einsetzt. Man kann es gleich am Anfang des Liedes vernehmen. Auf den Worten „arm“ und „krank“ liegt ein punktiertes „b“, und danach bewegt sich die Vokallinie nach unten. Da nun das Wort „schleppt“ im folgenden den lyrischen Akzent setzt, macht die melodische Linie keine Fallbewegungen mehr, sondern schleppt sich auf einer tonalen Ebene so dahin, bis es um die weltanschaulich gewichtige Aussage „Reichtum ist das höchste Gut“ geht.


    Hier nun kommt lebendige Bewegung in sie, denn es geht ja um die zentrale Einsicht dieses „Schatzgräbers“. In einer großen, fast eine Oktave umfassenden Abwärtsbewegung in Gestalt von Achteln geht es hinunter bis zum Grundton in tiefer Lage, der dann lange gehalten wird. Bemerkenswert dabei: Auch das Wort „höchste“ wird mit einem deutlichen melodischen Akzent versehen, - in Gestalt einer Dehnung (halbe Note) mit nachfolgendem Sekundfall von drei Achteln.


    Während bei den ersten vier Versen der Klaviersatz aus im Anschluss an Oktaven im Bass triolisch aufsteigenden Achteln besteht, tritt mit der zweiten Versgruppe eine Änderung ein. Jetzt begleitet das Klavier ausschließlich akkordisch eine melodische Linie, die – zumindest bei den ersten beiden Versen – den energischen Ton abgelegt hat und eher erzählerisch wirkt: „Und, zu enden meine Schmerzen…“. Aber schon bei den Worten „Meine Seele sollst du haben“ vernimmt man wieder die mit einem punktierten Viertel einsetzende Fallbewegung. Und als wolle dieser Schatzgräber die darin zum Ausdruck kommende Entschlossenheit noch steigern, setzt bei der Wiederholung des letzten Verses die Vokallinie noch höher an und beschreibt eine mit einem Melisma versehene Fallbewegung über eine ganze Oktave.


    Schubert hat aus dieser Ballade ein variiertes Strophenlied gemacht. Die beiden ersten Strophen sind in ihrer Faktur identisch und stehen in d-Moll. Die dritte bis fünfte weisen ebenfalls die gleiche Faktur auf, stehen aber in D-Dur. Ihr erzählerischer Gehalt, eingeleitet mit den Worten „Und ich sah ein Licht von weiten“, legte diese Wandlung des Tongeschlechts nahe. Melodische Linie der Singstimme und Klaviersatz sind- bis auf leichte Modifikationen insbesondere bei den Versen fünf und sechs – in ihrer Grundstruktur denen im ersten Teil des Liedes sehr ähnlich.


    Das Lied endet mit einer Abfolge von akkordischen Trillern im Nachspiel, die wohl als Hinweis auf die Untergründigkeit des balladesken Geschehens zu verstehen sind.

  • Dieses Lied entstand an einem Tag, an dem Schubert eine Art Orgie in Goethe-Liedkompositionen feierte: Es war der 19. August 1815. An diesem Tag wurde nicht nur dieses Lied komponiert, sondern – eigentlich schwer begreiflich – auch noch: „Der Rattenfänger“, „Der Gott und die Bajadere“, „Heidenröslein“, „Bundeslied“ und „An den Mond“ (erste Fassung). „Der Rattenfänger“ ist hier bereits vorgestellt, „Heidenröslein“ wird als nächstes Lied folgen, und auch auf „An den Mond“ wird einzugehen sein.


    Angesichts dieses Sachverhalts, der Komposition von sechs Liedern auf Gedichte von Goethe an einem Tag, ist man geneigt, in die Legende vom genialisch-spontanen, die Lieder sozusagen aus dem Ärmel schüttelnden Komponisten Schubert einzustimmen. Das aber wäre ein Fehler. Gewiss, es mag eine Art von Rausch gewesen sein, den die Begegnung mit Goethes Lyrik bei Schubert ausgelöst hat, und Genialität ist dabei ganz ohne Frage auch im Spiel. Aber in diesen Liedern steckt, wie schon bei der Besprechung von „Der Rattenfänger“ deutlich geworden sein dürfte, viel zu viel unmittelbar am lyrischen Text ansetzendes und sich mit auseinandersetzendes kompositorisches Handwerk, als dass an diesem legendären Bild etwas dran sein könnte.

  • Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
    Röslein auf der Heiden,
    War so jung und morgenschön,
    Lief er schnell, es nah zu sehn,
    Sah’s mit vielen Freuden.
    Röslein, Röslein, Röslein rot,
    Röslein auf der Heiden.


    Knabe sprach: Ich breche dich,
    Röslein auf der Heiden!
    Röslein sprach: Ich steche dich,
    Daß du ewig denkst an mich,
    Und ich will’s nicht leiden.
    Röslein, Röslein, Röslein rot,
    Röslein auf der Heiden.


    Und der wilde Knabe brach
    ’s Röslein auf der Heiden;
    Röslein wehrte sich und stach,
    Half ihm doch kein Weh und Ach,
    Mußt’ es eben leiden.
    Röslein, Röslein, Röslein rot,
    Röslein auf der Heiden.


    Das Gedicht entstand – vermutlich - während Goethes Aufenthalt im Elsass, als er sich mit dort heimischen Volksballaden beschäftigte und ein Heft mit zwölf derselben an Herder schickte, der ganz versessen darauf war, „Stimmen der Völker in Liedern“ zu sammeln, weil er darin die Keimzelle jeglicher Poesie sah. Man vermutet, dass Goethe von dieser Beschäftigung mit dem Volkslied des Elsass zu diesem Gedicht „Heideröslein“ inspiriert wurde, belegen lässt sich das aber nicht. Es wurde jedenfalls 1789 in seine „Schriften“ aufgenommen, also von ihm für gut befunden, - und das ohne jeden Zweifel zu Recht.


    Denn es ist ein genialer lyrischer Wurf: Ein kleines Werkchen, das volksliedhaft schlicht und einfach anmutet, und es gleichwohl dichterisch faustdick hinter den Ohren hat. Wobei das wirklich Wunderliche ist, dass das Gedicht – zusammen mit Schuberts Vertonung, die ebenfalls nicht so einfach volksliedhaft ist – tatsächlich zu einem Volkslied werden konnte.
    Wie das?


    Peter von Matt hat diese Verse in einer Besprechung ein „zweifelhaftes und zwielichtiges Gedicht“ genannt. Und er hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. In seinem Zentrum steht nicht Liebe, sondern Gewalt. Da wird ein „Röslein“ gebrochen, und die Assoziation einer gleichsam gewaltsamen Defloration ist von Goethe ohne jede Frage gewollt. Wobei der im Grunde ungeheuerliche dichterische Zynismus in den vielen Diminutiva besteht, die über diese Gewalttat, die sich hier ereignet, sprachlich gestreut werden. Die permanente Wiederkehr des Refrains ist von daher im Grunde unerträglich.


    Man muss sich den Vers „Mußt es eben leiden“, der gleichsam die Quintessenz der „kleinen Geschichte“ darstellt, einmal auf der Zunge zergehen lassen. Er ist von einer schlicht erschreckenden Lapidarität. In der kleinen sprachlichen Partikel „eben“ verdichtet diese sich gleichsam. Und sie suggeriert: So ist dies eben auf der Welt. Schicksal!


    Aber ist es das wirklich? Im Grunde drängt einem dieses kleine Gedicht diese große Frage eigentlich auf. Warum aber merkt das keiner? Warum singt man es als volksliedhaftes Liebesgedicht?

  • Ein hochartifizielles lyrisches Werk, das in vollendeter Weise den Volksliedton trifft, wird von einem Komponisten in gleich artifizieller Weise in Musik gesetzt und wird zum Volkslied. So könnte man das auf den Punkt bringen, was sich an besagtem 19. August ereignet hat, - und später folgte. Denn kunstvoll ist der Bau dieses Liedes, - nur eben so, dass man´s nicht beim unreflektierten Hören bemerkt. Erst der analytische Blick erschließt die artifiziellen Elemente in der scheinbar einfachen Faktur.


    Völlig uneingeschränkt gilt die Feststellung der Einfachheit für den Klaviersatz. Von einem dialogischen Verhältnis zur Singstimme kann nicht die Rede sein. In dem durchgehaltenen Wechsel zwischen Achtelanschlag im Bass und Achtelakkord im Diskant beschränkt sich das Klavier auf eine die melodische Linie rein stützend begleitende Funktion. Lediglich im dreitaktigen Nachspiel darf es eine eigene melodische Figur artikulieren. Aber es ist gar keine eigene: Es ist die mit Verzierungen versehene letzte Bewegung der Vokallinie.


    Mit dieser sieht es bei diesem Lied aber anders aus, - was den Aspekt Einfachheit betrifft. Gewiss, sie ist in einer schwer erklärlichen Weise eingängig. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass sich die Vokallinie in den einzelnen Melodiezeilen mit zumeist einfachen Schritten in einem relativ engen tonalen Raum bewegt, - zunächst gleichsam um die Terz, dann um die Quinte kreist, und dass der Faktor der Wiederholung melodischer Figuren eine große Rolle spielt. So ähnelt die dritte Melodiezeile stark der ersten, allerdings mit einer Variation im zweiten Teil. Und die erste Zeile des Refrains greift in ihrer melodischen Struktur auf die zweite Melodiezeile zurück. Hinzu kommt noch, dass sich die Harmonisierung der Vokallinie im wesentlichen auf Tonika, Dominante und Subdominante beschränkt. Das alles sind typisch volksliedhafte Eigenschaften der Faktur, die die faszinierende Eingängigkeit dieses Liedes zwar nicht wirklich erklären können, aber doch gleichsam konstitutive Faktoren dafür darstellen.


    Die gar nicht volksliedhaften Elemente des Liedes, die artifiziellen also, fallen erst beim analytischen Blick auf seine Anlage ins Auge. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass Schubert die – vom Volkslied her naheliegende – Erwartung, dass auf das Melodiezeilen-Paar, das die beiden ersten Verse umfasst, ein zweites aus den Versen drei und vier folgen würde, nicht erfüllt. Der vierte Vers endet mit einem hohen „d“ bei dem Wort „sehn“ auf einem harmonischen Trugschluss und öffnet damit die Melodik zu einer Weiterführung mit demselben tonalen Ansatz in der fünften Melodiezeile. Das ist insofern eine wichtige Eigenart der Faktur dieses Liedes, als die melodische Linie an dieser Stelle gleichsam offen bleibt für das entscheidende narrative Geschehen, das sich in den drei Versen vor dem Refrain ereignet.


    Und da ist noch dieses leiterfremde „cis“, das sich in die melodische Linie der Singstimme hineindrängt, - und das gleich vier Mal. Auch das konterkariert den Volksliedcharakter, den dieses Lied gleichwohl beharrlich für sich reklamieren will. In der dritten, vierten und fünften Melodiezeile vernimmt man es bei den Worten „morgenschön“, „nah“ (gesehn) und „vielen“ (Freuden). Ganz offensichtlich versieht es die Aussage des lyrischen Textes an diesen Stellen mit einem besonderen musikalischen Akzent. Sowohl die Verlockung, die von dem „Röslein“ ausgeht, als auch die Folgen, die das für es hat, erhalten auf diese Weise eine in die semantische Tiefenschicht vordringende Dimension. Hat Schubert die Zwielichtigkeit dieses Gedichts erfasst?


    Und dann ist da noch der Refrain. Auch er transzendiert in seiner artifiziellen Struktur das Volkslied. Erst steigt die melodische Linie der Singstimme in Sekundschritten an und gipfelt auf dem mit einer Fermate versehenen höchsten Ton des Liedes auf. Und danach geht es nicht etwa in einer kontinuierlichen Fallbewegung abwärts. Vielmehr sind es aufwärts gerichtete Terzschritte und ein nachfolgender melodischer Bogen aus Achteln und Sechzehnteln, die die Vokallinie in Anspruch nimmt, bevor sie endlich auf dem Grundton zur Ruhe kommt.


    Kann man das anders verstehen, als dass jenes Ungeheuerliche, von dem der lyrische Text berichtet, nicht einfach so verklingen soll und darf? O ja! Das ist kein so ganz harmloses, hübsches Liedlein, das Schubert da komponiert hat.

  • Aber ist es das wirklich? Im Grunde drängt einem dieses kleine Gedicht diese große Frage eigentlich auf. Warum aber merkt das keiner? Warum singt man es als volksliedhaftes Liebesgedicht?


    Lieber Helmut,


    "Keiner"? - Manche schon, aber wie Viele? Im Übrigen sehe ich es als eine vom "Volk" damals gerne angenommene Bestätigung eines Zustandes, welcher durch eine von Männern dominierte Welt entstand. Ich meine, Schubert hat diesen "Zwiespalt" sehr gut vertont, was besonders deutlich zu hören ist in dem fröhlichen "Abgesang" - Röslein auf der Heiden (Heiden mit Verzierung - Punktum!), was sehr im Kontrast steht zum vorletzten Vers je Strophe (wie bang der doch klingt).


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Es gibt noch ein Volkslied - auf derselben Ebene - mit "Zwiespalt".

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ja, Du hast natürlich recht, lieber zweiterbass. Ich habe bei meiner Frage "Warum merkt das keiner?" bewusst ein wenig rhetorisch zugespitzt. Aber die große Popularität dieses Schubertliedes - ich verweise in diesem Zusammenhang auf den folgenden Beitrag - scheint mir doch ein Indiz dafür zu sein, dass man es gemeinhin recht vordergründig rezipiert hat. Von seiner Faktur her verführt es ja auch ein wenig dazu!
    Man muss schon genau hinhören, damit man den Kontrast bemerkt, auf den Du verwiesen hast.

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  • Dieses Lied erschien am 22. Mai 1821 bei „Cappi und Diabelli“ im Druck. Bei D. Fischer-Dieskau lese ich, dass es noch im gleichen Jahr von einer Spieluhr ertönte, die im Hotel „Zur ungarischen Krone“ hing, und Dass „die Noten wie Bestseller aus den Regalen verschwanden. Schubert profitierte davon allerdings in gar keiner Weise, - wie so oft. Der Erfolg, den er mit dem „Heidenröslein“ hatte, übertraf bei weitem den mit dem „Erlkönig“, der sich bei Diabelli ebenfalls gut verkaufte.


    Was mich noch einmal zur Frage zurückbringt, auf die ich mich bei der Besprechung des Liedes ja schon eingelassen hatte. Warum kam es so gut an, dass es sogar zum Volkslied werden konnte? Goethes Gedicht wurde ja auch von anderen vertont, von Reichardt etwa oder von Johann Wenzel Tomaschek. Gerade wenn man sich dessen Lied anhört – es findet sich übrigens auf der CD mit Ildiko Raimondi und Leopold Hager, die im zugehörigen Thread von paladino music im Cover abgebildet ist – kommt man der Frage wohl ein wenig näher.


    Ich habe aus diesem Grund eine Besprechung von Tomascheks Vertonung in den zugehörigen Thread „Goethe-Lieder von Tomaschek“ gestellt.
    Hört man dieses Lied von Tomaschek auf dem Hintergrund von Schuberts Vertonung des Gedichts, so wird einem die Schlichtheit der Schubertschen Melodik erst so recht bewusst. Sie weist – wie aufgezeigt – zwar viele Elemente von kompositorischer Kunstfertigkeit auf, diese treten aber klanglich nicht in auffälliger Weise in Erscheinung, sondern sind in den einfachen Verlauf der melodischen Linie, die in Volksliedmanier strikt periodisch angelegt ist, voll integriert.


    Einfachheit, - das heißt hier also: Periodizität, Kreisen der melodischen Linie um Terz und Quinte und Bewegung im Raum von Tonika, Dominante und Subdominante, und es heißt vor allem das wie naturhaft gewachsene Ineinandergreifen von einander ähnlichen Melodiezeilen, die sich – nach einem Zwischenhalt auf der Terz – am Ende über die Subdominante hin zum Grundton bewegen. Der melodischen Linie ist bei Schubert eine gewisse Naturwüchsigkeit eigen, - aber eine, die alles andere als derb oder ungehobelt, vielmehr regelrecht zerbrechlich wirkt. Das macht die Faszination aus, die von ihr ausgeht. Und das machte sie auch zum Volkslied.

  • Füllest wieder Busch und Tal
    Still mit Nebelglanz,
    Lösest endlich auch einmal
    Meine Seele ganz;


    Breitest über mein Gefild
    Lindernd deinen Blick,
    Wie des Freundes Auge mild
    Über mein Geschick.


    Jeden Nachklang fühlt mein Herz
    Froh und trüber Zeit,
    Wandle zwischen Freud und Schmerz
    In der Einsamkeit.


    Fließe, fließe, lieber Fluß!
    Nimmer werd ich froh,
    So verrauschte Scherz und Kuß,
    Und die Treue so.


    Ich besaß es doch einmal,
    Was so köstlich ist!
    Daß man doch zu seiner Qual
    Nimmer es vergißt!


    Rausche, Fluß, das Tal entlang,
    Ohne Rast und Ruh,
    Rausche, flüstre meinem Sang
    Melodien zu,


    Wenn du in der Winternacht
    Wütend überschwillst,
    Oder um die Frühlingspracht
    Junger Knospen quillst.


    Selig, wer sich vor der Welt
    Ohne Haß verschließt,
    Einen Freund am Busen hält
    Und mit dem genießt


    Was, von Menschen nicht gewußt
    Oder nicht bedacht,
    Durch das Labyrinth der Brust
    Wandelt in der Nacht.



    Von diesem Gedicht existieren zwei Fassungen. Die eine, die vermutlich 1777 entstand, weist nur sechs Strophen auf, und diese weichen im Text z.T. auch von der Zweitfassung ab. Diese erschien 1789, und Schubert nahm sie zur Vorlage für sein Lied. Das lyrische Ich, das hier die Begegnung mit dem “Mondlicht“ macht, das als solches gar nicht bezeichnet wird, enthüllt sein inneres Wesen erst langsam, - im Verlauf dieser Verse, die sich in Gestalt von vierfüßigen Trochäen gleichförmig dahinbewegen. Das Bild vom dahinrauschenden Fluss scheint sich ihnen eingeprägt zu haben. Denn auch die Vielfalt der Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs, in denen sich Gegenwart und Vergangenheit in kaum entwirrbarem Ineinander durchdringen, rauscht hier lyrisch vorbei und findet erst am Ende einen Ruhepunkt: In Versen, die in ihrem einer Lebensmaxime nahen sprachlichen Gestus für ein lyrisches Gedicht durchaus ungewöhnlich sind. Seltsamerweise stören sie nicht. Und das verweist auf einen großen Lyriker, wie es Goethe nun einmal war und ist.


    Das Mondlicht wird vom lyrischen Ich als „lindernd“ erfahren, - so wie das auch der Blick eines Freundes sein kann, der sich der Zerrissenheit der Seele zuwendet. Wenn es Busch und Tal mit Nebelglanz füllt, so fühlt sich das Ich einbezogen und empfindet dies als „Lösung“ von all den seelischen Spannungen, die es vom Tag her mitbrachte. Sein innerstes Wesen spricht sich in dem Wort „Einsamkeit“ aus: Ihr Quell ist das Wissen um und das Leiden an der Vergänglichkeit von „Freud und Schmerz“, - von all dem, was in seinem Kern Leben ausmacht. „Scherz und Kuß“ werden ebenfalls in diesen Zusammenhang gestellt.


    Der Fluss wird zum metaphorischen Inbegriff von Zeitlichkeit und der Vergänglichkeit dessen, was den Reichtum des Lebens ausmacht, dessen also, „was so köstlich ist“. Es fällt dem Vergessen anheim, und das kann zur Qual werden. Das lyrische Ich sieht im Fluss das Wesen naturhaften Lebens und Seins verkörpert. Es bekennt sich dazu, - im Wissen darum, dass die eigene Existenz dem zugehörig ist. Die Aufforderung, der Fluss möge doch „ohne Rast und Ruh“ das Tal entlang rauschen, entspringt diesem Wissen. Und auch Empfindung dieses Rauschens als wohltuende „Melodie“.


    Was bleibt in dieser existenziellem Erfahrung von Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit, das artikulieren die beiden letzten Strophen: Es ist die seelische Wärme der Freundschaft, erfahren in der Situation einer Zurückgezogenheit aus der lauten und bewegten Welt. Die unmittelbare Erfahrung der Wirkung des Mondlichts lässt dieses zur Erkenntnis werden. Nur hier kann all das, was in den seelischen Tiefenregionen des Menschen sich regt und kaum ins Bewusstsein vordringt, gelebt und erfahren werden.

  • Wie von dem Gedicht, gibt es auch von diesem Lied zwei Fassungen, denen allerdings der gleiche lyrische Text zugrunde liegt. Die, die zunächst hier zu besprechen ist, entstand am 19. August 1815. Die zweite, davon deutlich abweichende, datierte O. E. Deutsch ebenfalls auf das Jahr 1815, sie wurde aber wohl erst nach Februar 1820 komponiert. Die vergleichende Betrachtung dieser beiden Lieder auf dasselbe Gedicht ist überaus aufschlussreich hinsichtlich der für Schubert so bezeichnenden Art und Weise des kompositorischen Umgangs mit dem lyrischen Text. Die erste Fassung konnte ihm nach eben diesen Maßstäben nicht genügen. Sie wird der Fülle der dichterischen Aussagen und der mit ihnen einhergehenden lyrischen Bilder nicht gerecht.


    Das Lied steht in Es-Dur und ist mit der Vortragsanweisung „ziemlich langsam“ versehen. Es handelt sich um ein Strophenlied, bei dem zwei Strophen des Gedichts zu einer musikalischen Einheit zusammengefasst sind. Das bedeutet: Von den neun Strophen muss eine ausscheiden. Schubert hat keine Angaben dazu gemacht, welche das sein soll, da das Manuskript nur die beiden ersten Strophen enthält. Man geht allgemein davon aus, dass des die fünfte Strophe sein sollte.


    Die melodische Linie der Singstimme setzt ohne Vorspiel ein und bewegt sich zunächst in ruhigen Schritten auf mittlerer tonaler Ebene. Sie setzt sich aus kleinen, die einzelnen Verse jeweils umfassenden Zeilen zusammen, die am Ende jeweils in eine Dehnung, oft gefolgt von einer Pause, münden. Lyrisch relevante Worte werden melodisch hervorgehoben. So liegt zum Beispiel auf dem Wort „Nebelglanz“ eine Bogenbewegung aus Achteln, bei „auch einmal“ macht die Vokallinie bei der Silbe „-mal“ einen markanten Sextsprung mit Dehnung, und bei den Worten „Seele ganz“ kommt eine noch längere melodische Dehnung in die Vokallinie dadurch, dass sie zunächst auf einem „c“ in mittlerer Lage lange innehält, um danach noch einen Sekundfall zu machen. Das Klavier begleitet die ganze (dichterische) erste Strophe über mit einem Wechsel aus Anschlag im Bass und Akkord im Diskant.


    Das ändert sich mit der zweiten Strophe. Nun ist der Klaviersatz klanglich von dem lebhaften Auf und Ab von Achteln geprägt. Auch die Struktur der melodischen Linie der Singstimme hat sich gewandelt. Sie bewegt sich nun lebhafter in höherer Lage und weist viele Melismen auf, - so bei den Worten „mein Gefild“ und „Blick“ (hier in Gestalt eines melodischen Bogens). Auch die Worte „Wie des Freundes Auge mild“ werden auf einer doppelten melodischen Bogenbewegung deklamiert.


    Beim letzten Vers („Über mein Geschick“), vor dem eine über ein vorübergehendes f-Moll (bei dem Wort „mild“) erfolgende Modulation zur Grundtonart stattfindet, macht die Vokallinie einen Septsprung zu einem hohen „es“ und steigt von dort in einer Art Wechselschritt, in den im letzten Moment noch eine Dehnung eingelagert ist, über eine ganze Oktave zum Grundton in tiefer Lage herab.


    Das viertaktige Nachspiel greift melodische Figuren aus der Vokallinie des zweiten und des dritten Verses auf und endet nach einer Fallbewegung von Terzen in einem Es-Dur-Akkord.


    Beurteilt man die melodische Linie der Singstimme darin, inwieweit sie in dieser Vertonung von Goethes Gedicht der lyrischen Sprache und den sie konkretisierenden lyrischen Bildern gerecht wird, so darf man wohl mit guten Gründen feststellen, dass dies nicht in voll adäquater Weise der Fall ist. Schon für das erste Bild, jenes vom Nebelglanz, der Busch und Tal füllt, wirken die melodischen Schritte - dieses dreifache Wiederholen desselben Tons in Gestalt von Viertelnoten, denen eine Fallbewegung von Achteln folgt - einfach zu gewichtig, ja schwer. Selbst in den mit Melismen versehenen Phasen geht ihr in der Art ihrer Phrasierung jegliches Fließen und Strömen, wie der Geist der lyrischen Bilder das eigentlich fordert, ab.

  • Lieber Helmut,


    ich habe eine Aufnahme von D259 mit Fischer-Dieskau und er hat nach C-Dur transponiert.


    Unabhängig davon zähle ich D259 zu den Schubertliedern, die mich nicht so begeistern - für mich ist das ziemlich am Text vorbei komponiert - unter diese Komposition könnte ein inhaltlich völlig anderer Text auch passen. Das hat Schubert ja auch bemerkt und mit D296 eine sehr stimmige Vertonung geschaffen. Ich bin gespannt, was Du zu D296 hier einstellst.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Wenn Du konstatierst, lieber zweiterbass,: "Für mich ist das ziemlich am Text vorbei komponiert", so dürfte aus meiner Besprechung dieses Liedes deutlich geworden sein, dass wir darin völlig übereinstimmen. Schubert hat dies - natürlich! - genauso gesehen. Bei seiner hochentwickelten Sensibilität für lyrische Sprache und ihre Metaphorik ist das nicht weiter verwunderlich. Die zweite Fassung dieses Liedes, die wohl nicht, wie man bislang annahm, im gleichen Jahr entstand, sondern knapp fünf Jahre später, wird dem Gedicht Goethes musikalisch nicht nur viel besser gerecht, sie ist auch als Lied melodisch und harmonisch viel schöner und eingängiger.


    Du sagst, Du seist "gespannt", was ich "zu D 296 hier einstelle". Nun, - die Besprechung ist fix und fertig, und ich könnte sie mit einem Klick in diesem Augenblick hier "einstellen". Aber ich möchte bis morgen damit warten. Ich muss mich in meiner Betätigung für dieses Forum allmählich ein wenig mäßigen, damit mir nicht die Puste ausgeht. Weit weg bin ich inzwischen nämlich nicht mehr davon.

  • So sei Dir nächtens nur empfohlen,
    das Galoppieren überlass' den Fohlen.


    :angel: zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die Gründe, warum man diese Fassung nicht, wie O. E. Deutsch und (in seinem Gefolge) D. Fischer-Dieskau es taten, in das gleiche Jahr wie die Erstfassung datiert, sondern das Jahr 1820 annimmt, sind sachlicher Art: Schuberts Schriftzüge und das von ihm benutzte Notenpapier. Er hätte im übrigen doch wohl auch diese Zweitfassung in sein zweites Heft mit Goetheliedern aufgenommen, das er im Sommer 1816 zusammenstellte. Sie ist einfach das bessere Lied, weil sie dem lyrischen Text musikalisch weitaus besser gerecht wird.


    Dieses Lied steht in As-Dur. Aber mehr als diese Änderung der Tonart setzt die Wahl des Taktes den für die Struktur der melodischen Linie maßgeblichen Akzent: Der Dreivierteltakt bringt in die Phrasierung und die deklamatorische Struktur der Vokallinie jenen schwebenden und fließenden Ton, den die erste Fassung mit ihrem dem lyrischen Text unangemessenen Schreitrhythmus vermissen ließ. Schon die synkopische Rhythmisierung des Beginns der melodischen Linie der Singstimme macht den gänzlich andersartigen Charakter dieses Liedes unmittelbar sinnfällig.


    Der formal entscheidende, weil grundlegende Schritt, den Schubert bei der Neufassung vollzog, war aber die Abkehr vom Konzept des strikten Strophenliedes. An seine Stelle hat er die Form des variierten Strophenliedes gesetzt, - was ihm weitaus mehr Möglichkeiten bot, der Fülle und inhaltlichen Vielfalt der lyrischen Bilder und damit der dichterischen Aussage gerecht zu werden. Den ersten vier Strophen liegt in Zweier-Paarung ein Strophenlied-Konzept zugrunde, - wie auch in der Erstfassung. Die Strophen fünf bis sieben bilden einen musikalisch eigenständigen Teil, in dessen Anfang freilich melodische Elemente des ersten Teils Eingang gefunden haben. Bei den Strophen acht und neun kehrt die melodische Linie des ersten Teils in ihrer Grundstruktur zunächst wieder, sie wird aber dann musikalisch höchst relevanten Variationen unterzogen. Wenn man also dem Lied das Bau-Schema A-B-A unterlegt, so ist das zwar nicht falsch, aber nicht hinreichend differenziert.


    Ein wesentlicher Unterschied zur Erstfassung ist auch, dass Schubert sich nun für ein (sechstaktiges) Vorspiel entschieden hat. Mit seinen punktierten Quarten, Quinten und Sexten, seinen Dissonanzen und der fallenden melodischen Grundlinie setzt es den für das Lied wegweisenden rhythmischen und klanglichen Akzent. Das tut es auch deshalb, weil es zweimal in Gestalt eines Zwischenspiels wieder auftaucht: Vor der zweiten und vor der sechsten Strophe.


    Fundamental anders – gegenüber der zeilenbezogenen Kleinschrittigkeit der ersten Fassung - ist hier die Phrasierung der melodischen Linie vorgenommen, die jeweils zwei Verse übergreift, und zwar so, dass eine Melodiezeile in tonalem Anschluss und ohne Pause in die nächste übergeht, so dass die ganze Strophe eine melodische Einheit bildet. Und da ist noch dieses durch punktierte Noten bewirkte rhythmisierte Fallen und wieder Steigen der Vokallinie, das wie eine großatmige melodische Wellenbewegung wirkt und das lyrische Bild auf eine höchst eindrucksvolle Weise musikalisch sinnfällig werden lässt. Hier hat Schubert liedkompositorisch sich selbst gefunden.


    Großartig auch, wie in der zweiten Strophe die melodische Linie der Singstimme die Aussage des lyrischen Textes reflektiert. Der „lindernde Blick“ und das „milde Auge des Freundes“ sind hier die lyrisch prägenden Bilder. Schubert greift dies mit einer melodischen Linie auf, die nun nicht mehr weiträumig phrasiert ist, sondern sich in kleinen Schritten behutsam auf einer tonalen Ebene bewegt und immer wieder kleine Fallbewegungen macht. Auch sie wirken behutsam, weil sie sich, stets erneut in hoher Lage ansetzend, in Sekundschritten vollziehen und am Ende, bei den Worten „mein Geschick“ über einen melodischen Bogen auf dem Grundton landen. Er trägt eine melodische Dehnung, der eine Pause und ein kleines Nachspiel folgen. Der erste Teil des Liedes ist in sich abgerundet.


    Der Mittelteil setzt bei den Worten „Ich besaß es doch einmal“ mit der gleichen melodischen Linie ein, die man vom Liedanfang her kennt. Der Klaviersatz ist freilich nun ein anderer. In der fünften Strophe folgt er in akkordischer Form der Bewegung der melodischen Linie und verstärkt diese damit in der ihr eigenen musikalischen Expressivität. Das gilt auch noch für die ersten beiden Verse der sechsten Strophe, wobei hier allerdings zunächst eine Rückung nach as-Moll stattfindet, bevor bei den Worten „ohne Rast und Ruh“ die Harmonisierung der melodischen Linie wieder zu As-Dur zurückkehrt. Diese weicht hier nun aber in ihrer Struktur deutlich vom ersten Teil ab: Sechs Mal macht sie einen Sekundfall in hoher Lage, bevor sie bei dem Wort „Ruh“ in Gestalt einer Dehnung innehält. Bei den restlichen Versen dieser Strophe bewegt sie sich dann in Sekundschritten aufwärts, um bei dem Wort „Melodien“ auf einem hohen „es“ wiederum in Gestalt einer Dehnung aufzugipfeln. Dass Klavier begleitet nun mit einem Auf und Ab von Sechzehnteln im Diskant und lang gehaltenen Akkorden im Bass.


    Zu Beginn der siebten Strophe kommt Lebhaftigkeit in die melodische Linie. Im Wechsel von Achteln und Sechzehnteln werden die Worte „Wenn du in der Winternacht…“ deklamiert. In den Klaviersatz tritt Chroma und in die Dynamik ein Crescendo. Das lyrische Wort „wütend“ prägt hier den klanglichen Charakter des Liedes sehr deutlich. Wunderbar davon abgesetzt dann das Bild von der „Frühlingspracht junger Knospen“. Hier nimmt die melodische Linie einen lieblichen Ton an, und die Dynamik kehrt wieder ins Piano zurück.


    Im letzten Teil des Liedes (Strophe 8/9) kehrt die Vokallinie des ersten Teils wieder. Nun aber folgt das Klavier ihren Bewegungen mit Oktaven im Diskant und Akkorden im Bass und bewirkt damit eine weitere Steigerung ihrer Eindringlichkeit. Noch einmal klingt in diesem Lied jene zweimal zu einem hohen „f“ emporsteigende und klanglich ganz von dem lyrischen Wort „selig“ geprägte Melodik auf. Dann aber geschieht Erstaunliches: Die Singstimme deklamiert die letzte Strophe („Was von Menschen nicht gewußt…“) auf nur einer tonalen Ebene in tiefer Lage und überschreitet bei ihren wenigen Bewegungen nah oben den Raum einer Quinte nicht. Eigentlich will sie noch weiter abwärts. Und das tut sie auch, - bis herab zu einem abgrundtiefen „as“ bei dem Wort „Nacht“. Über ihr aber lässt das Klavier nun jene melodischen Motive erklingen, die bislang Sache der Singstimme waren.


    Das ist klanglich faszinierend. Die Musik reflektiert hier wieder in beeindruckender Weise die Aussage des lyrischen Textes. Das, was das lyrische Ich einmal an „Köstlichem“ besaß, ist nun Nachklang geworden. Es bleibt – gemeinsam mit dem „Freund“ – das stille „Genießen“ dessen, was „durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht“.

  • Danke für die Beiträge auf hohem lyrischen Niveau. Danke auch für die eminente Arbeit, die hinter so durchdacht, tiefgründigen Beiträgen steht. :jubel:
    Ich lese immer mit Freude und Gewinn mit, auch wenn ich hier in der "Eliteliga" kaum formuliere. Bitte macht so weiter und beschenkt uns auch in Zukunft mit solchen Preziosen.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Hab mich gefreut über Deine Worte, lieber operus, - wenn ich mich hier auch in gar keiner Weise als Angehöriger einer "Eliteliga" fühle und betrachte. Aber das war ja doch wohl auch eher scherzhaft gemeint. Und so nehme ich es auch!

  • Goethes Gedicht „An den Mond“ wurde auch von C. F. Zelter und von Hans Pfitzner vertont. Das Lied von Pfitzner ist im Thread „Hans Pfitzner und seine Lieder“ in detaillierter Weise in seiner Faktur vorgestellt und besprochen (Beitrag 144, vom 7.7.2013).
    Es wurde auch ein kurzer Vergleich mit Schuberts Lied vorgenommen, dem allerdings nur die erste Strophe zugrunde liegt. Das Ergebnis kann man in den Worten zusammenfassen:


    Kein größerer Gegensatz ist denkbar, als der zwischen Schuberts Vertonung dieser Verse und dem Lied von Pfitzner. Dass es die strophische Gliederung ignoriert, ist noch das am wenigsten erhebliche Faktum dabei. Entscheidend ist die fundamental andersartige kompositorische Intention: Die lyrische Aussage wird mit einer geradezu überquellenden Fülle an klanglichen Mitteln bis in ihre äußersten semantischen Winkel musikalisch ausgeleuchtet. Der Ort, an dem dieses geschieht, ist ein geradezu exzessiv ausgearbeiteter und mit einer Fülle an klanglichen Mitteln ausgestatteter Klaviersatz.


    Schon die erste Strophe lässt den Unterschied im liedkompositorischen Ansatz vernehmen und erkennen. Auch bei Pfitzner setzt sich diese aus zwei Melodiezeilen zusammen. Der Klangeindruck, den sie vermitteln, ist jedoch ganz und gar von einer schmerzlich wirkenden Fallbewegung der Vokallinie geprägt. Zweimal steigt sie aus hoher Lage abwärts. Zwar gibt es schon bei der ersten Melodiezeile ein vorübergehendes Innehalten in der Abwärtsbewegung, und bei der zweiten kommt es bei dem Wort „Seele“ sogar zu einer Aufgipfelung in Gestalt einer melodischen Dehnung auf einem hohen „e“. Aber das vermag den Grundeindruck eines permanenten Fallens der melodischen Linie nicht wirklich zu beeinflussen. Die Fallbewegung ist ja im Vorspiel in Gestalt einer sich in die aufsteigenden Achtel einlagernden melodischen Figur schon vorgegeben.


    Der Eindruck der Schmerzlichkeit, den die Musik hier macht, wurzelt in der an die Atonalität rührenden Harmonik. Die Abwärtsbewegung der Vokallinie erfolgt in Schritten auf der Ganztonleiter. Die aus tiefer Lage in den Diskant aufsteigenden Achtel des Klaviersatzes weisen nicht nur rhythmisch eine markante Diskrepanz zur Deklamation der melodischen Linie auf, sie generieren in ihrer Bewegung auch eine mit dieser nicht übereinstimmende Tonart. Zwar ist am Anfang des Liedes e-Moll vorgegeben. Was man allerdings harmonisch hier vernimmt, ist ein einziges wie jenseits aller tonartlichen Fixierung sich entfaltendes Chroma.


    Der Vergleich mit Schuberts Lied lässt erkennen: Pfitzners Vertonung der Verse Goethes ist die eines Menschen, der einer anderen Zeit angehört und die dichterische Aussage anders rezipiert. Sein Lied entstand zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieses lyrische Ich scheint die „Lösung der Seele“ durch das Licht des Mondes nur noch beschwören zu können. Von einer wirklichen Erfahrung derselben spricht diese Musik nicht, weil ihr Schöpfer an ihre Möglichkeit in seiner realen Lebenswelt nicht mehr zu glauben vermag. „Lösung der Seele“ in der Erfahrung der Einheit des Ich mit der Natur ist nur mehr ein Wunschtraum. Und deshalb ist es die musikalische Sprache des Expressionismus, die einem in diesem Lied begegnet. Die zarte lyrische Melodik eines Schubert ist ferne musikalische Welt

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  • Trocknet nicht, trocknet nicht,
    Tränen der ewigen Liebe!
    Ach, nur dem halbgetrockneten Auge
    Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint!
    Trocknet nicht, trocknet nicht,
    Tränen unglücklicher Liebe!


    Dieses Gedicht wird in die Gruppe der sog. „Lili-Lyrik“ eingereiht, also derjenigen Lyrik, die von Goethes Beziehung zu Lili Schönemann inspiriert wurde, - der einzigen Frau, die er, nach seinen Worten, wirklich geliebt hat. Es entstand vermutlich im Jahre 1775 und sah damals ein wenig anders aus. Die „ewige Liebe“ (zweiter Vers) war in der Erstfassung eine „heilige“, das „halbgetrocknete Auge“ waren „halbtrockne Augen“, und die „unglückliche Liebe“ des letzten Verses war nun eine „ewige“. In den 1789 verlegten „Goethes Schriften“ fand sich dann diese hier abgedruckte Fassung. Man kann darüber streiten, welche die bessere ist – ich finde: die erste, denn mich stört entschieden das prosaische „halbgetrocknete Auge“ - , aber sei´s drum: Schubert lag eben diese Endfassung zur Komposition vor.


    Sechs Vers, kein dominierendes Versmaß, kein Reim, allenfalls Alliterationen, - aber große Lyrik. Das lyrische Ich spricht von „Liebe“, - und die „Geliebte“ kommt dabei nicht vor. In seinen, vom Ton der Beschwörung getragenen Meditationen geht es nicht um die Zweisamkeit der Liebe, sondern um die ganz und gar subjektive Erfahrung derselben. Und diese ist ambivalent: „Ewig“ und „unglücklich“ zugleich. Liebe hat „Tränen“ im Gefolge. Das liegt in ihrem – ewigen - Wesen begründet, denn sie kann zu einer unglücklichen werden.


    Diese Tränen mögen – so beschwört es dieses lyrische Ich in seinen wenigen Versen – niemals trocknen. Denn nur in ihnen vermag das Unglückliche der Liebe zu einer Glückserfahrung zu werden. Schon wenn sie „halbgetrocknet“ sind, erscheint die Welt öde und tot. Warum? Weil mit den Tränen auch die Liebe entflohen ist. Und auch die „unglückliche“ ist Liebe.


    Ich sprach von „großer Lyrik“. Warum? Weil hier das Wesen der Liebe in einer sprachlich schlichten, weil die Sache direkt, das heißt ohne Aufwand an Metrik und Reim erfolgenden, aber den Wesenskern treffenden Weise lyrisch angesprochen wird.

  • Lieber Helmut,
    wie Du richtig erkanntest wurde das Prädikat "Eliteliga" mit einem Augenzwinkern verliehen. Es steckt jedoch auch ein Körnchen Ernsthaftigkeit dahinter.
    Zum einen finde ich die (Deine) Arbeit in diesem Thread wirklich und uneingeschränkt vorbildlich und lobenswert. Zum anderen wollte ich zwischen den Zeilen
    auf den Unterschied zum weitaus mehr frequentierten, von mir ins Leben gerufenen Thread "Quellen der Freude " hinweisen, der u. a. auch Lyrik bringt aber unter ganz anderer Zielsetzung. Ich bin davon überzeugt, dass unser Tamino-Forum die Vielfalt - also das Betrachten einer Thematik aus verschiedenen Blickrichtungen und mit unterschiedliichen Aspekten - einfach braucht.( Das Nachdenken hat mich sogar dazu gebracht in den "Quellen der Freude" einige ironische Gedanken zu äußern - hoffentlich bekomme ich von Gralshütern der gehobenen Lyrik ob dieser Reimversuche keine auf den Deckel).
    Und wie im Sport, die Bundesliga kann nur existieren, weil es darunter den Breitensport gibt.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Das Lied wurde am 20. August 1815 komponiert. Es steht in c-Moll und weist einen Zweivierteltakt auf. Die Vortragsanweisung lautet: „Etwas geschwind“, und schon dies deutet darauf hin, dass Schubert seine Komposition jenseits von Gefühlsseligkeit und Pathos angesiedelt wissen wollte. Gleichwohl weist es melodische Figuren auf, die als Ausdruck von Schmerzlichkeit empfunden werden können. Auch die durchgehende Harmonisierung in Moll, die damit einhergehenden harmonischen Rückungen und die Verwendung eines neapolitanischen Sextakkords bei dem letzten Auftauchen der Worte „Tränen unglücklicher Liebe“ lassen erkennen, dass die Komposition in unmittelbarer Anbindung an die Aussagen des lyrischen Textes erfolgt.


    Auf den Worten „Trocknet nicht, trocknet nicht“ liegt durchgehend die gleiche melodische Figur. Sie besteht aus fallenden und dann wieder steigenden Sechzehnteln. Der klangliche Eindruck von leicht schmerzlich geprägter, beschwörender Intensität resultiert daraus, dass diese Bewegung nicht nur in Sekundschritten erfolgt, sondern dass dabei auch noch zweimal auf demselben Ton deklamiert wird. Da sie einem vier Mal begegnet, geht von ihr ein starker Einfluss auf den klanglichen Charakter aus, den das Lied macht. Aber generell lässt sich feststellen, dass bei der Bewegung der melodischen Linie die Sekunde dominiert.


    An vielen Stellen tritt die enge Anbindung der Vokallinie an den lyrischen Text in markanter Weise hervor. So macht sie bei den Worten „ewige Liebe“ erst einen Quintsprung zu einem zweigestrichenen „as“ und vollzieht dann auf dem nur zweisilbigen Wort „Liebe“ eine melismenartige und als melodische Dehnung wirkende Bogenbewegung aus Sechzehnteln. Auch das Wort „halbgetrockneten“ wird melodisch hervorgehoben. Bei der Silbe „halb“- macht die melodische Linie einen Quintsprung und hält anschließend in Gestalt eines punktierten Achtels einen Augenblick inne. In gleicher Weise wird das Wort „tot“ mit einem melodischen Akzent versehen. Und beim ersten Auftreten des Wortes „unglücklich“ („unglücklicher Liebe“) macht die Vokallinie einen mit einer harmonischen Rückung in den Mollbereich versehenen, durchaus schmerzliche wirkenden kleinen Sekundsprung zu einem hohen „g“ und beschreibt danach wieder eine fallende Bogenbewegung.


    Die Wiederholung dieser Worte ist freilich melodisch anders gestaltet. Hier beschreibt die Vokallinie über einem neapolitanischen Sextakkord eine in einem hohen „as“ aufgipfelnde und insofern ausdrucksstarke Bogenbewegung, die dann in einem tiefer liegenden und kleineren Bogen in klanglich tristes c-Moll abstürzt. Und mit nach unten gerichteten Bewegungen in Gestalt von fallenden Achteln und Sechzehnteln endet das Lied auch im Nachspiel. Sie fallen von einem hohen „es“ bis zu einem tiefen „c“, das heißt über eine ganze Dezime.


    Man kann diesen Ausklang des Liedes als musikalische Akzentuierung der Art und Weise interpretieren, wie Schubert diese Verse Goethes gelesen und liedkompositorisch umgesetzt hat: Das lyrische Ich artikuliert seine „Wonne der Wehmut“ aus der Distanz der Retrospektive. Die „ewige Liebe“ ist Vergangenheit.

  • Man ist ein wenig verwundert, wenn nicht sogar erstaunt, wenn man, mit Beethovens Vertonung dieser Verse im Ohr, dieses Lied Schuberts hört. Fast flüchtig, ein wenig ariettenhaft, bewegt sich die melodische Linie dahin, - wo es doch um „ewige Liebe“ geht und sich darin Worte finden wie „wie tot die Welt ihm erscheint“. Beethovens Musik wird diesen Worten ganz sicher gerecht. Sie scheint geradezu aus ihnen komponiert worden zu sein. Aber was ist diesbezüglich mit diesem Lied Schuberts? Kann man es auch als eine die lyrische Aussage in adäquater Weise reflektierende Musik hören?


    Ja, man kann! Man muss nur, Beethoven einmal vergessend, die Verse Goethes neu lesen. Wenn man sie – und das hat Schubert wohl getan – aus dem sprachlich dominierenden „trocknet nicht“ rezipiert, dann vernimmt man in ihnen eine distanzierte Haltung des lyrischen Ichs zu dem, was ihnen zugrunde liegt, - eben diese Erfahrung ewiger Liebe, die sich durchaus als „unglückliche“ und nicht „ewige“ erweisen kann.


    Dieses Ich ist eigentlich über diese unmittelbare Erfahrung hinaus, da es einen gleichsam imperativischen Tonfall anschlägt. Beethoven hat, so scheint mir, kompositorisch die Perspektive des „Davor“ eingenommen, Schubert hingegen die – dem lyrischen Text wohl angemessenere – Perspektive des „Danach“. Von daher also dieser so sehr unterschiedliche Grundton der beiden Lieder.

  • Lieber Helmut,


    Deinem Beitrag Nr. 107 gibt es Nichts hinzuzufügen (was auch so zu erwarten war!) - nur die Banalität, dass Fischer-Dieskau nach F-Dur transponiert.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zu Deiner kleinen Anmerkung, lieber zweiterbass, das Lied "An den Mond" betreffend: "...nur die Banalität, dass Fischer-Dieskau nach F-Dur transponiert":


    Das harmonische Transponieren bei der Liedinterpretation ist ein ganz eigenes Problem, - und ein weites Feld. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht in allgemeiner Weise angegangen und erörtert werden kann, weil es ein ganz und gar liedspezifisches ist. Mal führt das Abweichen von der Originaltonart zu einer Veränderung der musikalischen Aussage, ein anderes Mal aber hat man gar nicht diesen Eindruck.


    In diesem speziellen Fall von Schuberts "An den Mond" (D 296) stützte ich meine Besprechung auf die Interpretation von D. Fischer-Dieskau, kannte natürlich aber auch Interpretationen in der Originaltonart. Nicht ohne Grund findet sich in meinen Ausführungen dazu u.a. die Feststellung: Dieses Lied steht - im Unterschied zu der Erstfassung - in As-Dur. Aber mehr als diese Änderung der Tonart setzt die Wahl des Taktes den für die Struktur der melodischen Linie maßgeblichen Akzent.

  • Schaff, das Tagwerk meiner Hände,
    Hohes Glück, daß ich´s vollende!
    Laß, o laß mich nicht ermatten!
    Nein, es sind nicht leere Träume:
    Jetzt nur Stangen, diese Bäume
    Geben einst noch Frucht und Schatten.


    Ein in seiner sprachlichen Struktur und in seiner dichterischen Aussage auf Klarheit und Einfachheit hin angelegtes Gedicht: Sechs Verse, vom Reimschema her in zwei Dreiergruppen gegliedert, vierhebige Trochäen, weibliche Kadenzen.


    Und die Aussage: Im Zentrum steht ein Aufruf des lyrischen Ichs an das „hohe Glück“ , es möge „das Tagwerk seiner Hände“ unterstützen und fördern, auf dass es „vollendet“ werden könne. Das ist freilich auch ein Appell dieses Lyrischen Ichs an sich selbst, - wie die zweite Dreier-Versgruppe erkennen lässt. Ein „Ermatten“ darf nicht sein. Denn das „Tagwerk“ birgt Zukunft in sich und ist damit von so hohem Wert, dass es nicht vernachlässigt oder gar aufgegeben werden darf. Eine Metapher konkretisiert diese Aussage: Die kleinen Baum-Setzlinge werden eines Tage Frucht tragen und Schatten spenden.


    Für den Kenner der Goethe-Biographie ist dieses kleine Gedicht aufschlussreich und deshalb reizvoll. Es entstand am Ende seines ersten Jahres in Weimar. Das war eine wilde, ja wüste Zeit, die er mit dem genialisch sich gebärdenden Herzog verbrachte. Man jagte, trieb Maskeraden, feierte ein Fest nach dem anderen, ritt mal eben in weiße Bettlaken gehüllt durch die Nacht und mauerte einem Fräulein von Göchhausen die Eingangstür zu, so dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitt.


    Am Ende dieses Jahres muss Goethe – auch angesichts seiner Aufgaben als Mitglied des Geheimen Rats – wohl gedämmert sein, dass der Sinn seines Lebens nicht in derlei vordergründig lustbetonten Aktivitäten liegen könne. Die Frage nach Sinn, Ziel und Zweck seiner Übersiedlung nach Weimar stellte sich ihm. Aufschlussreich ist diesbezüglich seine Bemerkung: „Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit“.


    In dieser existenziellen Situation entstand dieses Gedicht. Seine dichterische Aussage ist überzeitlich und allgemeingültig. Aber wenn man um die Hintergründe weiß, liest man es mit Amüsement.

  • Von diesem Lied existieren zwei Fassungen, die sich nur in der Tonart unterscheiden. Die erste steht in F-Dur, die zweite in E-Dur, und beide sind in der Zeit nach Februar 1815 entstanden. Ein „langsamer“ (Anweisung), feierlich anmutender Schreitrhythmus liegt dem Lied zugrunde. Damit greift Schubert den gebetsartigen Charakter der Verse Goethes auf. Schon das viertaktige Vorspiel setzt diesbezüglich einen deutlichen klanglichen Akzent. Es besteht aus einer choralartigen Abfolge von Akkorden im Wert von halben Noten im Diskant, denen ein Auf und Ab von Vierteln im Bass zugeordnet ist. Dieses Spannungsverhältnis von im Viervierteltakt markant angeschlagenem Stakkato im Bass und choralartiger Akkordik im Diskant bleibt – mit Ausnahme von den fünf Takten des letzten Verses – das ganze Lied über erhalten und generiert eben diesen Eindruck feierlichen Schreitens, der für das Lied charakteristisch ist.


    Der Klaviersatz ist der Vokallinie ganz und gar untergeordnet. Nicht nur, dass er durchgängig die Skandierung des lyrischen Textes durch die Singstimme stützt, er folgt mit den Führungstönen der Akkorde im Diskant auch den Bewegungen der melodischen Linie der Singstimme. Das alles ist für Schubert ungewöhnlich. Es lässt sich so erklären, dass er der Vokallinie in dem, was sie melodisch zu sagen hat, den Vorrang geben wollte. Denn das, was sie in enger Anbindung an den lyrischen Text musikalisch sagen soll, ist ja eine beschwörend geäußerte Bitte an das „hohe Glück“, der eine in gleichermaßen beschwörendem Ton artikulierte Anrede des lyrischen Ichs an sich selbst folgt. Und bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Schubert die letzten Worte dieser Dreiergruppe von Versen noch einmal wiederholt, - und dies in melodisch eindringlicher, weil bogenförmig aufgipfelnder Weise.


    Der sakrale Ton kommt in die melodische Linie der Singstimme vor allem dadurch, dass sie die tonale Ebene, die sie eingenommen hat, nicht verlässt, Sprungbewegungen weitgehend meidet und sich in auffälliger Weise den Längen von halben Noten überlässt. Die Worte „schaff, das“, „Hände“ und „hohes“ werden gleich am Anfang auf halben Noten deklamiert, und das Wort „vollende“ trägt sogar eine lange melodische Dehnung in Gestalt eines zwischen zwei halben Noten eingelagerten Melismas aus Achteln.


    Zu einer regelrechten Beschwörung steigert sich der sakrale Ton dann bei der Wiederholung der letzten Worte des dritten und des letzten Verses. Bei „lass mich nicht ermatten“ macht die melodische Linie von einem doppelten „c“ aus einen Quintsprung zu einem hohen „g“, bewegt sich von dort zu einem hohen „d“ herab, das sie einen ganzen Takt lang hält, bevor sie zum Grundton findet. Und bei den Worten „Geben einst noch Frucht und Schatten“ am Ende des Liedes ereignet sich eine ähnliche melodische Emphase in Gestalt eines durch kleine Dehnungen (halbe Noten) gestreckten melodischen Bogens.


    In nur einer kurzen Phase kommt ein wenig Lebhaftigkeit in die Bewegung der melodischen Linie. Und das zeigt wieder einmal die für Schubert so typische Nähe zur Aussage des lyrischen Texts. Wenn in diesem das Wort „nein“ auftaucht, wie am Anfang des vierten Verses, so muss das für Schubert Anlass sein, der melodischen Linie – vorübergehend abrückend vom sakralen Ton – eine stärkere, in Bewegtheit gründende Expressivität zu verleihen. Und so geschieht das auch. Bei den Versen vier und fünf kommen erstmals Sprünge und Fallbewegungen in Gestalt von Terzen und Quarten in die Vokallinie, und ihre Harmonisierung pendelt ungewöhnlich häufig zwischen Dur und Moll hin und her. Zudem gibt es eine Steigerung in der Dynamik in diesem ansonsten durchgehend im Pianissimo angesiedelten Lied.


    Es gehört zu den so zahlreichen weniger bekannten – oder gar unbekannten – Liedern Schuberts. Aber es lässt – wie so viele von diesen – vernehmen, wie groß der Liedkomponist Schubert auch dort ist. Es ist die enge Anbindung der Musik an die Struktur und die Semantik der lyrischen Sprache, in der diese Größe gründet.

  • Peter von Matt hat diese Verse in einer Besprechung ein „zweifelhaftes und zwielichtiges Gedicht“ genannt. Und er hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. In seinem Zentrum steht nicht Liebe, sondern Gewalt. Da wird ein „Röslein“ gebrochen, und die Assoziation einer gleichsam gewaltsamen Defloration ist von Goethe ohne jede Frage gewollt. Wobei der im Grunde ungeheuerliche dichterische Zynismus in den vielen Diminutiva besteht, die über diese Gewalttat, die sich hier ereignet, sprachlich gestreut werden. Die permanente Wiederkehr des Refrains ist von daher im Grunde unerträglich.


    Lieber Helmut,


    das würde ich auch so sehen. Allerdings: Das "Rosenbrechen" ist einer der klassischen "Topoi", wie Du sicher weißt, die bekanntlich Ernst Robert Curtius entdeckt hat. Rosenbrechen als Topos an sich meint nicht Gewalt, sondern ist schlicht die poetisch verschlüsselte Botschaft, die mitteilt: hier hat handfester Sex stattgefunden! Die Gewalt kommt bei Goethe dadurch ins Spiel, daß er diesen alten Topos sehr modern lyrisch auslegt als ein einfühlsam greifbares "Erlebnis" von Sexualität (was der mittelalterlichen Lyrik der symbolischen Andeutung so fremd ist), wo der Aspekt des Leidens und Erleidens eine zentrale Rolle spielt (der "wilde" Knabe, ein die Gesetze mißachtender Stürmer und Dränger, das liegt zudem nahe) - eine ziemlich unromantisch-realistische Sicht auf die Sexualität.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
    Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
    Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
    Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
    Kennst du es wohl?
    Dahin! Dahin
    Möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.


    Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
    Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
    Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
    Was hat man dir, du armes Kind, getan?
    Kennst du es wohl?
    Dahin! Dahin
    Möchte ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.


    Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
    Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
    In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
    Es stürzt der Fels und über ihn die Flut;
    Kennst du ihn wohl?
    Dahin! Dahin
    Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!


    Das Gedicht findet sich am Anfang des „Dritten Buches“ des Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, war aber schon in dessen Urfassung, die „Theatralische Sendung“ aufgenommen. Wilhelm hört Mignon dieses Lied singen, und es heißt, dass „Melodie und Ausdruck“ ihm besonders gefallen hätten. Er übersetzt das Lied, das ihm in einem italienischen Dialekt begegnete, aber er konnte „die Originalität der Wendungen nur von ferne nachahmen“, und „die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand“ dabei.


    So klar strukturiert die Strophen in ihrem Aufbau sind, so rätselhaft ist ihre Metaphorik, - vor allem dann, wenn man nach einer Verbindung zwischen ihr unter dem Aspekt sucht, welche Aussage sie über das lyrische Ich, eben diese Mignon, macht. Es ist wohl so, dass diese Rätselhaftigkeit das Wesen dieser Gestalt spiegelt, die in diesem Roman ganz und gar in die Aura des Rätselhaften, Geheimnisvollen und schwer Zugänglich gehüllt ist.


    Die erste Strophe entwirft in meisterhaft prägnanten, weil das Wesen der Sache treffenden lyrischen Bildern das Land der Sehnsucht: Italien. Das sehnsuchtsvolle „Dahin, dahin“ ist hier voll und ganz nachvollziehbar. Bei den Bildern der zweiten Strophe ist das schon weniger der Fall. Die Räumlichkeiten eines „Hauses“, das wohl der Sphäre zugehörig ist, die die erste lyrisch evoziert, - mit einem antiken Einschlag freilich. Marmorbilder stehen im Zentrum. Möchte das lyrische Ich dorthin, weil sie ihm die Frage stellen: „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“, - und es damit seiner Identität vergewissern?


    Was ist nun aber mit den ganz und gar rätselhaften Bildern der dritten Strophe? Man könnte es sich leicht machen und darin den Weg über den Gotthard lyrisch skizziert sehen. Es wäre zu einfach, denn den Bildern wohnt Wildes, Urtümliches und Bedrohliches inne: Das Maultier muss mühsam seinen Weg im Nebel suchen, Fels stürzt, Flut wallt über ihn hin und Drachen wohnen in Höhlen. Warum geht der Weg dieser Mignon dorthin?


    Das Gedicht skizziert lyrisch den Weg einer Identitätssuche. Das dabei angesprochene Du ist aus diesem Grund nicht allein „Geliebter“, - es ist Beschützer und Vater überdies. Es ist Begleiter des lyrischen Ich auf dem Weg der Suche nach sich selbst, die in der Idylle einer südlichen Landschaft das ersehnte Zuhause finden könnte, - wenn sie denn erreichbar ist. Daher dieses immer wiederkehrende Drängen: „Dahin, dahin“. Die Erfahrungen des Gefährlichen, Unwirtlichen und Bedrohlichen müssen als Stationen dieses Weges in Kauf genommen werden.

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