Eigentlich ein wenig erstaunlich: Es gibt keine Quellenzeugnisse und keine kompositorischen Indizien über eine ernsthafte Auseinandersetzung des Liedkomponisten Mendelssohn mit dem Liedkomponisten Schubert. Erstaunlich ist das zunächst einmal deshalb, weil Mendelssohn das sinfonische und kammermusikalische Schaffen Schuberts sehr wohl kannte. Auch sein Liedschaffen war ihm in wesentlichen Teilen nicht unbekannt.
Mendelssohn kommt immerhin das Verdienst zu, Schuberts bis dahin unbekannte große C-Dur Sinfonie am 21. März 1839 in Leipzig uraufgeführt zu haben. Auf Initiative Robert Schumanns schickte Ferdinand Schubert die Partitur an Mendelssohn, der daraufhin Einzelstimmen daraus anfertigte, um das Werk im Orchester einstudieren zu können. Das wiederum hatte zur Folge, dass nicht nur diese Sinfonie durch Anton Diabelli im Druck veröffentlicht wurde, sondern auch Schuberts Klaviersonate in a-Moll D 784. Mendelssohn begann daraufhin seinerseits mit der Arbeit an einer – nicht vollendeten - Klaviersonate in G-Dur, die deutliche Beeinflussung durch Schubert erkennen lässt.
Warum aber dann keine Einflüsse des Liedkomponisten Schubert auf das Liedschaffen Mendelssohns?
Ich denke, dahinter steht ein fundamental unterschiedlicher liedkompositorischer Ansatz. Schuberts Lieder sind musikalischer Ausdruck einer unmittelbaren existenziellen Betroffenheit durch den lyrischen Text. Dieser verwandelt sich bei ihm in eine Musiksprache, die sich von diesem Ansatz und aus dieser menschlich-kompositorischen Quelle her zu kompromissloser musikalischer Radikalität steigern und damit die musikästhetisch-regulativen Prinzipien der Klassik hinter sich lassen konnte, - zu erfahren insbesondere in seinem liedkompositorischen Spätwerk.
Mendelssohn ist zwar ein Kind der Romantik und des Biedermeier, wie man seinem Bekenntnis, 1842 gegenüber einem Freund ausgesprochen, entnehmen kann:
„Es gibt kein Zuviel des Empfindens, und was man so nennt ist eher ein Zuwenig. All das Schweben und Schaukeln der Empfindung (…) ist kein Zuviel, denn wer empfindet, der soll so viel empfinden, als er nur immer kann, und dann womöglich noch mehr.“
Auf der anderen Seite fühlte er sich aber den Prinzipien musikalischer Klassizität verpflichtet. Kompositorisches Leitprinzip war für ihn, eine Art Brücke aus der romantischen Musik zurück in die Klassik zu schlagen, indem er sich an den klassischen Parametern des Maßes und der formalen Stringenz orientierte. Als Schüler Zelters wuchs er liedkompositorisch mit der Idee „edlen Einfalt“ auf. In vielen seiner Lieder ist die Orientierung am „Volkston“ unüberhörbar.
Hieraus ergab sich – so denke ich - für den Liedkomponisten Mendelssohn ein tiefreichender Konflikt, der sich auch auf seine Liedkomposition auswirkte.Vielleicht fehlt seinen Liedern bei all ihrer melodischen und harmonischen Schönheit jener Ton der musikalischen Unmittelbarkeit, der bei Schubert zu vernehmen ist und seine liedkompositorische Singularität ganz wesentlich begründet.