Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Lieder

  • Eigentlich ein wenig erstaunlich: Es gibt keine Quellenzeugnisse und keine kompositorischen Indizien über eine ernsthafte Auseinandersetzung des Liedkomponisten Mendelssohn mit dem Liedkomponisten Schubert. Erstaunlich ist das zunächst einmal deshalb, weil Mendelssohn das sinfonische und kammermusikalische Schaffen Schuberts sehr wohl kannte. Auch sein Liedschaffen war ihm in wesentlichen Teilen nicht unbekannt.


    Mendelssohn kommt immerhin das Verdienst zu, Schuberts bis dahin unbekannte große C-Dur Sinfonie am 21. März 1839 in Leipzig uraufgeführt zu haben. Auf Initiative Robert Schumanns schickte Ferdinand Schubert die Partitur an Mendelssohn, der daraufhin Einzelstimmen daraus anfertigte, um das Werk im Orchester einstudieren zu können. Das wiederum hatte zur Folge, dass nicht nur diese Sinfonie durch Anton Diabelli im Druck veröffentlicht wurde, sondern auch Schuberts Klaviersonate in a-Moll D 784. Mendelssohn begann daraufhin seinerseits mit der Arbeit an einer – nicht vollendeten - Klaviersonate in G-Dur, die deutliche Beeinflussung durch Schubert erkennen lässt.


    Warum aber dann keine Einflüsse des Liedkomponisten Schubert auf das Liedschaffen Mendelssohns?


    Ich denke, dahinter steht ein fundamental unterschiedlicher liedkompositorischer Ansatz. Schuberts Lieder sind musikalischer Ausdruck einer unmittelbaren existenziellen Betroffenheit durch den lyrischen Text. Dieser verwandelt sich bei ihm in eine Musiksprache, die sich von diesem Ansatz und aus dieser menschlich-kompositorischen Quelle her zu kompromissloser musikalischer Radikalität steigern und damit die musikästhetisch-regulativen Prinzipien der Klassik hinter sich lassen konnte, - zu erfahren insbesondere in seinem liedkompositorischen Spätwerk.


    Mendelssohn ist zwar ein Kind der Romantik und des Biedermeier, wie man seinem Bekenntnis, 1842 gegenüber einem Freund ausgesprochen, entnehmen kann:
    „Es gibt kein Zuviel des Empfindens, und was man so nennt ist eher ein Zuwenig. All das Schweben und Schaukeln der Empfindung (…) ist kein Zuviel, denn wer empfindet, der soll so viel empfinden, als er nur immer kann, und dann womöglich noch mehr.“


    Auf der anderen Seite fühlte er sich aber den Prinzipien musikalischer Klassizität verpflichtet. Kompositorisches Leitprinzip war für ihn, eine Art Brücke aus der romantischen Musik zurück in die Klassik zu schlagen, indem er sich an den klassischen Parametern des Maßes und der formalen Stringenz orientierte. Als Schüler Zelters wuchs er liedkompositorisch mit der Idee „edlen Einfalt“ auf. In vielen seiner Lieder ist die Orientierung am „Volkston“ unüberhörbar.


    Hieraus ergab sich – so denke ich - für den Liedkomponisten Mendelssohn ein tiefreichender Konflikt, der sich auch auf seine Liedkomposition auswirkte.Vielleicht fehlt seinen Liedern bei all ihrer melodischen und harmonischen Schönheit jener Ton der musikalischen Unmittelbarkeit, der bei Schubert zu vernehmen ist und seine liedkompositorische Singularität ganz wesentlich begründet.

  • Ich hoffe, Sie sehen es nicht als vermessen an, wenn ich mich hier wieder so in den Vordergrund dränge, aber Mendelssohn ist ganz einfach mein Steckenpferd. Sie haben vollkommen recht, die mendelssohnschen Lieder sind ganz und gar von den Idealen der Berliner Liedschule geprägt. Sein Lehrer Zelter war ja einer der Hauptproponenten dieser Richtung und ein sehr streitbarer Herr. Auch Goethe, ein guter Freund Zelters, war ein strikter Anhänger dieses konservativen Liedschemas. Mendelssohn hätte sich ganz bewusst gegen seine nächste Umgebung, inklusive seiner Eltern, stellen müssen, hätte er Lieder im freien Stil komponiert. Dazu war ihm offensichtlich die Gattung Lied nicht wichtig genug. Seine Lieder, die freier gestaltet sind ließ er alle unveröffentlicht, etwa "Die Liebende schreibt". Mendelssohn hat sich seine Unabhängigkeit allerdings in einer für seine Umgebung weniger verfänglichen Gattung erkämpft, nämlich der Instrumentalmusik. Beispielsweise zwang er Goethe, sich die 5.te Symphonie, gespielt von M. am Klavier, anzuhören (allerdings mit wenig Erfolg, denn Goethe war von seiner Beethovenantipathie nicht abzubringen). Mendelssohns Streichquartette Op. 12 und 13 wurden von seinen Eltern mit großem Unmut zur Kenntnis genommen. Hier aber setzte sich Mendelssohn durch. Es war auch das Streichquartett in f-moll, mit dem er sich kurz vor seinem Tod vom klassisch geprägten Kompositionsstil praktisch verabschiedete.

  • Ich erlaube mir den Hinweis, lieber Felix Meritis, dass es hier im Forum Sitte und Brauch ist, sich mit "Du" anzusprechen. Natürlich muss jeder selbst entscheiden, wie er damit umgeht.


    Wichtiger ist mir aber dieses: Der Gedanke, es könne "Vermessenheit" dahinterstehen, wenn ein anderer mit einem Beitrag Stellung zu dem nimmt, was man hier schreibt, löst bei mir ziemliche Verwunderung aus. Genau dieses wünscht man sich doch!


    Und im übrigen: Mendelssohn als "Steckenpferd", - das ist doch was Schönes!

  • Lieber Helmut,


    bei uns in Österreich siezt man sich gewöhnlich sogar in Internetforen, deshalb meine Zurückhaltung. Aber natürlich ist duzen viel einfacher.

  • Du sagst, lieber Felix: "bei uns in Österreich siezt man sich gewöhnlich sogar in Internetforen,".


    Das wusste ich nicht. Es ist aber, wie ich denke, keine so schlechte Sitte, wenn es dem höflichen Umgang miteinander förderlich ist. Dieser ist freilich auch in der Umgangsform des "Du" sehr wohl möglich. Insofern würde ich mich nicht unbedingt als Befürworter des Siezens betrachten. Manchmal freut man sich sogar, von einem anderen Menschen in freundlicher Weise geduzt zu werden. Das mildert ein wenig die Kühle, die in dem virtuellen Raum herrscht, in dem wir uns hier bewegen. Ich erinnere mich noch gut, wie seltsam ich es anfänglich fand, meine Beiträge sozusagen ins Leere zu schicken oder an einen anderen Menschen zu adressieren, der nur aus Elementen meiner Imagination besteht.


    Für Mendelssohn wäre die Form der Anrede überhaupt keine irgendwie diskutable Sache gewesen, - bei all der Bedeutung, die das Wahren der Form für ihn hatte. Wenn man sich ein wenig näher mit seiner Biographie beschäftigt, wird einem sehr schnell deutlich, welche Auswirkungen die Sozialisation im familiären Umfeld nicht nur für sein späteres Leben, sondern sogar für das Komponieren hatte. Hier gibt es selbstauferlegte Zwänge, die sich selbst im Bereich des Liedes bemerkbar machen, - obwohl doch gerade das Lied sowohl für ihn als auch für seine Schwester der Ort war, wo am ehesten die personale Emotionalität ihren künstlerischen Ausdruck suchte und suchen durfte.


    Freilich auch hier in nur begrenzter Form. Zur diesbezüglichen Radikalität eines Franz Schubert wäre er - worauf ich ja schon hinwies - nicht bereit und fähig gewesen.

  • Wir Österreicher sind viel formeller als die Deutschen, was Deutsche, die nach Österreich ziehen regelmäßig in Verwirrung stürzt. Allerdings gilt das eher für Wien als für den Westen des Landes, wo man sich schneller duzt. Wien war eben viele Jahrhunderte Sitz eines Kaiserhofes.



    Mendelssohn war meines Wissens nur mit einer Handvoll Leute per Du, alles Feunde aus der Jugendzeit: Karl Klingemann, Ferdinand Hiller, Ignaz Moscheles, Ferdinand David und Julius Schubring. Bei Schumann und Gattin blieb er eisern beim "Sie" obwohl sie einander schon 1834 kennenlernten und während der Leipziger Zeit fast täglich miteinander verkehrten. Interessanterweise war er aber mit seinen Eltern, sehr patriarchalisch gesinnten Leuten, per Du.

  • Wir Österreicher sind viel formeller als die Deutschen,


    Haben/hast Sie/Du das allen Österreichern "geweiht"? Und mit "die Deutschen", gilt da als Abgrenzungsmerkmal der Besitz eines deutschen Paßes?


    Tja, der gute alte "Herr Kommerzienrat" - ein Nachfolger "unserer" Titel hier im Forum?


    Viele Grüße aus Nürnberg, der Stadt...mit sehr unterschiedlichen Bezügen zu der Geschichte.
    Zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich fürchte selbst echte Baiern wie der langjährige Wiener Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Michael Frank, haben hier oft Probleme sich klar zu orientieren. Dann wird das bei einem Franken wahrscheinlich ähnlich sein. Wir haben neben dem Titel Kommerzialrats für langjährige Ladenbesitzer auch den Titel des Ökonomierats für fleißige Landwirte und des Medizinalrats für gewissenhafte Ärzte. Ein Unikum in einer Republik ist der Titel des "Hofrats" für höhergestellte Beamte. Aber leider, Studienräte gibt es hier nicht, denn Mittelschullehrer sind "Professoren".

  • Es gibt zwar "bairisch", aber echte "Baiern" gibt es nicht. (Warum meiner 2. Frage ausgewichen?)
    Tja, die liebe "Titelsucht", wofür bodenständige Franken ein mildes Lächeln der Verzeihung haben.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Für mich ist ein echter "BaIer" ein Bewohner des Freistaats BaYern der "Boarisch" spricht, d.h. nicht die Franken und nicht die Schwaben. Was war denn die zweite Frage genau? Ob wir Österreicher uns auch als Deutsche verstehen, obwohl wir keinen bundesdeuschen Pass haben?

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  • Ich meine es wäre zu trennen zwischen den Bayern und dem "echten Bayern".
    "Gott bewahre", das würde dem östereichischen Verständnis wohl zuwiderlaufen, sicher aber...
    Ich ahne, eine Antwort auf meine 2. Frage ist problematisch?


    "Frei statt Bayern" - der Wahlspruch für "echte" Franken.
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Was soll daran problematisch sein? Falls der alte Adolf gemeint sein sollte: der war doch auch ziemlich formell, oder? Falls der Anschluß 1938 gemeint sein sollte: eine freie Abstimung wäre wohl zu 2/3 gegen einen Anschluss an Dtl. ausgegangen. Deshalb auch der Einmarsch. In Dtl. hat ja auch nie eine absolute Mehrheit für die Nazis gestimmt. In Bayern kam die NSDAP im Januar 1933 auf 18% der Stimmen.
    Persönlich is mir das ganze schon gar nicht peinlich. Meine Verwandten saßen mit den Nachkommen Mendelssohns in einem Boot (um hier noch eine Brücke zum Thema zu schlagen). Da stellte sich die Frage ob man "mitmachen" möchte nicht.

  • Eigentlich wollte ich ja Felix Meritis nur darauf hinweisen, dass man sich hier im Forum mit "Du" anredet. Und das tat ich auch nur deshalb, weil ich von ihm "gesiezt" wurde. Ich hatte also tatsächlich einen handfesten Grund.


    Mir scheint jetzt aber, ich hätte das dennoch besser unterlassen und wäre bei meinem eigentlichen Thema geblieben: Den Liedern Felix Mendelssohns.

  • Helmut hat Recht, diese nationalen Themen passen schlecht in den Mendelssohnlied-Thread. Vielleicht wäre es aber in diesem Zusammenhang interessant darauf hinzuweisen, dass sich Mendelssohn standhaft weigerte eine Melodie für "Sie sollen ihn nicht haben den Rhein" (die Franzosen sind gemeint, wohlgemerkt) zu komponieren, obwohl da in den 1840er Jahren deutschlandweit eine große Nachfrage bestand. Schumann hat den Text meines Wissens vertont.

  • Wir Österreicher sind viel formeller als die Deutschen


    Ach, das war wohl kein nationales Thema? Auf national orientierte Pauschalfeststellungen ist eine Konkretisierung unangebracht?
    Du bringst in Deinen Antworten eine Politisierung hinein, die in meiner Frage nicht enthalten ist!




    Lieber Helmut,


    überlass doch die Threadbereinigung dem Mod.-team. Ich bin gespannt ob auf ein...(kein Adjektiv!) Pauschalurteil keine Klärung erfolgen darf.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler


  • Ah ja, da war ja auch dann das mit dem Humor....


    Ich werd in Zukunft Smileys verwenden - versprochen! :) :) :) :) :) :) :) :)

  • Bei Hartmut Höll, der sich ja als Interpret intensiv mit den Liedern Mendelssohns auseinandergesetzt hat, fand ich eine Bemerkung, die mich angeregt hat, mein Urteil über ein bestimmtes Lied noch einmal zu überprüfen. Es geht um das Lied „Das erste Veilchen“, op.19, Nr.2.


    Höll meint dazu:
    Auch die Einsicht, dass manche Gedichte und Lieder so zeitgebunden sind, ihre Geschichte zu unbedeutend geworden ist, als dass man sie wiederbeleben sollte, prägte sich damals ein. So verzichteten wir (d.h. er und Mitsuko Shirai) schnell auf „Das erste Veilchen“.

    Ich gestehe:
    Ich habe diese angebliche Zeitgebundenheit dieses Liedes nicht so empfunden. Schon gar nicht war ich der Meinung, dass man ein solches Lied „nicht wiederbeleben sollte“. In meiner Besprechung (Beitrag 57, vom 20.5.12) schrieb ich:


    „Es scheint die Intensität der lyrischen Bilder gewesen zu sein, insbesondere der Gegensatz von frühlingshaftem Leben und nachfolgendem Tod, die Mendelssohn kompositorisch besonders angesprochen haben mag. Denn die musikalische Binnenspannung zwischen erster und zweiter Strophe des Liedes lässt das hören. (…)
    Das Klaviervorspiel deutet klanglich schon an, was sich lyrisch in diesem Lied ereignen wird. Der in aufsteigenden und dann fallenden Akkorden lieblich sich artikulierende Ton mündet in verminderte Akkorde, in die sich die Singstimme einfügt. Die Begegnung mit dem toten Veilchen wird hier schon klanglich vorweggenommen.“


    Nun habe ich mir dieses Lied noch einmal genauer angehört, um meinen Eindruck von ihm zu überprüfen. Ich kann das Urteil Hölls nicht nachvollziehen. Bestünde das Lied nur aus der ersten Strophe, - dann ja. Aber seine eigentliche musikalische Aussage ereignet sich im Kontrast zwischen der ersten und der zweiten Strophe, der sich verdichtet in dem Aufeinandertreffen der fallend in Moll harmonisierten melodischen Linie auf dem lyrischen Bild „das Veilchen ist tot“ und jener heiter sich aufschwingenden beim nächsten Vers: „Rings stehn viel Blumen, blau und rot.“


    Für mich ist die Erfahrung der Vergänglichkeit, die sich in diesem Lied ausdrückt und ihre besondere Intensität dadurch bekommt, dass es hier um das Vergehen des ersten zarten keimenden Lebens des Frühlings geht, dasjenige, was mir dieses Lied wertvoll und auf jeden Fall hörenswert macht.

  • ad "Das erste Veilchen":


    Ich halte das Lied auch für wirklich gelungen, allerdings ist es auch in neueren Mendelssohnlied-Anthologien selten dabei. Immerhin, in der Gesamtaufnahme von Hyperion steht über das Lied: "one of his finest songs". Dafür ist sehr oft das "Pagenlied" in Anthologien enhalten, ein Stück, dessen Beliebtheit ich nicht ganz nachvollziehen kann.

  • Zit. Felix Meritis: "Ich halte das Lied auch für wirklich gelungen,..."


    Es freut mich, das zu lesen. Die Einschätzung dieses Liedes ("Das erste Veilchen") durch Hartmut Höll kann ich in der Tat in keiner Weise nachvollziehen. Ich halte ohnehin die von ihm verwendete Kategorie der "Zeitgebundenheit" für problematisch, zumal er sie mit dem höchst unscharfen Begriff "Geschichte (eines Gedichtes oder eines Liedes)" kombiniert.

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  • Warum eigentlich hat Mendelssohn so wenige Gedichte von Goethe vertont? Ich kenne nur drei:


    Suleika op.57, Nr.3 (Mendelssohn konnte damals noch nicht wissen, dass dieses Gedicht von Marianne von Willemer stammt;
    Die Liebende schreibt, op.86, Nr.3;
    Erster Verlust, Op.99, Nr.1.


    Verwunderlich ist das deshalb, weil Mendelssohn Goethe nicht nur gut kannte und mehrmals Gast im Haus am Frauenplan war, sondern weil er von diesem auch als Musiker und Komponist sehr geschätzt wurde.
    Man kann hier nur spekulieren, denn gibt keine brieflichen oder sonstigen schriftlichen Zeugnisse, aus denen man eine Antwort entnehmen könnte. Es kommen wohl zwei Erklärungen dafür in Frage:


    - Mendelssohn hat Goethe zu sehr geschätzt, geachtet, ja verehrt, als dass er sich hätte anmaßen wollen, dessen Lyrik zu vertonen;
    - er hat aus Respekt seinem Lehrer Zelter gegenüber nicht als „Konkurrent“ auftreten wollen.


    Ich glaube, dass der Faktor „Zelter“ bei dieser Frage eine große Rolle spielte. Mendelssohn wusste natürlich, wie sehr Goethe Zelters Vertonungen seiner Gedichte schätzte. Da er selbst sich aber in seiner Liedkomposition schon sehr bald von Zelter emanzipiert hatte, hätte er Goethes Gedichte in einem Stil vertonen müssen, bei dem an annehmen musste, dass er bei Goethe dabei auf Missfallen stieß.

  • Es gibt meines Wissens kaum Aussagen Mendelssohns über Goethes Werke, im Gegensatz zu Schillers Dramen, die ihn immer wieder beschäftigten. Mendelssohn hat auch nie daran gedacht Goethes Faust zu verwerten. Da Mendelssohn die Vertonung von Balladen eher abgelehnt hat (es gibt da einen Brief an eine seiner Tanten, in welchem er sich explizit dazu äußert) wird man schon deshalb viel weniger vertonten Goethe als bspw. bei Schubert finden. Eine Ausnahme ist die Vertonung von Goethes Walpurgsinacht, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass er zu dieser Komposition direkt von Zelter und Goethe angehalten wurde.
    An Pietätsgründe gegenüber Zelter glaube ich weniger, da er auch nach Zelters Tod (kurz nach Goethes Tod) kaum Goethe-Gedichte vertont hat. Außerdem hat seine Schwester, die ja auch Schülerin Zelters war, zahlreiche Goethe-Gedichte vertont.

  • Meine Überlegungen, einen in der Tat auffälligen und bedenkenswerten Sachverhalt betreffend, wurden ausdrücklich als spekulativ bezeichnet und eingestuft. Sie lassen sich wegen des Fehlens von einschlägigem Quellenmaterial nicht verifizieren.

  • Meine Überlegungen, einen in der Tat auffälligen und bedenkenswerten Sachverhalt betreffend, wurden ausdrücklich als spekulativ bezeichnet und eingestuft. Sie lassen sich wegen des Fehlens von einschlägigem Quellenmaterial nicht verifizieren.

    Durchaus. Aber auch Spekulationen können Gegenstand von Diskussionen sein, oder?

  • Dass Mendelssohn Goethes Lyrik mit den Vertonungen durch Zelter identifizierte und möglicherweise deshalb davor zurückscheute, sich seinerseits kompositorisch damit auseinanderzusetzen, ist so abwegig nicht, bleibt freilich eine Spekulation. Immerhin liegt fast einem Drittel der etwa 200 Lieder Zelters ein Gedicht von Goethe zugrunde.


    Zelter publizierte 1796 sein erstes Liederheft. Er schickte es nach Weimar, hatte damals aber noch nicht den Mut, sich direkt mit Goethe in Verbindung zu setzen. Das geschah erst drei Jahre später. Goethe meinte: "Wenn meine Lieder Sie zu Melodien veranlaßten, so kann ich wohl sagen, daß Ihre Melodien mich zu manchem Liede aufgeweckt haben, und ich würde gewiß, wenn wir zusammen lebten, öfter als jetzt mich zur lyrischen Stimmung erhoben fühlen."


    Mendelssohn wusste um diese hohe Wertschätzung, die Zelters Goethe-Vertonungen bei diesem genossen. Im Antwortschreiben Goethes an Zelter fand sich als Beilage die Ballade "Die erste Walpurgisnacht", mit der Bitte, diese zu vertonen. Zelter sah sich dazu nicht in der Lage und reichte den Auftrag an seinen Schüler Mendelssohn weiter, der daraus 1831 ein großes Balladenwerk machte. Auf seiner Italienreise vollendete er in Mailand den ersten Entwurf dazu, - "d.h. bis auf die Ouvertüre, von der ich noch nicht weiß, ob ich eine große Symphonie oder eine kurze Frühlingseinleitung mache."

  • Lieber Helmut,


    ich halte deine Hypothese keineswegs für abwegig, sie ist durchaus plausibel. Aus mehreren Gründen, glaube ich trotzdem das sie nicht zutreffend ist.


    1. Wie bereits gesagt, komponierte Mendelssohn, im Gegensatz zu seiner Schwester, auch kaum Goethevertonungen nach Goethes und Zelters Tod.


    2. Mendelssohn zögerte auch nicht mit der Berliner Singakademie (der Zelter ja vorstand) Bachs Matthäuspassion einzustudieren, natürlich mit der (zähneknirschenden) Zustimmung Zelters. Man kann wohl annehmen, dass Mendelssohns überlegene Musikalität, die ja nun allen auffiel, Zelters Authorität im Ensemble ankratzen musste. Eine spätere Aufführung der Passion unter Zelter fiel angeblich auch bei der Öffentlichkeit durch. Das heißt also, dass Mendelssohn keine Zurückhaltung kannte, ein (musikalisches) Ziel zu erreichen, auch wenn er damit in Konkurrenz zu "Authoritätspersonen" trat.


    3. Mendelssohn hatte eine ganz eigentümliche Herangehensweise an das Vertonen von Gedichten, denn weniger als die eigentliche Qualität schien ihn eine innewohnende "Musikalität" zu inspirieren. Beispielsweise lobte er mehrmals überschwänglich Karl Klingemann für seine Verse, die, wie ich so frei bin zu behaupten, den Vergleich mit Goethe nicht standhalten. Mendelssohn war aber von der "Musiknähe" Klingemanns beeindruckt, weshalb er sie meinte wie im Schlafe vertonen zu können, während andere Dichter ihm angeblich große Probleme bereiteten. Ich halte es deshalb nicht für ausgeschlossen, dass Mendelssohn Goethes Gedichte als nicht "musikalisch" empfand und daher ungerne vertonte.

  • Deine Vermutung, lieber Felix: "Ich halte es deshalb nicht für ausgeschlossen, dass Mendelssohn Goethes Gedichte als nicht "musikalisch" empfand und daher ungerne vertonte. "...


    ... weist eine gewisse Plausibiltät auf. Goethes lyrische Sprache ist vom affektiv-emotionalen Gehalt ihrer Metaphorik her ausgesprochen "trocken". Von Mendelssohn ist die Anmerkung zu einem bestimmten Gedicht überliefert, er könne es nicht vertonen, "da das ganze Gedicht ... unmusikalisch" sei. Er brauchte wohl eine Lyrik, die ihn von ihrer Metaphorik her unmittelbar ansprach. Nur so ist die Bemerkung zu verstehen: "Ich kann mir nur dann Musik denken, wenn ich mir eine Stimmung denken kann, aus der sie hervorgeht."


    Es könnte durchaus sein, dass ihm Goethes Lyrik - eben wegen jener ganz spezifischen "Trockenheit" ihrer Sprache - weniger lag.

  • Diese CD wird zwar von Helmut bereits in seinem Einführungsbeitrag erwähnt, ich möchte aber noch einmal ganz dezidiert auf die hohe Qualität dieser Einspielung hinweisen:


    Mammel und Schoonderwoerd gelingt es in mMn unübertroffenerweise, die vielen Feinheiten dieser Lieder erklingen zu lassen. Entscheidend dabei ist die auffällige Schlichtheit des Vortrags, die ich bei Mendelssohns Liedern absolut für essentiell halte. Wenn man diese Lieder virtuous "herausschreit" verlieren sie ihren Zauber. Lieder, die mir sonst nicht oder eher unangenehm auffielen, wie etwa das Jagdlied Op. 84/3, geraten so zur reinsten Hörfreude.

  • Der größte Teil der Lieder der oben angezeigten CD ist in hier besprochen. Ich möchte eines von denen herausgreifen, bei denen das nicht der Fall ist, und es vorstellen. Es handelt sich um den Take 21:„Des Mädchens Klage“ auf ein Gedicht von Friedrich Schiller. Es entstand um 1825, weist eine ganz und gar Mendelssohn-typische musikalische Diktion auf und ist – aus meiner Sicht – sehr hörenswert.


    Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn,
    Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün,
    Es bricht sich die Welle mit Macht, mit Macht,
    Und sie seufzt hinaus in die finstre Nacht,
    Das Auge vom Weinen getrübet.


    „Das Herz ist gestorben, die Welt ist leer,
    Und weiter gibt sie dem Wunsch nichts mehr.
    Du Heilige, rufe dein Kind zurück,
    Ich habe genossen das irdische Glück,
    Ich habe gelebt und geliebet!“


    Eingeleitet wird das Lied mit einer durchgehend chromatisch geprägten, auf- und absteigenden Folge von Achteln, die klanglich seelische Erregung und Schmerz evoziert. Diese Grundstruktur bleibt im Klaviersatz auch in der Folge im wesentlichen erhalten. Und hiermit korrespondiert, dass die melodische Linie der Singstimme bis auf wenige Passagen in Moll gehalten und von fallenden Linien geprägt ist.


    Die melodische Linie der Singstimme bleibt zwar bei den Worten „Der Eichwald brauset“ noch in mittlerer Lage, jedoch schon bei den Worten „die Wolken ziehn“ macht sie einen Sprung in hohe Lage und beweget sich von fort in fallender Linie abwärts .Bei nächsten Vers kommt ein mehr darstellender Ton in die Vokallinie, und ihre Harmonisierung wechselt auch hinüber in den Dur-Bereich.


    Beim dritten Vers der ersten Strophe steigt sie, ganz der Aussage des lyrischen Textes gemäß, in eindrucksvoller, ja fast schon dramatischer Weise langsam nach oben. Dieser Eindruck von Dramatik ergibt sich daraus, dass der Vers wiederholt wird und die Singstimme am Ende, also bei dem Wort „Macht“ einen Augenblick lang in hoher Lage innehält.


    Der Vers „Und sie seufzt hinaus…“ erklingt in auf und absteigender Linie, wobei der zugrundliegende Dreivierteltakt der melodischen Linie eine leicht wehmütigen Charakter verleiht. Bei den Worten „vom Weinen getrübet“ macht die Vokallinie am Ende einen schmerzlich wirkenden verminderten Quintfall. Im nachfolgenden Zwischenspiel sind wieder die chromatisch fallenden und steigenden Achtel des Vorspiels zu vernehmen.


    Bei der zweiten Strophe fällt die Singstimme mit einem ausgeprägten, ganz in Moll gehaltenen Klageton in sie ein. Er wird dadurch verstärkt, dass das Klavier zweimal über der melodischen Linie der Singstimme einen chromatisch geprägten Bogen in hoher Lage artikuliert. Auch beim zweiten Vers dominiert die Fallbewegung in der Vokallinie. Sehr expressiv wirkt sie besonders bei den Worten „nichts mehr“ am Ende des zweiten Verses.


    Weiter gesteigert wirkt die Expressivität bei dem Vers „Du Heilige rufe dein Kind zurück“. Dies auch deshalb, weil er in seiner bogenförmig drängenden Anlage in höherer Lage wiederholt wird. Auch die beiden letzten Verse werden wiederholt. Die Singstimme bewegt sich dabei in lebhafter Bewegung auf und ab und beschreibt dann bei dem Wort „geliebet“ eine Fall Bewegung in hoher Lage mit ausgeprägter melodische Dehnung. Und am Ende des Liedes erklingt der letzte Vers noch einmal in zweifacher Wiederholung.

  • Lieber Helmut,


    es freut mich, dass mein gestriger Kurzbeitrag vielleicht Anlass für Dich war, Deine hochinteressante Reihe über die Lieder Mendelssohns fortzusetzen! "Des Mädchens Klage" halte ich für eines der erstaunlichtsen, weil düstersten, Liedern Mendelssohns. Interessanterweise schrieb er gerade in seiner Jugendzeit Lieder, die nicht in das Schema der 2-.ten Berliner Liedschule passen. Weitere Besipiele wären "Die Liebende schreibt", "Die Sterne schauen in dunkler Nacht" oder "Der Verlassene". Es ist bedauerlich, dass er sich gegen die Veröffentlichung dieser wunderbaren Lieder entschieden hat, denn sie hätten ihm die Nachrede des stets gefälligen Glückskinds vielleicht erspart. Heute haben wir diese Stücke Gott sei Dank in mehreren Aufnahmen.


    Da ich mich gerade intensiv mit Schumann beschäftige, fiel mir beim diesmaligen Hören stark auf, dass das 1835 komponierte Lied "Das Waldschloss" (auf ein Gedicht von Eichendorff) starke Anklänge an Schumanns Liederkreis Op. 39 zu haben scheint. Ist Dir vielleicht bekannt, ob es zwischen Mendelssohn und Schumann einen folgenreichen Austausch über liedästhetische Vorstellungen gegeben hat? Sehr aufgefallen ist mir auch in "Erster Verlust" (auf Goethe) die erste Zeile der zweiten Strophe "Einsm nähr ich meine Wunde". Für mich klingt diese Stelle wie ein direktes Schumannzitat (das Lied entstand 1841 nach Schumanns großen Zyklen) - es wäre das erste mir bekannte überhaupt.

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