Das unerfüllte Werk

  • Lieber Forianer,


    angeregt durch den Michael Korstick-Thread im Klavierforum höre ich mich seit ein paar Tagen durch sämtliche jemals erworbene Aufnahmen der Diabelli-Variationen und stelle dabei zweierlei fest:


    Zum einen gibt es Werke, wie eben bei mir bspw. die Diabelli-Variationen, von denen ich eine durchaus erschreckende Anzahl von Aufnahmen besitze. Zum anderen aber ist nach meinem Empfinden unter all diesen Aufnahmen keine, die dem Werk auf eine wirklich befriedigende Weise, also in all ihren Facetten gerecht wird.


    Naheliegenderweise ist anzunehmen, dass die beiden Faktoren zusammenhängen, also dass so lange weiter gekauft wird, bis das Werk erschöpft scheint, vermutlich jedoch nur vorübergehend...


    Kennt Ihr dieses Phänomen? Gibt es für Euch auch Werke, die für Euch trotz verschiedenster Interpretationen immer irgendwie unerfüllt bleiben? Das soll keine grundsätzliche Frage über die Begrenztheit von Interpretationen aufwerfen, denn es gibt für mich durchaus Werke, die ich sehr schätze, für die es aber auch Aufnahmen gibt, die ihnen gerecht werden (bei mir bspw., um beim Komponisten zu bleiben, die späten Beethoven-Sonaten).


    Welche Werke sind für Euch bisher unerfüllt geblieben? Und warum? Bei den Diabelli-Variationen habe ich es schon angedeutet: ich kenne keine Aufnahme, die den extrem unterschiedlichen "Gesichtern" dieser Miniaturen gerecht wird und gleichzeitig den großen Bogen zu spannen vermag. Ein weiteres Beispiel wäre für mich Schumanns Fantasie op. 17 (mit ihren extremen, zwischen Versunkenheit und Leidenschaft hin und her springenden Polen) und oder Mahlers 6. Sinfonie...


    Wie geht es da Euch?


    Viele Grüße,
    Christian

  • Beinahe hätte ich diesen Thread übersehen (kein Wunder bei der Überfülle)


    Ja es gibt solche Werke, welche von der Interpretation scheinbar niemals richtig erfasst werden.


    In meinem Falle handelt es sich um Opern wie "Fra Diavolo" von Auber und" Il Barbiere di Sivigla" - aber es gibt sicher noch Dutzende.


    Ich bin allmählich zur Überzeugung gekommen, daß dies nicht an schlechten oder mittelmäßigen Interpretationen liegt, sondern daran, daß man an des Werk Ansprüche stellt, welche es einfach nicht erfüllen kann. Das wiederum liegt aber nicht daran, daß die Komposition "minderwertig" ist - sondern daran, daß man sich persönlich ein "Bild" zurechtgezimmert hat, welches einfach nicht realisierbar ist.


    Ein Beispiel aus einem anderen Genre sei hier erlaubt:


    Es ist sehr gut möglich in einem Buch zu schreiben:


    Ein Jüngling von überirdischer Schönheit erschien wie aus dem Nichts und erfüllte den Raum mit einem Licht, dessen Farbe unbeschreiblich ist - dergeleichen hatte X noch nie im Leben gesehen...die Luift war erfüllt von einem Ton, der alle Töne dieser Welt zu umfassen schien...


    So - und nun verfilmt das mal. Überirdische Schönheit ist nicht vorhanden in dieser irdischen welt, Farben, die es nicht gibt ditto.......


    Der Witz an der Sache ist, daß sich bei Beschreibung dieser Szene jeder etwas anderes vorstellt.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zum anderen aber ist nach meinem Empfinden unter all diesen Aufnahmen keine, die dem Werk auf eine wirklich befriedigende Weise, also in all ihren Facetten gerecht wird.


    Da liegt meines Erachtens die Spur, die es zu begehen gilt, um sich der Ausgangsfrage zu nähern.


    Stelle ich mit z.B. eines der späten Beethovenquartette geistig vor und stelle mir die Frage: welche Streichquartettformation hat das Werk so interpretiert, dass es auf befriedigende Weise allen Facetten gerecht wird?, so muss ich feststellen, dass es keine ist (und ich kenne wirklich ziemlich viele). Im Laufe vieler Jahre habe ich mir die Ausgangsfrage immer wieder gestellt; trotz vorzüglicher Interpretationen konnte ich jedoch nie feststellen: "Das ist es! So und nicht anders! Da ist alles drin!"


    Erheblich mehr Erfolg habe ich, seit ich mir eine passendere Definition von der Erfüllung des Werkes zugelegt habe: " Das Werk ist die Summe seiner Interpretationen". Mit dieser Grundlage kann ich sehr zufrieden leben und freue mich stets auf neue Einspielungen und damit Aspekte, die das Werk von einer anderen Seite beleuchten bzw. andere Aspekte hervorheben. Ebenso, wie es in der Mathematik keine größte Zahl gibt, da ich immer noch einen draufschippen kann, werde ich wohl auch bei meinem Streichquartett niemals in den Genuss kommen, es so akustisch zu vernehmen, wie es ist, sondern nur ansatzweise, woraus es besteht.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)


  • Hallo Uwe,


    "Das Werk ist die Summe seiner Interpretationen"


    - das ist ein rezeptionsästhetischer Ansatz, der mir eigentlich gut gefällt, da ja in der Tat ein Werk nur so lange existiert, wie es auch - in welcher Form auch immer - gehört und immer wieder neu entdeckt wird. Andererseits... um mal ein extremes Beispiel zu nennen, die Appassionata ist ja nicht die Summe aller unterschiedlichster Aufführungen zwischen Goulds langsamer Studio-Studie und Richters Moskauer Live-Expolsion. Dem Charakter des Werks wird Richter in Moskau sicher besser gerecht - für mich ist das eine absolut stimmige Interpretation, die das Werk auf eine extreme, darin aber sehr überzeugende Weise auslegt und auch in einem zentralen Punkt trifft - auch wenn es gewiss andere Möglichkeiten ihrer Darstellung gibt.


    Insgesamt habe ich aber den Eindruck, dass dieses Werk wie auch die meisten anderen Sonaten Beethovens großartig durchleuchtet worden sind. Aber bei einem so disparaten Werk wie den Diabelli-Variationen, der Schumannschen Fantasie und wenigen anderen geht es mir nicht so, und Dir ergeht es offenbar bei den späten Streichquartetten nicht so. Ist bei diesen Werken wirklich die Summe aller Interpretionen entscheidend? Sind da nicht zu viele mittelmäßige dabei? Ist man bei den großen, enigmatischen Werken der Musikgeschichte nicht immer mehr auf der Suche nach einzigartigen, herausragenden Leistungen als nach der Summe der Interpretationen? Zu Schumanns C-Dur Fantasie könnte man hier einiges sagen: wieviele Neuaufnahmen sind da im letzten Jahr doch erschienen (Uchida, Vogt, Harada, Biss, Uhlig, Schiff usw.). Zum Teil faszinierende Aufnahmen, gewiss, aber allen ist ihnen eins gemeinsam: die Furcht vor dem unbedingten Überschwang, und auch technisch am Ende des zweiten Satzes sind sie doch sehr zurückhaltend, ja enttäuschend. Und hier würde ich doch sagen: Die Summe seiner Interpretationen trifft das Werk eben gerade nicht, leider.


    Beste Grüße,


    Christian

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  • "Das Werk ist die Summe seiner Interpretationen"


    - das ist ein rezeptionsästhetischer Ansatz, der mir eigentlich gut gefällt, da ja in der Tat ein Werk nur so lange existiert, wie es auch - in welcher Form auch immer - gehört und immer wieder neu entdeckt wird. Andererseits... um mal ein extremes Beispiel zu nennen, die Appassionata ist ja nicht die Summe aller unterschiedlichster Aufführungen zwischen Goulds langsamer Studio-Studie und Richters Moskauer Live-Expolsion. Dem Charakter des Werks wird Richter in Moskau sicher besser gerecht - für mich ist das eine absolut stimmige Interpretation, die das Werk auf eine extreme, darin aber sehr überzeugende Weise auslegt und auch in einem zentralen Punkt trifft - auch wenn es gewiss andere Möglichkeiten ihrer Darstellung gibt.


    Insgesamt habe ich aber den Eindruck, dass dieses Werk wie auch die meisten anderen Sonaten Beethovens großartig durchleuchtet worden sind. Aber bei einem so disparaten Werk wie den Diabelli-Variationen, der Schumannschen Fantasie und wenigen anderen geht es mir nicht so, und Dir ergeht es offenbar bei den späten Streichquartetten nicht so. Ist bei diesen Werken wirklich die Summe aller Interpretionen entscheidend? Sind da nicht zu viele mittelmäßige dabei? Ist man bei den großen, enigmatischen Werken der Musikgeschichte nicht immer mehr auf der Suche nach einzigartigen, herausragenden Leistungen als nach der Summe der Interpretationen? Zu Schumanns C-Dur Fantasie könnte man hier einiges sagen: wieviele Neuaufnahmen sind da im letzten Jahr doch erschienen (Uchida, Vogt, Harada, Biss, Uhlig, Schiff usw.). Zum Teil faszinierende Aufnahmen, gewiss, aber allen ist ihnen eins gemeinsam: die Furcht vor dem unbedingten Überschwang, und auch technisch am Ende des zweiten Satzes sind sie doch sehr zurückhaltend, ja enttäuschend. Und hier würde ich doch sagen: Die Summe seiner Interpretationen trifft das Werk eben gerade nicht, leider.


    Man müsste jetzt im Grunde diverse Interpretationen durchgehen und sagen, was einen daran stört. Ich selbst gewinne ja meinen Eindruck von Werken normalerweise über Interpretationen, da ich selbst nicht musiziere und zwar die Noten mitverfolgen, mir aber keine eigenständige Vorstellung vom Werk machen kann. Es kann dann sein, dass man zB Satz x oder Variation y in einer Interpretation gelungen findet, Satz u oder Variation w dagegen in einer anderen.


    Oft ist es aber auch so, und dass ist m.E die Leistung gelungener Interpretationen (je mehr es insgesamt gibt, desto mehr mittelmäßige gibt es vermutlich) doch darin besteht, dass sie insgesamt ein schlüssiges Bild geben und interessante Aspekte herausholen. Da viele Werke im Prinzip unerschöpflich sind, können sie aber nicht alle, oft widersprüchliche Aspekte gleichzeitig herausstellen. Man kann Mozarts g-moll-Sinfonie KV 550 nicht zugleich als hochdramatisches Werk und als Beispiel "griechisch schwebender Grazie" dirigieren (In diesem Falle bin ich nicht sicher, ob letztere eine plausible Deutung des Werks ist, aber nehmen wir es mal an.)


    Ich finde gerade einige "große enigmatische Werke" relativ robust, d.h. sie sind in vielen Interpretationen überzeugend (Extrembeispiel Kunst der Fuge in diversen Bearbeitungen), wobei es natürlich auch weniger gelungene geben kann. Auch die Diabelli-Variationen. Ich kann sowohl mit der beinahe knochentrockenen Lesart Guldas etwas anfangen wie mit der sehr viel gewichtigeren Sokolovs. Eine, die sowohl den Humor des Werks herausbringt, dabei aber keine "Tiefe" schuldig bleibt, wäre zB Schnabels.


    Schumann ist vielleicht manchmal "eindeutiger" (oft aber sicher auch sehr ambivalent). Wenn man beim Mittelsatz der Fantasie den Eindruck der Vorsicht oder Zaghaftigkeit hat, ist das für mich kein interessanter alternativer Aspekt.... das muss sich sozusagen überschlagen. Während ich bei Beethoven, selbst bei Stücken, die ich mir ideal als extrem exaltiert vorstelle, mich oft auch mit "klassischeren" Lesarten anfreunden kann.


    Vielleicht bin ich aber auch kein so kritischer Hörer. Es gibt durchaus Interpretationen, die mir nicht besonders zusagen oder die mich enttäuschen. Aber dass ich nach einer "perfekten" suche und von allen enttäuscht bin, gibt es eher selten. Vielleicht am ehesten bei Werken wie Opern oder Oratorien, wo immer ein Sänger irgendwo anders besser ist (dafür der Rest schlechter).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Aber dass ich nach einer "perfekten" suche und von allen enttäuscht bin, gibt es eher selten.


    Das ist dann "der unerfüllte Hörer"
    :hahahaha:
    Naja, vielleicht sind ja die unerfüllten Werke besonders böse, da sie so viele halbvolle Hörer zurücklassen ...

  • Könnte es daran liegen, daß Beethovens Versuch, die besseren Goldberg-Variationen zu schreiben, einfach nur gründlich in die Hose gegangen ist? Daß es also gar keinen "großen Bogen" gibt?

  • Ich habe das ganz extrem bei Beethovens 7. Wobei Alfred das eingentlich schon auf den Punkt gebracht hat. Irgendwie meine ich zu wissen, dass es ein großartiges Werk ist, aber diese Großartigkeit finde ich auf keiner CD. Und dann kauft man immer weiter. Ein anderer FAll ist Bruckners 9., die ich einmal in Maastricht hörte und keine Aufnahme kam an dieses Erlebnis heran, jetzt erwarte ich von jedem neuen Kauf, dass es doch noch gelngen könnte.
    Und dann gibt es so manches Stück, Betthovens Missa Solemnis gehört dazu, von dem man immer wieder liest und hört, wie toll das ist. Nun liegt es mir einfach nicht. Ich mag halt keine Messen. - Wobei, da kann ich mich kaufmäßig gut zurückhalten.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Und dann gibt es so manches Stück, Betthovens MIssa Solemnis gehört dazu, von dem man immer wieder liest und hört, wie toll das ist. Nun liegt es mir einfach nicht. Ich mag halt keine Messen. - Wobei, da kann ich mich kaufmäßig gut zurückhalten.
    Tschö
    Klaus


    Bei dieser Messe von Betthoven schlafe ich auch immer ein.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

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  • Echt? Ich dachte immer, ich hätte da so einen Messenerfassungsgendefekt....

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Auch ich habe so meine Probleme mit Messen und Oratorien. Sosehr ich die musikalische Realisation hochachte, ja sogar liebe, aber der schwülstig-verschwurbelte religiöse Text ist mir einfach nicht zumutbar. Da höre ich weg oder wünsche mir, dies wäre auf Finnisch oder Esperanto ...


    Aber ich möchte hier auf ein anderes Problem hinweisen: Da ich Birgit Nilsson oft live erleben durfte, habe ich auch eine Vielzahl ihrer Aufnahmen im Laufe der Jahre erworben. Jedoch muß ich immer wieder feststellen, dass das ganze Stimmspektrum Birgits einfach nicht auf Konserve zu bannen ist. So großartig ihre Aufnahmen auch sind, so fehlt doch so manches, was diese Frau live geboten hat. Deshalb finde ich manche Kritik an ihr hier im Forum gar nicht so falsch, wenngleich manchmal auch sicherlich Anhänger ihrer Konkurrentinnen (Varnay, Mödl etc.) an ihr kein gutes Haar finden.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Könnte es daran liegen, daß Beethovens Versuch, die besseren Goldberg-Variationen zu schreiben, einfach nur gründlich in die Hose gegangen ist? Daß es also gar keinen "großen Bogen" gibt?


    Genau, das wird es sein! Weil das Werk so in die Hose gegangen ist, wird es landauf, landab gespielt...


    Die Diabellis unterscheiden sich viel zu sehr von den Goldbergvariationen, als dass ein direkter Vergleich irgendeinen Sinn ergeben würde. In beiden Fällen ist erstmal die Frage, was mit "großem Bogen" gemeint ist. Im Falle Bachs ist fragwürdig, ob er damit rechnete, dass die Stücke in einem durch als *ein Werk* gespielt würden. (Noch Busoni erstellte vor ca. 100 Jahren eine "Aufführungsversion", bei der viele der Stücke gestrichen werden.) Es gibt natürlich ein System (jedes dritte ein Kanon, die klare Abgrenzung der 2. Hälfte mit der "Ouverture"), aber das ist ja ziemlich abstrakt und nicht unbedingt als Steigerungsbögen innerhalb der 30 Stück zu hören (für mich jedenfalls nicht). Als "Variationen" höre ich das Stück eh nicht, weil die Melodie der Arie ohnehin nicht variiert wird und die gemeinsame Struktur Bass, Harmonieschema, Phraseneinteilung für mich auch nicht ohne weiteres zu hören ist. Die GBV höre ich mithin weit mehr als durch kaum hörbare, eher abstrakte Prinzipien vereinheitlichtes Sammelwerk von brillanten kurzen Stücken denn als Variationen eines Themas (was sie eben auch nicht sind).
    Auch bei den Diabellis ist gar nicht völlig sicher (wenn auch recht wahrscheinlich), dass Beethoven von einer kompletten Darbietung ausgegangen ist. Aber die sind, bei allen Freiheiten, eben tatsächlich Variationen von Diabellis Walzer und Melodie und andere Elemente der Vorgabe sind in vielen (wenn auch nicht allen) der Variationen ziemlich deutlich zu hören, ohne theoretischen Überbau. Diese Werk höre ich selbst viel mehr als Variationen i.e.S. Dennoch halte ich es auch hier für legitim, wenn man diesen Aspekt zurücksetzt und eben 33 fantasievolle Klavierstücke hört.
    Es gibt keine so strenge Struktur in Dreiergruppen, aber sicher könnte man gewisse Großstrukturen finden. Das wäre aber meistens eher theoretisch und nicht unbedingt offensichtlich. Eher hörbar sind "Kleingruppen" ähnlicher Variationen oder besonders herausgestellte Kontraste in der Abfolge. Deutlich und hörbar geplant ist jedoch das Ende: drei langsame Var. 29-31 in c-moll als eine Art "langsamer" Satz in der Tradition gegen Ende eines Zyklus eine langsame, stark verzierte Variation zu schalten und wohl auch als Bach-hommage (#25 der GBV), dann die Fuge #32 (wie in Beethovens Prometheus/Eroica-Var. op.35) und schließlich statt einem dacapo des Themas dessen Transformation in ein wiederum reichverziertes Menuett.

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  • Ich habe das ganz extrem bei Beethovens 7. Wobei Alfred das eingentlich schon auf den Punkt gebracht hat. Irgendwie meine ich zu wissen, dass es ein großartiges Werk ist, aber diese Großartigkeit finde ich auf keiner CD. Und dann kauft man immer weiter. Ein anderer FAll ist Bruckners 9., die ich einmal in Maastricht hörte und keine Aufnahme kam an dieses Erlebnis heran, jetzt erwarte ich von jedem neuen Kauf, dass es doch noch gelngen könnte.

    Ich glaube, dass das wieder eine andere Sache ist. Ein live-Erlebnis ist immer etwas anderes und besonderes. Was genau Dein Problem mit Beethovens 7. ist, verstehe ich nicht recht. Geht es ebenfalls um den Vergleich mit live? Oder woher hast Du die Idee der Großartigkeit und was fehlt Dir auf den CDs, die Du kennst? Anderswo wurde gerade diese Sinfonie als besonders robust und in beinahe jeder halbwegs adäquaten Interpretation mitreißend genannt.
    Es geht in diesem Thread meinem Verständnis nach eigentlich weniger um Werke, mit denen man Zugangsschwierigkeiten hat.



    Zitat

    Und dann gibt es so manches Stück, Betthovens Missa Solemnis gehört dazu, von dem man immer wieder liest und hört, wie toll das ist. Nun liegt es mir einfach nicht. Ich mag halt keine Messen. - Wobei, da kann ich mich kaufmäßig gut zurückhalten.

    Christians Punkt war aber doch gerade nicht, dass er ein Werk nicht mag. Im Gegenteil scheint es ihm ja um Stücke zu gehen, die er sehr schätzt, bei dem ihm aber keine einzige Interpretation völlig überzeugend zu sein scheint.

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  • Alfred schlägt vor:


    Es ist sehr gut möglich in einem Buch zu schreiben:


    Ein Jüngling von überirdischer Schönheit erschien wie aus dem Nichts und erfüllte den Raum mit einem Licht, dessen Farbe unbeschreiblich ist - dergeleichen hatte X noch nie im Leben gesehen...die Luft war erfüllt von einem Ton, der alle Töne dieser Welt zu umfassen schien...


    So - und nun verfilmt das mal. Überirdische Schönheit ist nicht vorhanden in dieser irdischen welt, Farben, die es nicht gibt ditto.......




    Dieses Beispiel führt m.E. in die Irre. Sprachlogisch gilt, daß man sich unter Unsagbarem auch nichts vorstellt (Farbe umfaßt immer schon das bekannte Spektrum, "nie gesehene Farben" sind ein leeres Gedankending). Eine derartige Häufung der Unsagbarkeitstopik ließe nicht allein kein Lektor durchgehen, sie ist auch schlicht unanschaulich.


    Davon ganz abgesehen, ist Alfreds Schluß, selbst wenn man die Prämisse akzeptierte, unzutreffend. Visconti kann sehr wohl seinen Tadzio im "Tod in Venedig" in ein überirdisches Licht tauchen, und Alfred soll diese angebliche Depontenzierung im visuellen Medium erstmal angemessen beschreiben, ehe er behauptet, das Unsagbare sei nicht kinotauglich. "Schönheit" ist platonisch immer schon "nicht von dieser Welt".


    Der Witz ist vielmehr, daß man sich erst dann etwas vorstellt, wenn die Offenheitsstellen der imaginären Ausmalereien auch stimulativ gefaßt werden, und zwar durch das, was man "Anschaulichkeit" nennt. Es ist eines der Geheimnisse großer Prosa, durch das Netz der Wörter im Leser eine imaginäre Welt zu evozieren. Erst von da aus ist Literatur überhaupt "verfilmbar", also in ein bildliches Kontinuum zu übersetzen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Hallo JR,


    ich konzediere, daß die Diabelli-Variationen anscheinend doch eine Art Spange zu haben scheinen, zumindest ist Deine Argumentation schlüssig.


    War mir beim Hören allerdings nicht aufgefallen...

  • "Das Werk ist die Summe seiner Interpretationen"


    Damit habe ich so meine Probleme (und meine nicht Live-Aufführungen).


    Ich nehme nun als Beispiel die "Winterreise" - ohne Zweifel ein Werk, das in vielen Interpretationen vorliegt. Aber gibt es eine Einspielung, die mich in allen Aspekten und bei allen Liedern zufrieden stellt?
    Für mich nein: Mal stimmt das Timbre des Sängers allgemein nicht, mal ebenso das Tempo, mal ist die Interpretation allgemein überemotional, also des Guten zuviel, dies gilt natürlich auch für einzelne Lieder oder Liedgruppen, mal stimmt der Klavierklang nicht, mal ist zuviel Wortbetonung und die Melodie leidet, mal hört man beim Sänger seine nichtdeutsche Muttersprache usw. - und dies in den verschiedensten Kombinationen.
    Und aus verschiedenen Einspielungen "meine Winterreise" zusammn zu stellen ist gewiß der falsche Weg, darunter geht das Gesamtkonzept einer Interpretation verloren.


    Für mich ist Fischer-Dieskau die 1. Wahl und der beste Kompromiss, auch wenn ich manche Sängerstimme bei manchen Liedern absolut für geeigneter halte oder ich mit dem Tempo eines Liedes nicht ganz einverstanden bin oder mir die Gestaltung nicht ganz zusagt.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit.: "Das Werk ist die Summe seiner Interpretationen"


    Diese These hat etwas Bestechendes an sich. Sie klingt so schlüssig. Gleichwohl habe ich ähnliche Bedenken wie zweiterbass. Natürlich wird ein musikalisches Werk immer erst in und durch die Interpretation zu realem Leben erweckt. Ansonsten existiert es ja nur in Gestalt seiner kompositorischen Faktur.


    Aber diese scheint so etwas wie ein Eigensein zu haben, in dessen Dienste die Interpretation tritt und an dem sie sich messen lassen muss. Also kann die Summe der Interpretationen immer nur einen Prozess der Annäherung sein, niemals das Werk selbst.


    Der von zweiterbass erwähnte Dietrich Fischer-Dieskau hat das auch immer so gesehen: Der Interpret hatte sich für ihn "in den Dienst des Werkes" zu stellen. Das heißt aber doch: Das Werk hat für ihn ein Eigensein. Und seine - insgesamt elf - Interpretationen der "Winterreise" verstand er als einen immer neuen Anlauf, dem Wesen dieses musikalischen Werkes näherzukommen. Niemals hätte er der These zugestimmt, dass die Summe all seiner Interpretationen der "Winterreise" dieses Werk selbst sei.

  • Da die Winterreise eigentlich für Tenorlage komponiert ist und ein Bariton immer einige Lieder transponiert singen muss, kann das m.E. allein deswegen keine "ultimative" Interpretation sein. Das ist hier noch mal ein zusätzliches Problem, dass es bei den Diabelli-Variationen oder Schumanns Fantasie so nicht gibt...

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  • Zit: "Da die Winterreise eigentlich für Tenorlage komponiert ist und ein Bariton immer einige Lieder transponiert singen muss, kann das m.E. allein deswegen keine "ultimative" Interpretation sein."

    Mit Verlaub: Das scheint mir aber ein sehr vordergründiger Aspekt zu sein, das anstehende Problem betreffend. Der musikalische Kern eines Werkes dürfte unabhängig von der Stimmlage sein, mit dem man ihn zu erfassen und interpretatorisch zu realisieren versucht.

    Hinzu kommt: Im Falle der "Winterreise" empfindet man die Baritonlage dem Werk sogar viel eher angemessen, als dies bei der "Schönen Müllerin" etwa der Fall ist.

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  • Zit: "Da die Winterreise eigentlich für Tenorlage komponiert ist und ein Bariton immer einige Lieder transponiert singen muss, kann das m.E. allein deswegen keine "ultimative" Interpretation sein."

    Mit Verlaub: Das scheint mir aber ein sehr vordergründiger Aspekt zu sein, das anstehende Problem betreffend. Der musikalische Kern eines Werkes dürfte unabhängig von der Stimmlage sein, mit dem man ihn zu erfassen und interpretatorisch zu realisieren versucht.

    Hinzu kommt: Im Falle der "Winterreise" empfindet man die Baritonlage dem Werk sogar viel eher angemessen, als dies bei der "Schönen Müllerin" etwa der Fall ist.

    Mit Verlaub: Eine Transposition einiger Lieder (nicht aller, denn manche kann der Bariton problemlos singen) ändert die Tonartenverhältnisse der Stücke, bei denen sich Schubert vermutlich etwas gedacht hat, und ist ein Eingriff, den wir bei jedem anderen Werktyp außer bei einem Liederzyklus vermutlich vollkommen indiskutabel und inakzeptabel fänden.
    Ich will natürlich nicht behaupten, dass das bei der Winterreise unzulässig ist, aber so einfach vom Tisch wischen kann man auch nicht, dass Tenorlage eben original ist, während für Bariton einiges transponiert werden muss. Und dass "man" Bariton für angemessener empfindet, finde ich eine bedenkliche Entwicklung.
    Das ist aber sicher nicht die Problematik, an die der Threadersteller gedacht hat.

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  • Zit: "
    so einfach vom Tisch wischen kann man auch nicht, "


    Schubert hatte - auch bei der "Winterreise" - keine Probleme damit.
    Aber das nur nebenbei.
    Im übrigen: Bei einem Lied spielt nicht die absolute Tonart die maßgebliche Rolle für die musikalischen Aussage, sondern die Relation der Tonarten und Tongeschlechter untereinander, ihre Rückung und Modulation innerhalb der Faktur.
    Aber auch das nur nebenbei.