Ich bin der wohlbekannte Sänger,
Der vielgereiste Rattenfänger,
Den diese altberühmte Stadt
Gewiß besonders nötig hat.
Und wären’s Ratten noch so viele,
Und wären Wiesel mit im Spiele,
Von allen säubr’ ich diesen Ort,
Sie müssen miteinander fort.
Dann ist der gutgelaunte Sänger
Mitunter auch ein Kinderfänger,
Der selbst die wildesten bezwingt,
Wenn er die goldnen Märchen singt.
Und wären Knaben noch so trutzig,
Und wären Mädchen noch so stutzig,
In meine Saiten greif’ ich ein,
Sie müssen alle hinterdrein.
Dann ist der vielgewandte Sänger
Gelegentlich ein Mädchenfänger;
In keinem Städtchen langt er an,
Wo er’s nicht mancher angetan.
Und wären Mädchen noch so blöde,
Und wären Weiber noch so spröde,
Doch allen wird so liebebang
Bei Zaubersaiten und Gesang.
In diesem, vom lyrischen Geist des Bänkelgesangs geprägten Gedicht, greift Goethe die Sage vom Rattenfänger von Hameln auf, wandelt sie aber in interessanter Weise ab. Das Gedicht entstand wahrscheinlich schon Anfang der achtziger Jahre, wurde aber erst 1804 in „Cottas Taschenbuch auf der Jahr 1804“ publiziert. Die drei Strophen bestehen aus jeweils acht Versen, die jeweils vier Hebungen auf der Grundlage eines jambischen Versmaßes aufweisen.
Jede Strophe hat in der Art und Weise, wie der „Rattenfänger“ sich präsentiert und von sich selbst spricht, einen eigenen thematischen Schwerpunkt. Der Rattenfänger der Sage wird bei Goethe zu einem „Sänger“, einem Künstler also, der sich am Anfang jeder Strophe so vorstellt, - mit verschiedenen Adjektiven versehen: „Wohlbekannt“, „gut gelaunt“ und „vielgewandt“. Zwar säubert er die Stadt auch von Ratten, und er weist in diesem Zusammenhang auf seine Wichtigkeit hin. Aber in der zweiten Strophe lernt man ihn als einen „Sänger“ kennen, der mit seinen „goldnen Märchen“ Kinder in Bann zu schlagen vermag.
In der dritten Strophe schließlich präsentiert sich der Protagonist dieser Romanze als „Mädchenfänger“, - als einer, der mit seinen „Zaubersaiten“ und seinem Gesang Frauen für sich einzunehmen vermag, - und zwar alle. Es wird deutlich: Im Zentrum steht die Macht der Kunst, der Dichtung, der Musik über die Menschen. Sie vermag, ist nur der wahre Künstler am Werk, alle in Bann zu schlagen.
Bilder und Gedanken, mit denen sich ein Dichter wie Goethe und ein Musiker wie Schubert nur allzu gern beschäftigt haben.