Mahler-Lieder - Vol 2. - Vertonte Texte - Herkunft und Inhalt

  • Lieber Forianer, Liebe Freunde des Kunstlieds


    Der allgemeine Thread zu den Mahler-Liedern hat nun schon einige Jahre auf dem Buckel. Es wurde vorzugsweise über Interpreten geschrieben, Stimmen verglichen, Aufnahmen gerühmt und vor ihnen gewarnt.


    Mahler-Lieder - Vol 1. - Allgemeines und Interpreten


    Er wird auch in seiner bisherhigen Form weiterbestehen, hat aber soeben einen kleinen Bruder bekommen, der natürlich niemals so groß werden kann, weil das Thema ein spezifischeres ist und vielleicht auch weniger Leute interessiert. (?)


    "Vertonte, Texte - Herkunft und Inhalt " - Was soll man darunter verstehen ? Oder anders gefragt - ist es nicht ohnedies sonnenklar, woher die Texte stammen, einiges ist Eigendichtung, dazu kommen Friedrich Rückert und einige Texte aus "des Knaben Wunderhorn", einer Sammlung welche Von Clemens von Brentano und Achim von Arnim gesammelt und veröffentlicht wurde, sowie ganz weniges von heute nahezu unbekannten Dichtern.


    So weit - so gut.


    Wie aber erfolgte die Auswahl der Texte. Warum hat ein Komponist, der gemeinhin ja als Bindeglied zwischen später Romantik und beginnender Moderne gilt,, ausgerechnet Rückert gewählt ?
    Da gäbe es ja etliches von Zeitgenossen - Aber Mahlers Wahl fiel auf Vergangenes.


    Was war es, das ihn an den Inhalten so fasziniert hat. Ich finde immer wieder Todessehnsucht in seinen Lieder - oder aber zumindest die Thematisierung des Todes, wobei aber - ähnlich wie bei Schubert stets vordergründig Liebliches dazwischen gemischt wird.


    Es findet sich übrigens - betrachten wir die "Lieder eines fahrenden Gesellen" (ich ziehe die Klavierversion der orchestrierten Fassung vor) durchaus ein Thematischer Zusammenhang zwischen "Winterreise", der "Schönen Müllerin" und den "Lieder eines fahrenden Gesellen"


    Nur vordergründig angenähert oder tief empfunden ?


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es kommt mir so vor, als sei die Frage, von welchen Motiven sich ein Lied-Komponist bei der Auswahl seiner lyrischen Textvorlagen leiten lässt, bei Mahler ganz besonders kompliziert und schwer zu beantworten. Man kann sich nur herantasten, und man landet bei diesem Komponisten schneller als erwartet in den Tiefen eines komplizierten Seelenlebens.


    Ich versuche es fürs erste mal mit der für mich schwierigsten Frage dieses ganzen Komplexes:
    Warum hat Mahler aus der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" ausgerechnet diese und keine anderen Lieder für seine Vertonung ausgewählt?
    Diese Frage drängt sich ja regelrecht auf angesichts der Tatsache, dass er schließlich die Wahl hatte unter mehr als 200 Gedichten, die in Thema, Gehalt und sprachlicher Gestalt sehr unterschiedlich sind. Das "Wunderhorn" bietet schließlich ein riesiges Panorama menschlichen Lebens in lyrischer Gestaltung. Es ist ein vielfältiges Spektrum an fundamentaler Lebens- und Existenzerfahrung aus einer ländlichen, noch vorindustriellen Welt, artikuliert in einer - von den Herausgebern bearbeiteten - volkstümlich schlichten Sprache und gestaltet in meist einfacher Strophenform.
    Alles ist thematisiert: Freude, Liebe, Trennung, Einsamkeit, Schmerz, höchstes Glück und tiefstes Leid.


    Und was greift Mahler aus dieser Sammlung heraus?
    Wir wissen, wie er auf sie gestoßen ist, in der Bibliothek eines Enkels von Carl Maria von Weber nämlich. Wir wissen auch, dass er durch seine Liebe zu dessen Frau, Marion von Weber, möglicherweise inspiriert wurde.
    Jedoch, - worin gründet dieses Fasziniert-Sein durch die Wunderhorn-Sammlung letzten Endes?
    Er selbst sagt, er habe sich der Sammlung "mit Haut und Haar verschrieben", weil er dort "mehr Natur und Leben ... als Kunst" gefunden habe.
    Aber warum mündet diese Faszination ausgerechnet in diese Lieder?


    Das ist rätselhaft. Man denkt, er hätte doch heitere, von Liebe und Glück handelnde Texte aus der Sammlung auswählen können. Es gibt schließlich davon jede Menge.
    Was aber wählt er? Es sind allesamt - auch bei vordergründig harmloser Oberfläche - im Kern ihres Gehalts finstere, trostlose, deprimierende Texte, Lieder ohne jegliche Hoffnung.
    Auffällig viele Soldatenlieder gibt es. Warum eigentlich?
    Sie handeln von sinnlosem Töten und Sterben, von Gefangenschaft und Hinrichtung, von Einsamkeit im Wissen um die Unmöglichkeit eines Lebens in bürgerlicher Zweisamkeit.
    Ein gespensterhafter Totentanz ist dabei, "Revelge", eines der unheimlichsten und beängstigendsten Lieder der ganzen Liedliteratur.


    Auch außerhalb dieser soldatischen Welt gibt es keine Erlösung aus der Einsamkeit, etwa durch die Liebe zu einem anderen Menschen. Reines Gänsegeschnatter ist es, diese Erlösung aus der existentiellen Einsamkeit durch Liebe zu verkünden. Dem Einsamen und Verlorenen bleibt nur, seinen Ring in irgendeinen Fluss zu werfen und zu hoffen, dass ein anderer in finden möge.
    An Gottes Segen ist alles gelegen? Wer´s glauben tut!
    Das Gute predigen, um das Gute in die Welt zu bringen? Sinnlos, selbst wenn man es bei den Fischen probiert.
    Und sollte es einer Frau doch gelungen sein, ein kleines Leben in Familie und Zweisamkeit aufzubauen, dann stirbt ihr das Kind, weil sie gegen Hunger und Armut nicht ankommen kann, so sehr sie sich auch abmüht.


    Mahler soll dieses Lied, "Das irdische Leben", ganz besonders geliebt haben. Das sagt viel.
    Man ist ja wirklich auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen, aber es spricht alles dafür, dass die Motive für die Auswahl dieser Lieder in der Seele eines zutiefst pessimistischen, einsamen und depressiven Menschen zu suchen sind.

  • Ich kann der Argumentation Alfreds aus meiner Sicht nur zustimmen. Auch ich habe beim Hören der Mahlerschen Lieder, sei es auf CD oder im Konzert, immer die Querverbindung zu Schubert und seinen beiden Premiumzyklen gespürt, aber auch die Lieder des Schwanengesangs, insbesondere die Heine-Lieder gehören zu dem Typus, in dessen Tradition die hier angesprochenen Mahlerlieder m.E. stehen. Auch aus heutiger Sicht sind die Themen der Lieder aktuell wie eh und je.
    In meiner Sammlung habe ich vier der, so glaube ich, besten Interpretationen der "Lieder eines fahrenden Gesellen":


    1. Dietrich Fischer-Dieskau, Philharmonia-Orchestra, Wilhelm Furtwängler, London 1952;


    2. Janet Baker, Hallé Orchestra, Sir John Barbirolli, London 1967;


    3. Brigitte Fassbaender, Philharmonia Orcehstra, Giuseppe Sinopoli, London 1986;


    4. Thomas Hampson Wiener Philharmoniker, Leonard Bernstein, Wien 1988;


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Eigentlich erstaunlich. Wir haben ein „Mahler-Jahr“, gerade erst (am 18. Mai) war sein hundertjähriger Todestag, aber im Liedforum findet sich keine Reaktion auf diesen Sachverhalt. Warum eigentlich?


    Ich richte die Frage an mich selber und komme bei der Suche nach einer Antwort zu dieser selbstkritischen Erkenntnis: Liedanalyse birgt die Gefahr in sich, dass man einer Verengung der Perspektive erliegt, sich in die Struktur eines musikalischen Textes regelrecht verbeißt und nicht mehr sieht, was ringsum liegt: „Schöne grüne (musikalische) Weide“. Mahlers Todestag hätte ich jedenfalls nicht vergessen dürfen.


    Dabei ist Mahler im Kern seines Wesens ein Lyriker gewesen, und seine Lieder, vierzig an der Zahl, weisen weiter in die musikalische Zukunft, als dies bei den Liedern seines Zeitgenossen Hugo Wolf der Fall war. Weniger wegen der Kühnheit der melodischen Figuren und der Bewegungen innerhalb der Harmonik, sondern durch das, was man „Musikalisierung des Kunstliedes“ nennt. Mahler hat, viel stärker und radikaler als Hugo Wolf, das Lied zu einem Ort gemacht, an dem der Komponist seinen Gefühlen, die er als zutiefst allgemeinmenschlich und für die menschliche Existenz repräsentativ empfindet, musikalischen Ausdruck verleiht.


    Einen Gedanken möchte ich hier einbringen, der mir bei der Beschäftigung mit Mahler in den Sinn gekommen ist. Ich bringe ihn auf eine Art Schlagzeile: Gustav Mahler und Heinrich Heine. Der Liedfreund wird sich wundern und erstaunt dreinblicken. Weiß er doch, dass es kein einziges Lied von Mahler auf einen Text von Heine gibt. Aber, - ist das nicht eigentlich erstaunlich?


    Keiner der großen Liedkomponisten, die Gedichte von Heinrich Heine vertonten, und damit meine ich vor allem Schubert, Schumann, Robert Franz, Hugo Wolf, Brahms und Liszt, sind der spezifischen Eigenart der Heineschen Lyrik voll gerecht geworden. Am ehesten vielleicht noch Robert Schumann, aber auch er nicht in vollem Umfang. Immerhin hat er sich, im Unterschied zu den anderen, auch an Gedichte gewagt, in denen es ironische Brüche gibt.
    Der einzige, der wohl dazu in der Lage gewesen wäre, die ganze Bandbreite der Heineschen Lyrik kompositorisch aufzugreifen, das ist Gustav Mahler. Und der hat es nun gerade nicht getan, warum auch immer.


    Wie komme ich zu dieser These? Es besteht eine auffällige Korrespondenz zwischen der musikalischen Grundstruktur der Lieder Mahlers (und seiner Sinfonien ebenfalls) und der sprachlichen Struktur (und damit auch dem Gehalt) der Heineschen Lyrik. Man könnte sie auf die Formel bringen, die eine Aussage Heines über sich selbst liefert: „Ein großer Weltriß geht durch meine Seele.“ Dieser „Weltriß“, der das lyrische Gesamtwerk Heines prägt, ist auch bestimmend für die Eigenart der Mahlerschen Musik.

    In Heines Gedichten finden sich, nebeneinander und manchmal hart aufeinanderprallend, zarteste lyrische Bilder und schroffe, zuweilen sogar sarkastische Ironie. In Lied 3 des Zyklus „Die Heimkehr“ stehen Verse wie „Das Mühlrad stäubt Diamanten, / Ich höre sein fernes Gesumm“ und „Ich wollt, er schösse mich tot.“ Ein solch schrilles, unvermitteltes Nebeneinander fundamental konträrer, die entsprechenden Gefühlswelten musikalisch abbildender Klänge ist auch typisch für Mahlers Musik.


    Wenn man die Wunderhorn-Vertonungen unter diesem Aspekt hintereinander hört, drängt sich dieser Eindruck förmlich auf. Aber auch in einzelnen Liedern ist diese schroffe Gegensätzlichkeit zu beobachten. Zum Beispiel in „Der Schildwache Nachtlied“. Schrille militärische Klänge wechseln sich ab mit den zarten lyrischen Gesängen der Geliebten, die der Einsame auf seinem Posten zu hören meint. Und alles ist eingefangen in eine Abfolge von Dreiklängen, bei der alles gleichsam in der Schwebe bleibt.


    Dass Mahler Heines Lyrik gekannt hat, lässt sich belegen. Warum aber hat er ihn nicht vertont? Dazu habe ich bislang keine Erklärung in der Mahler-Literatur gefunden. Deshalb möchte ich mal ein wenig spekulieren.


    Könnte es sein, dass Mahler in Heine einen viel zu großen Seelenverwandten sah, als dass er ihn hätte vertonen können? Dass er lieber Zuflucht zu der scheinbar naiv-volkstümlichen Lyrik des Wunderhorns nahm, statt sich kompositorisch auf Texte einzulassen, in denen ihm seine eigene seelische Zerrissenheit begegnete?


    Und wenn es schon zeitgenössische Lyrik sein musste, dann könnte ihm doch vielleicht die ungebrochene lyrische Sprache eines Friedrich Rückert als „heilsamer“ für die eigene Seele erschienen sein. Wäre das nicht denkbar?

  • Dass Mahler Heines Lyrik gekannt hat, lässt sich belegen. Warum aber hat er ihn nicht vertont? Dazu habe ich bislang keine Erklärung in der Mahler-Literatur gefunden. Deshalb möchte ich mal ein wenig spekulieren.


    Lieber Helmut,


    ich mag ja nun nicht gerade von einer Duplizität der Ereignisse sprechen, aber,
    zufälligerweise habe ich mir in den allerletzten Tagen folgende Mahler-Sololieder angehört:
    Des Knaben Wunderhorn, Lieder eines fahrenden Gesellen, Kindertotenlieder und seine Vertonung von 5 Rückertgedichten.


    Um zu Deiner Frage zu kommen:
    Für mein Verständnis kann ich mir nicht vorstellen, dass Mahlers Ton-/Musikspache zu Heine passt. IMO geht das nicht zusammen. Ich bitte sehr um Verständnis, wenn ich das nicht näher erläutern will. Genauso ist zu begründen, wenn ich mich an diesem Thread aktiv nicht beteiligen will - ich werde ihn lesen, in der stillen Hoffnung, dabei etwas für mich Neues zu erfahren.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zweiterbass meint:


    "Für mein Verständnis kann ich mir nicht vorstellen, dass Mahlers Ton-/Musikspache zu Heine passt."


    Doch! Eigentlich tut sie das, wenn man von der Disparität in der Harmonik und der Melodik ausgeht, die Mahlers Musiksprache auszeichnet. Zudem glaube ich tatsächlich, dass eine tiefe innere Geistesverwandtschaft zwischen beiden besteht.


    Aber das soll hier jetzt nicht weiter vertieft werden.

  • aber es spricht alles dafür, dass die Motive für die Auswahl dieser Lieder in der Seele eines zutiefst pessimistischen, einsamen und depressiven Menschen zu suchen sind.


    Oder könnte/sollte/müsste man sagen: Ein Mensch mit einer (ausgeprägten?) posttraumatischen Belastungsstörung?


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Helmut hat eine interessante Frage und These aufgestellt.


    Mir fallen spontan folgende Aspekte ein: Heine war ein eloqueneter und witziger Stilist; ein interessierter Großstädter; kein Naturlyriker; ein politisch denkender und dichtender Kopf; wenn schon kein Atheist, so doch ein antiklerikaler und und agnostischer Spätaufklärer; ein moderner und gebrochener Romantiker.


    Mahler war ein Großstädter wider Willen; ein natursüchtiger Alpinist; ein zwischen Judentum und christlicher Heilslehre changierender Gottsucher; absolut kein politischer Mensch; dafür eher ein romantisch gebrochener Moderner.


    Heine hat sich noch auf seiner "Matratzengruft" dem irdischen Glück und dem weltlichen Menschendasein verschrieben. Mahler war ein Mensch mit Dyspepsie und asketischen Idealen, denen nicht zuletzt seine Ehe zum Opfer fiel. Mahler ist ein Musiker der Liebe und des Todes mit Blick auf die Erlösung. Heine ist ein Liebeslyriker des unerlösten Diesseits und des befreiten Lebens.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Es sind die tiefgreifenden Brüche in der Harmonik und der Melodik, zusammen mit den starken dynamischen Kontrasten, wie sie vor allem Mahlers Sinfonik prägen, die mich ein wenig an Heine erinnert haben. Hier ist aber nicht der Ort, darauf einzugehen.


    In Ergänzung zu meinem Beitrag möchte ich, was diese – von mir so gesehene – tiefe innere Beziehung Mahlers zu Heinrich Heine anbelangt, auf die musikalische Disparität der in den Jahren 1888/89 entstandenen „Wunderhorn-Lieder“ verweisen. Da finden sich nebeneinander solche, scheinbar harmlos-heitere Koloratur-Liedchen wie „Wer hat dies Liedlein erdacht“, satirische-lustige musikalische Skizzen wie „Lob des hohen Verstandes“ und ein solch düster pessimistisches Lied wie „Das irdische Leben“.


    Es ist die im Grunde nachromantische innere Zerrissenheit, das Entschwinden der die menschliche Existenz in ihren Zukunftsentwürfen fundamental stabilisierenden Werte und die Suche danach, was die Künstler Mahler und Heine im tiefsten Innern miteinander verbindet. Warum sonst sollte Mahler sich in fast magischer Weise zu der Wunderhorn-Sammlung hingezogen gefühlt haben.


    Eben lese ich gerade in der Mahler-Biographie von Jens Malte Fischer, dass ein Kritiker in Hannover 1952 auch einen Zusammenhang zwischen Heine und Mahler herstellt, und zwar in der "Verbindung von Naivität und Witz". Er fügt allerdings hinzu, Mahler habe "nichts von Heines westlich-kritischem Geist gehabt". Diese Meinung muss man freilich nicht teilen.

  • Hallo,


    wie geschrieben, werde ich zu Mahlers Musik kaum Stellung nehmen.


    Allerdings gebe ich nachstehend eine Zeittafel der Mahlerschen Werke mit Text, deren Daten ich aus einem LP-Album "Electrola" 1980, Fischer/Dieskau - Barenboim habe (mit * versehen), ebenso die nachstehenden Zitate "…": restliche Daten aus div. Quellen.



    " …Im Übrigen hielt er (Mahler) sich zumeist an liebenswerte gefällige, aber nicht große Dichtung (ausgenommen die Texte zur 8. Symphonie): Ein gutes Gedicht galt ihm als sich selbst vollendet und daher der musikalischen Deutung nicht zugänglich. Zweimal griff er zur Lyrik F. Rückerts, eines ausdrucksbegabten, viel gelesenen Dichters von nicht ganz erstrangiger Bedeutung; öfter aber zur Volksdichtung, die er, selbst ein geschickter Verseschmied, sich für seine musikalischen Zwecke zurechtformte, da er wusste, dass die überlieferten Texte ohnehin verderbt waren; dazu schrieb er sich auch eigene Liedtexte, die den kräftig-natürlichen Ton der Volksliedüberlieferung nachahmen."


    "Ab den 1980-Jahren schreibt er seine Lieder zwar mit Orchesterbegleitung, aber es lässt sich nachweisen, dass sie immer zuerst für Singstimme und Klavier notiert wurden (sogar die Kindertotenlieder…)."


    "Zur schöpferischen Selbstaussage kehrt er immer wieder zu dieser (böhmischen, österreichischen, ungarischen) Volksmusik als seiner eigentlichen musikalischen Heimat zurück…
    Auch die Unterteilung seiner ersten veröffentlichten Vokalkompositionen in Lieder und Gesänge, wobei die Lieder sich urbaner, dem Kammervortrag gemäßer zeigen, die Gesänge dagegen stärker im ländlichen Volkston gehalten sind."





    1878 Text von Mahler zu "Das klagende Lied" unter Verwendung eines Märchens aus der Sammlung L. Bechstein


    1880 Klavierfassung "Das klagende Lied"


    *1880 bis…
    unter "Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit"
    "Frühlingsmorgen + Erinnerung", Text R. Leander
    "Hans und Grete", Text Mahler
    "Serenade + Phantasie", Text N. Lenau
    alle für Klavier und Singstimme


    *1883 - 85 Klavierfassung "Lieder eines fahrenden Gesellen, Text Mahler


    *1887 - 90 unter "Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit"
    9 Gedichte aus "Des Knaben Wunderhorn"
    "Um schlimme Kinder.., Ich ging…, Aus! Aus!, Starke Einbildungskraft, Zu Straßburg…, Ablösung…, Scheiden…, Nicht Wiedersehen, Selbstgefühl"
    alle für Klavier und Singstimme


    *1891 - 96 Orchesterfassung "Lieder eines fahrenden Gesellen"


    *1892 - 1901 erst Klavierfassung, dann Orchesterfassung 12 "Lieder aus des Knaben Wunderhorn"


    1893 + 1898 Orchesterfassung "Das klagende Lied"


    *1901/02 Fünf "Rückert-Lieder"


    1901 - 1904 "Kindertotenlieder", Text Rückert


    1906 "Symphonie der Tausend", Text Goethe


    1907/08 "Das Lied von der Erde", Text Mahler unter Verwendung der "Chinesischen Flöte" von H. Bethge



    Aus den Texten in Verbindung mit den biographischen Daten Mahlers mag sich Jeder sein eigenes Bild machen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Bei Mahler stellte sich mir die Frage: Warum hat er gerade zu dieser Art von Dichtung gegriffen, die er zur Grundlage seiner Lieder gemacht hat? Warum zum Beispiel zu den Wunderhorn-Liedern? Warum nicht zu Clemens Brentanos Lyrik selbst? Warum zu Rückert und nicht zu Heine?


    Ich habe versucht, eine Antwort darauf zu geben. Mir scheint, dass es bei Mahler so etwas wie eine Affinität zu in sich möglichst ungebrochener Lyrik gibt. Mit „ungebrochen“ meine ich eine – aus Mahlers Sicht – möglichst große Nähe zu dem, was er „die Quelle aller Poesie“ nannte. Eine Lyrik, deren Metaphorik in einem hohen Grad an Reflexion gründet und deshalb in sich komplex ist, erfüllt diese Bedingung nicht.


    In einem Brief an den Kritiker Ludwig Karpath (März 1905) schreibt er zum Thema „Wunderhorn-Poesie“ u.a.: „Etwas anderes ist es, daß ich mit vollem Bewußtsein von Art und Ton dieser Poesie (die sich von jeder anderen Art „Literaturpoesie“ wesentlich unterscheidet und beinahe mehr Natur und Leben – also die Quellen aller Poesie – als Kunst genannt werden könnte) mich ihr sozusagen mit Haut und Haar verschrieben habe.“

    Heinrich Heine wäre nach diesem Zitat für Mahler ganz sicher unter die Kategorie „Literaturpoesie“ gefallen. Im Grunde bestätigt diese Erklärung, die Mahler selbst für seine Hinneigung zur Wunderhorn-Sammlung gibt, meine These: Die Lyrik Heines – die er sehr wohl gut kannte! – wäre für Mahler in ihrer inneren Gebrochenheit seinem eigenen künstlerischen und menschlichen Wesen viel zu nahe gewesen, als dass er in der kompositorischen Auseinandersetzung mit ihr so etwas wie eine innere Befreiung und Erlösung gefunden hätte.


    Hier hätte er eben das nicht gefunden, was er in den Wunderhorn-Liedern fand: Die große Nähe zur „Quelle aller Poesie“. Es ging Mahler eben nicht um die Frage, ob ein Gedicht der musikalischen Deutung zugänglich ist oder nicht, sondern um die ganz andere: Ob es Ansatzpunkte dafür bietet, das, was er selbst zu dem Thema des Gedichts empfindet, mit seinem musikalischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen.


    Ich würde Mahler mit dem etwas unscharfen Ausdruck „Musikalischer Fortdichter lyrischer Poesie“ charakterisieren. Ich glaube, dass man damit seinem Wesen als Lied-Komponisten durchaus gerecht wird.


    Im Grunde ist dies Ausdruck einer Grundhaltung, die sich bei den Liedkomponisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr durchsetzte. Sie führte zu dem Phänomen, das man „Musikalisierung des Kunstliedes“ nennt. Der lyrische Text ist dabei nicht mehr Gegenstand einer „Vertonung“, sondern er wird zum Impulsgeber für die musikalische Artikulation dessen, was der Komponist in seinem je eigenen subjektiven Fühlen, Denken und Empfinden zum Ausdruck bringen möchte.

  • Der lyrische Text ist dabei nicht mehr Gegenstand einer „Vertonung“, sondern er wird zum Impulsgeber für die musikalische Artikulation dessen, was der Komponist in seinem je eigenen subjektiven Fühlen, Denken und Empfinden zum Ausdruck bringen möchte.


    Hallo,


    Mahler vertont also die fremden Texte nicht, sondern benutzt sie, um eigene Vorstellungen usw. zu vertonen. (Ich weiß inzwischen, dass Helmut den Begriff "Vertonung" als ungenau bezeichnet, wofür viel spricht; ich verwende ihn als gängige, bekannte Formulierung für "Außermusikalisches in Musiksprache umsetzen".)



    Zu Helmuts Meinung passt sehr gut
    - und ich zitiere nun aus meinem Beitrag Nr. 10 und lege Wert darauf zu erklären, dass nicht ich mich zitiere, sondern ein Zitat aus o. g. Beitrag z. T. zitiere:



    "...öfter aber zur Volksdichtung (griff), die er, selbst ein geschickter Verseschmied, sich für seine musikalischen Zwecke zurechtformte, da er wusste, dass die überlieferten Texte ohnehin verderbt waren; dazu schrieb er sich auch eigene Liedtexte, die den kräftig-natürlichen Ton der Volksliedüberlieferung nachahmen."


    Dazu würde sich auch gut einfügen, dass die ersten zwei und sein letztes textbasiertes(n) Werk(e) auf eigenen Texten beruht und er für das "Klagende Lied" ein Märchen zur Vorlage nahm und beim "Lied von der Erde" auf chin. Texte in der Übertragung von H. Bethge zurück griff um sie "für seine musikalischen Zwecke" zu verwenden.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Natürlich vertonte Mahler auch jede Menge "fremde Texte". Die Sache ist ein wenig komplizierter, und ich habe versucht, das darzustellen. Mahler nahm den lyrischen Text als Inspiration zur musikalisch-kompositorischen Expression, und zwar der Expression der Empfindungen, die der lyrische Text in ihm aulöste.


    Notfalls griff er in den lyrischen Text ein oder setzte ihn sogar auf der sprachlichen Ebene fort, weil die innere Logik des des musikalischen Entwurfs ihn dazu nötigte. In der zweiten Symphonie kann man das hören, wenn er Klopstock sozusagen lyrisch-musikalisch fortschreibt.


    Es geht, und darauf kommt es mir hier an, um die Grundhaltung des Komponisten dem lyrischen Text gegenüber. Mahler ist unter diesem Aspekt weit über die Komponisten des im spezifischen Sinne romantischen Klavierliedes hinausgegangen. Er hat die Musikalisierung des Kunstliedes sozusagen zu Ende geführt. Nicht ohne Grund sind viele seiner Lieder a priori als Orchesterlieder komponiert. Ich werde später im Thread "Sprache und Musik im Lied" auf diese Sache noch näher eingehen.

  • Vielleicht kann man sagen, daß Mahler etwa in den "Liedern eines fahrenden Gesellen" thematisch in die Nähe der Dichterliebe gerät. "Wenn mein Schatz Hochzeit macht" ist ja nicht weit von "Das ist ein Flöten und Geigen" entfernt.


    Und so wie Schumanns widerborstiger Albtraum-Walzer auf dieses Heine-Gedicht klingen ja manche von Mahlers Scherzo-Passagen. Aber bereits die Texte der o.g. Stücke unterscheiden sich - wo Heine noch die Engelein "schluchzen und stöhnen" läßt, gibt Mahler der Sentimentalität breiten Raum. Das erste der Gesellen-Lieder liest sich wie aus Wunderhorn-Phrasen zusammengesetzt; "Ach! Wie ist die Welt so schön!" steht nahe bei "Des Abends wenn ich schlafen geh´" - eigentlich macht nur seine Zusammenhangslosigkeit den Text erträglich.


    Musikalisch ist es ein Stück von böhmisch-folkloristischer Einfärbung, einem gewissen Zug ins Rhapsodische, damit verbunden Dumka-ähnlichen Tempowechseln und vor allem ein Stück schneidender Kontraste. Die mehr starren als grellen Tanzmusik-Einsprengsel unterbrechen den musikalischen Fluß (auch durch die unregelmäßigen Tempi); doch die Weise des Gesellen entfaltet sich als rührende Trauer und nostalgische Evokation verlorenen Glücks.


    "Geh ich mein Kämmerlein, dunkles Kämmerlein" - solche Worte wollen Mitgefühl wecken, verraten Selbstmitleid in einer Art poetischer Kindersprache und geben Mahler Raum, eine ganz ernst gemeinte Schwermut kindlicher Todtraurigkeit Musik werden zu lassen.


    Wer dächte bei solchen Worten nicht an den rührenden Diminutiv-Ton mancher Rückert-Gedichte ("Wenn dein Mütterlein"), der bei Mahler ungebrochen vertont wird. Die Würde, die Mahler dem Sentimentalen zurückerstattet, ist besonders erstaunlich bei diesem Komponisten böswilligster Stil-Klitterungen. Das "Urlicht" aus der Zweiten Sinfonie gehört ebenso hierher wie Vieles aus dem "Lied von der Erde", die "kleine Lampe" des "Einsamen im Herbst" ebenso wie "die liebe Erde" im "Abschied".


    Anders aber als etwa Brahms, der in den Volksliedton seiner zahllosen Liebesunglücks-Lieder den ganzen aufbegehrenden Schmerz und resiginierenden Verzicht seines einsamen Lebens zu legen wußte, scheint Mahler mehr daran interessiert, sich durch derlei Texte zu einer Musik von geradezu entwaffnender Naivität zu veranlassen. Wie eine Insel unzerstörbarer Innigkeit ruht die Gelegenheit solcher Musik im urvertrauten Ton der "Wunderhorn"-Gedichte, in der bisweilen ein wenig gewollten Schlichtheit Rückerts, im falschen chinesischen Porzellan der Bethge-Übertragungen.


    Den Abstand zu Heines Sprache kann man vielleicht am besten ermessen, wenn man sein meisterhaft komisches spätes Gedicht "Himmelfahrt" (1853/54) heranzieht. Es endet mit der unschlagbaren ironischen Ermahnung durch Petrus:


    Doch apropos!
    Begegnet dir von ungefähr
    Der liebe Gott, und fragt dich: woher
    Du seiest? so sage nicht aus Berlin,
    Sag lieber aus München oder aus Wien.


    Mahler wählte ein thematisch verwandtes, aber eben in der satirischen Intention weniger eindeutiges Wunderhorn-Gedicht als Finale seiner Vierten Sinfonie. Und man hat wohl Recht, wenn man konstatiert, daß Mahler diese satirische Intention der auch von Goethe bewunderten "Deutschen Cockaigne" geradezu umkehrt: Er feiert nicht im Gewand des Geistlichen das Weltliche, sondern läßt die Textsignale des Übersinnlichen mit allen Heiligen Musik werden. So wird aus dem Stück ein kindliches Gleichnis des Paradieses, in das die Musik Mahlers uns zu entführen vermag.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Der Begriff „Musikalischer Fortdichter“, den ich für die spezifische Eigenart Mahlers im Umgang mit lyrischen Texten verwendet hatte, holpert zwar sprachlich ein wenig, aber er scheint mir durchaus treffend zu sein. Ich möchte ihn hier noch ein wenig konkretisieren, damit er nicht allzu abstrakt und damit nichtssagend bleibt.


    Mahler ist in einer sehr eigensinnigen Weise mit der Lyrik umgegangen, die er zur Grundlage seiner Kompositionen gemacht hat. So hat er zum Beispiel in Rückerts Gedichte eingegriffen, und er hat in seiner Zweiten Symphonie Klopstocks Lyrik auf seine Weise „fortgedichtet“. Auch die Gedichte aus „Des Knaben Wunderhorn“ hat er da und dort nach seinen Vorstellungen und musikalischen Bedürfnissen sprachlich umgestaltet.


    An einem Beispiel möchte ich meinen Begriff des „musikalischen Fortdichters“ konkretisieren. In der Wunderhorn-Sammlung fand er folgenden Text vor:


    Wann mein Schatz Hochzeit macht,
    Hab ich einen traurigen Tag:
    Geh ich in mein Kämmerlein,
    Wein um meinen Schatz.


    Blümlein blau, verdorre nicht,
    Du stehst auf grüner Heide;
    Des Abends, wenn ich schlafen geh,
    So den ich an das Lieben.


    Was Mahler in seinen „Liedern eines fahrenden Gesellen“ daraus gemacht hat, ist bekannt und muss deshalb hier nicht abgedruckt werden. Aber ein wenig interpretiert werden soll es. Mahler zeigt in seiner „Fortdichtung“ dieser Wunderhorn-Verse eine seiner für ihn höchst typischen Fähigkeiten: Er kann sich so intensiv in einen lyrischen Text einfühlen, dass er sich dessen sprachlichen Ton anzuwandeln vermag. Das befähigt ihn nicht nur, diesen in dem ihm eigenen sprachlichen Gestus fortzusetzen, - das wird auch bei ihm ganz offensichtlich die musikalische Quelle für die daraus entstehende Lied-Komposition. In dieser Fähigkeit scheint mir Mahler durchaus ein Sonderfall in der langen Reihe der bedeutenden Liedkomponisten zu sein.


    In diesem Fall lässt er sich durch die vorgefundenen Wunderhorn-Verse zu einer Fortdichtung anregen. Aber diese erfolgt, so sehr der sprachliche Gestus der Vorlage beibehalten wird, aus ganz und gar musikalischen Motiven heraus. Und dabei wird der Vorlage, so ganz nebenbei, ein neuer Akzent verliehen. Man kann das am letzten Vers erkennen. Aus dem Wort „Lieben“, das hier die ehemalige Geliebte meint, macht Mahler „Leide“. Und darum geht es ihm musikalisch. Er will in diesem Liederzyklus den Gefühlskomplex „Leiden“ musikalisch voll ausschöpfen.


    Das „Blümlein blau“, dem im Wunderhorn gleichsam mahnend zugerufen wird: „Verdorre nicht, denn du stehst doch auf grüner Heide“, wird bei Mahler zum Anlass, zu rufen: „Singet nicht! Blühet nicht! / Lenz ist ja vorbei! / Alles Singen ist nun aus!“. Es geht ihm also um weitaus mehr als um das, was er in den Wunderhorn-Versen vorfand. Es geht ihm um die Intensivierung des Gefühls, um das sprachliche und musikalische Ausloten all dessen, was sich emotional um das Zentrum dieses Liedes rankt: Die verlorene Liebe.


    Er riskiert dabei, eben weil er im Kern seiner Kreativität musikalisch und nicht sprachlich-lyrisch denkt, solche Verse, die ihn als einen wirklich lyrischen Dichter schlechterdings diskreditieren und völlig unmöglich machen würden, wie:


    „Vöglein süß! Vöglein süß!
    Du singst auf grüner Heide!
    Ach! Wie ist die Welt so schön!
    Ziküth! Ziküth!“


    Das ist, ganz ohne Zweifel, miserable Poesie. Aber Mahler macht ganz große Musik daraus. Wie ist das möglich? Ganz einfach so: Er ist kein wirklich sprachlicher Fortdichter von vorgefundener Poesie, sondern ein musikalischer. Er ist ein moderner Liedkomponist, für den lyrische Sprache nicht Herausforderung ist, ihrer je eigenen und ganz spezifischen sprachlichen Struktur musikalisch gerecht zu werden. Das „Ziküth“ brauchte er für die musikalische Figur, die an dieser Stelle im Lied erklingt und dort eine klangliche Funktion erfüllt.


    Die lyrische Sprache als autonome Herausforderung, - das war einmal, - bei Schubert und Schumann oder Hugo Wolf zum Beispiel. Für Mahler ist lyrische Sprache nicht ein genuin Seiendes, dem man sich als Komponist musikalisch anverwandeln muss und das man in seinem Sosein zu respektieren hat. Nein, - sie ist ganz einfach Teil der Musik, die er machen will, um der Fülle seines seelischen Lebens Ausdruck zu verschaffen. Und wenn es notwendig ist, dann wandelt man sie eben im Sinne dieses Ausdrucksbegehrens um oder setzt sie ganz einfach fort.


    Das romantische Kunstlied mit seinem inneren Gleichgewicht von Sprache, Singstimme und Klavier gibt es nicht mehr. Der Prozess der Musikalisierung hat es aufgelöst und historisch verschwinden lassen.

  • Wenn man die Verszeilen 1 + 2, 4 + 5, 6 + 7 des 1.Liedes "eines fahrenden Gesellen" liest, dann ist jeweils in der 2. Zeile nochmals extra herausgestrichen was gemeint ist, für mich "dick aufgetragen", in der textlichen Wirkung auf mich sentimental.
    In der Verzeile 3 hat er auch nicht einen traurigen Tag, sondern "s(m)einen", eine Selbstinszenierung wie bei
    "Des Abends wenn ich schlafen geh'
    Denk' ich an mein Leide,
    An mein Leide!"


    Das klingt textlich für mich - ich spreche nicht von Musik - wehleidig, larmoyant; solchen Text findet man anders wo? (Für mich ist es keine Frage, wen Mahler mit dem "fahrenden Gesellen" meint.)


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die innere Nähe Mahlers zu Heinrich Heine ist, so es sie denn überhaupt gibt und ich hier keinem Hirngespinst verfallen bin, nicht auf der Ebene der Sprache zu suchen. Sie findet sich in der künstlerischen und menschlichen Grundhaltung, und sie schlägt sich in der spezifischen Struktur des jeweiligen künstlerischen Werkes nieder.


    Im Falle Mahlers heißt dies: In der harmonischen und melodischen Disparität seines sinfonischen Werkes und in den starken, die emotionalen Extreme voll auslotenden Kontrasten seine Liedwerkes. Betrachtet man unter diesem Aspekt die zwischen 1887 und 1890 entstandenen Vertonungen von Texten aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, so fällt diese extreme Bandbreite zwischen harmloser Jovialität und tiefster Melancholie, zwischen volkstümlich-lyrischer Gesanglichkeit und düsterer, drastischer Dramatik unmittelbar auf.


    An einem Beispiel soll das gezeigt werden. Hintereinander finden sich da die Lieder „Wer hat dies Liedlein erdacht?“, „Das irdische Leben“ und „Des Antonius von Padua Fischpredigt“. Das letztere atmet in seinem Geist tiefen Sarkasmus, der aus der Verzweiflung über die Unmöglichkeit resultiert, das Wesen und Verhalten des Menschen mit Worten und über Einsicht verändern zu können. Das vorangehende ist von tiefem Mitgefühl mit dem menschlichen Elend, der Bedingtheit der menschlichen Existenz durch die Anforderungen seiner Physis durchdrungen. Beides ist Gegenstand der künstlerischen Reflexion des Komponisten Mahler. Und derlei Gedanken beschäftigten auch den Dichter Heine und prägten ihn in seiner menschlichen und dichterischen Grundhaltung.


    1. Das Lied „Das irdische Leben“ ist geprägt von einer hastigen, regelrecht dahinjagenden Sechzehntelbewegung in es-Moll im Klavier, die schon in der Einleitung aufklingt.


    „Mutter, ach Mutter, es hungert mich.
    Gib mir Brot, sonst sterbe ich!“
    „Warte nur, warte nur, mein liebes Kind!
    Morgen wollen wir ernten geschwind!“ …


    Die melodische Linie weist eine durchgehende, immer wiederkehrende Grundfigur auf: Zunächst die abfallende Linie eines Klagetons, und danach ein drängendes Sich-Aufbäumen in hohe Lagen. Das „Warte nur…“ ist mit einfachen, den Versinhalt unterstützenden Tonschritten unterlegt, so dass die Singstimme in beruhigend-beschwörendem Ton deklamieren kann.


    Dem Hilferuf des Kindes verleiht Mahler große Eindringlichkeit dadurch, dass er die melodische Linie der Singstimme große Sprünge in Oktav- und Dezimenintervallen machen lässt. Beim letzten Vers erfolgt bei dem Wort „Totenbahr“ sogar noch eine fast an die Schmerzgrenze rührende harmonische Rückung im Fortissimo.


    2. „Des Antonius von Padua Fischpredigt“
    Antonius zur Predigt
    Die Kirche find´t ledig.
    Er geht zu den Flüssen
    Und predigt den Fischen…“


    Der Text allein ist schon eine böse Abrechnung mit dem franziskanischen Glauben an die aus ihrer Kreatürlichkeit resultierende Ansprechbarkeit aller Geschöpfe. Mahler greift das musikalisch auf sehr drastische Weise auf.


    Schon die Klaviereinleitung mit ihren leeren Quartsprüngen von Einzeltönen im Klavierbass und die in sie einfallenden mechanisch leeren Sechzehntel im Diskant suggerieren musikalisch, worum es in diesem Lied geht: Um den vergeblichen Kampf gegen die Natur der Wesen, die ihren eigenen Gesetzen folgt.


    Die melodische Linie der Singstimme ist frei von allen kantablen Zügen und deklamiert in wortbezogen nüchternem Ton den Vorgang, um den es hier geht. Der sarkastische Ton, den dieses Lied aufweist, kommt dadurch zustande, dass das Klavier in den Pausen der Singstimme immer wieder deren gerade gemachte Aussagen mit leiernd mechanischen Sechzehntel-Figuren kommentiert.


    In diesem Sinne wirkt auch der eingeschobene, fast idyllisch eingefärbte G-Dur-Teil des Liedes. Denn diese Idylle wird durch die nachfolgenden, recht grob strukturierten Moll-Passagen des Liedes als unrealistisch demaskiert. Das „Die Predigt hat g´fallen“ wird mit solch einfachen Tonschritten deklamiert, dass dem sarkastischen Grundton des Liedes an seinem Ende noch einmal ein besonderer Akzent verliehen wird.

  • Die "Fischpredigt" habe ich schon als 25-jähriger in eine Toncollage eingebaut - ein herrliches Lied vom Text und der Mahlerschen Vertonung. Der Text gehört zu den Fremdtexten - mir ging es um die eigenen Texte von Mahler.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat zweiterbass: "...mir ging es um die eigenen Texte von Mahler. "


    Mein letzter Beitrag war keine Reaktion auf den Beitrag Nr.16. Aus diesem Grund geht dieser Hinweis an dem vorbei, worum es mir ging - und geht.

  • Mahlers Lieder auf die Gedichte aus „Des Knaben Wunderhorn“ bieten, wenn man sich ihnen in ihrer ganzen Breite der Themen und Inhalte zuwendet, eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit, dem Menschen und Komponisten Mahler ein wenig näher zu kommen. Denn es ist kein Zufall, dass er sich von dieser Sammlung wie magisch angezogen fühlte. Insgesamt zwölf Jahre lang haben ihn diese Gedichte als Komponisten begleitet, und man kann die Lieder, die daraus entstanden sind, unter spezifisch musikalischen Aspekten in Gruppen gliedern. Das ist hier aber von geringerem Interesse.


    Viel wichtiger scheinen mir die Motive, die Mahler dazu bewogen, sich dieser Sammlung kompositorisch zuzuwenden, - und das nicht nur so nebenbei, sondern mit größter Intensität und innerer Anteilnahme. Einerseits sah er in der Lyrik, die er dort vorfand, eine Emanation aus der „Urquelle aller Poesie“, wie er sich in dem bereits oben erwähnten Brief an Ludwig Karpath vom März 1905 ausdrückte. Das ist eine etwas naive Vorstellung, denn er hätte eigentlich wissen können, dass diese Sammlung von Clemens Brentano und Achim von Arnim ein durch und durch hochartifizielles Produkt war. Den Glauben an die tatsächliche Existenz dieser poetischen „Urquelle“ schien er sich aber nicht nehmen lassen zu wollen.


    Es gab aber noch einen anderen Sachverhalt, der ihn dazu bewog, sich mit dieser Sammlung von Gedichten ganz intensiv auseinanderzusetzen: Es war die darin vorfindbare „Polyphonie“ der menschlichen Gefühle und des Wesens der menschlichen Existenz schlechthin. Der Mahler-Biograph Jens Malte Fischer erwähnt eine Episode, die in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich ist. Im Sommer des Jahres 1900 besuchte Mahler ein Volksfest in der Nähe des Wörthersees, und angesichts der bunten Fülle und des Neben- und Ineinanders von Jahrmarktstreiben, Schießbuden, Blasmusik und Kaspertheater rief er aus:


    Hört ihr´s! Das ist Polyphonie und da hab ich sie her! (…). Gerade so, von ganz verschiedenen Seiten her, müssen die Themen kommen und so völlig unterschieden sein in Rhythmik und Melodik (alles andere ist bloß Vielstimmigkeit und verkappte Homophonie): nur dass sie der Künstler zu einem zusammenstimmenden und –klingenden Ganzen ordnet und vereint.“

    „Polyphonie“, so wie Mahler sie definiert, ist auch das, was die Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ aus seiner Sicht verkörperte, poetische Polyphonie eben. Und zu dieser fühlte er sich hingezogen, eben weil er sie wie ein poetisches Echo auf seine tiefinnere Haltung als Komponist und Mensch empfand. Hierin meinte ich ja eine gewisse Nähe zu Heine zu sehen. Es besteht also durchaus Grund und Anlass, dass ein Liedfreund sich diesen Liedern Mahlers intensiv hörend zuwendet.

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  • In meinem zweiten Beitrag zu diesem Thread hatte ich Mahler einen Lyriker par excellence genannt. Heute habe ich die Bestätigung für die Richtigkeit dieser Feststellung bekommen.


    Einen Tag lang habe ich mich mit dem Lied „Der Schildwache Nachtlied“ beschäftigt. Und nun werde ich die melodische Linie nicht mehr los, die auf den Versen liegt: „Will deiner warten im Rosengarten / Im grünen Klee“.
    Dabei steigt sie auf geradezu abenteuerliche Weise durch Tonarten, die weitab voneinander im Quintenzirkel liegen. Und dennoch meint man, dass alle ihre Tonschritte auf wunderliche Weise zusammengehören und eine innere Einheit bilden.


    Ist das vielleicht eines der Geheimnisse, die die Faszination des Liedkomponisten Mahler ausmachen?

  • Dieses Lied gehört zur Gruppe der „Soldatenlieder“ Mahlers. Durchgängig haftet diesen etwas Grelles und zugleich Gespenstisches an, eine eigentümliche Mischung aus Realismus, die Welt des Militärs betreffend, und Phantastik. Mahlers Verhältnis zu diesem Themenkomplex bleibt – mir jedenfalls – ein wenig rätselhaft. Was daran hat ihn so angezogen? Man möchte meinen, dass er von großer Hellsichtigkeit war, denn alle diese Lieder enthüllen die soldatische Welt als eine der Grausamkeit, der Unmenschlichkeit und des Leides. Hat Mahler die großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts vorausgeahnt?


    Das Gedicht „Der Schildwache Nachtlied“ ist ein gespenstischer Dialog, den ein Soldat, der nächtliche Wache zu halten hat, mit der geisterhaften Erscheinung eines Mädchens führt, das ihn von seinem Posten weglocken und damit zu einer Pflichtverletzung verführen möchte. Er ist traurig, kann nicht fröhlich sein, weil er wachen muss, während alle anderen schlafen. Das Mädchen, das natürlich eine Ausgeburt seiner geheimen Wünsche und Phantasien ist, gaukelt ihm vor, es würde „im Rosengarten“ auf ihn warten, „im grünen Klee“, Inbegriff einer positiven Gegenwelt zu der, in der er zu leben und zu dienen hat.


    Er widersteht dieser Verführung mit so heftigem Trotz, dass man zu spüren meint, wie nahe sie ihm kommt. Mit höhnischem Sarkasmus quittiert er ihren Spruch: „An Gottes Segen ist alles gelegen“:


    „Wer´s glauben tut, ist weit davon.
    Er ist ein König, er ist Kaiser.
    Er führt den Krieg.
    Halt! Wer da! Rund!
    Bleib mir vom Leib!“


    Mahler gelingt es in bewundernswerter Weise, sowohl die Atmosphäre einsam nächtlicher Stille als auch die von Kampf, Lärm und Tod geprägte Welt des Soldaten musikalisch einzufangen und in diesem Lied so nebeneinander zu stellen, dass sie einander nicht stören, sondern auf wundersame Weise zusammenzugehören scheinen.


    Musikalisch geprägt wird das Lied von einem weit in den Quintenzirkel ausgreifenden, oft abrupt wirkenden Wechsel der Tonarten und einer Art Kadenz, die im Orchester als Grundmotiv immer wieder aufklingt und die Tonarten E-Dur, C-Dur, A-Dur und e-Moll umfasst.


    Der Welt des Soldaten sind schroffe Tonschritte zugeordnet, die gleich in der melodischen Linie des ersten Verses aufklingen, von Trompetenstößen und Paukenschlägen untermalt: „Ich kann und mag nicht fröhlich sein“. Den folgenden Versen („Wenn alle Leute schlafen…“) ist ein deutlich akzentuierter Marschrhythmus unterlegt. Trommelwirbel markieren ihn musikalisch. Das „Muß traurig sein“ läuft melodisch in einem weiten, von Moll-Harmonien getragenen Bogen aus. Der Marschrhythmus ist verklungen.


    Von expressiv lyrischer Atmosphäre geprägt sind hingegen die Gesangspassagen des Mädchens, die sich in fließend melodischer Linie entfalten, - ganz im Gegensatz zu denen des Soldaten. Holzbläserklänge leiten sie ein. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich in ruhigen Bögen, die nur vorübergehend in Moll-Regionen ausgreifen, aber immer wieder in die Dur-Harmonik zurückkehren, die ihren Charakter prägt. Bei den Bildern vom „Rosengarten“ und vom „grünen Klee“ steigert sie sich auf verführerische Weise zu großen Höhen, aus denen sie sich nur sehr langsam wieder herabbewegt.


    Bevor der Soldat auf diese Verführung reagiert, fallen harte Paukenschläge brutal in die Holzbläserklänge ein, die sich an den Gesang des Mädchens anschließen. Mahler setzt wieder alle musikalischen Mittel ein, um die grausame Härte der Soldatenwelt klanglich expressiv werden zu lassen. Marschrhythmus dominiert die melodische Linie, Blechbläser und Beckenlärm fallen in sie ein.


    Auf wunderbare Weise fängt Mahler dann aber die nächtliche Stille ein, in der sich die melodische Linie der Schlussverse entfaltet. Harfenklänge leiten das ein, Streicherklänge tragen die Stimme und füllen ihre Pausen aus. Beeindruckend die zunächst absteigende und dann nach oben sich erhebende melodische Linie dieser Verse. Bei dem Wort „Mitternacht“ trägt jede Silbe einen lang anhaltenden Ton.


    Zweimal wird dieses Wort wiederholt. Und dann klingt die melodische Linie der Singstimme auf zwei nicht enden wollenden, hohen, in einer Stufe fallenden Tönen auf den Silben des Wortes „Feldwacht“ aus. Pianissimo.

  • Zitat:


    Hat Mahler die großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts vorausgeahnt?


    Hätte ich früher blind unterschrieben. Der Adorno-Ansatz. Mahler, unterwegs zu Wozzeck. - Heute setze ich ein paar Fragezeichen. Zum einen komponiert Mahler zu einer Zeit, in der das Militär sich noch eines weitgehend ungebrochenen hohen Ansehens erfreute. Zum anderen war das Militärische mit seinem Gepränge etwas zutiefst Alltägliches, nicht so herausgestellt an irgendeinen Pranger, noch ohne Gesichtsverlust. Der WK I hatte eben noch nicht stattgefunden, George Grosz "Die Stützen der Gesellschaft" noch nicht gemalt.


    Als Bombast-Karikatur paßt Mahlers VI. ohnehin besser auf die Preußische, die Wilhelminische Linie als auf Leutnant Gustl. - Vielleicht sollte man mehr die Beethoven-Tradition herausstellen, die Eroica, das militärische Vergrößerungsglas fürs heroische Subjekt. Mehr als habe Mahler ein wenig lustvoll-masochistisch große Untergangsszenarien für sich selbst entworfen. Die IX. ist ja zuletzt auch ein eher intimes Sterbegemälde.


    Ich glaube, kurz gesagt, so ganz die Massen nicht, die Adorno hier mitmarschieren hört. Das ist ein bißchen wie bei Kafka, in dem man ja auch einen historischen Seismographen erkennen möchte. Der aber vielleicht doch nur ein schräger Subjektivist gewesen ist. Ich hatte damals ja zuletzt auch nur Angst vorm Kommiß - eine zugegebener Maßen sehr tiefe und persönliche Abneigung. Gerade meine aus dieser Zeit datierende Liebe zu Mahlers Marschmusiken ist mir heute etwas verdächtig.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • "Ach Knabe, du sollst nicht traurig sein,
    Will deiner warten,
    Im Rosengarten,
    Im grünen Klee."


    "Stehst du im Feld, so helf dir Gott,
    An Gottes Segen
    Ist alles gelegen,
    Wer's glauben tut."


    Wer sang es hier? Wer sang zur Stund'?
    Verlorne Feldwacht
    Sang es um Mitternacht.
    Mitternacht! Feldwacht!


    Mit anderen Ohren als denjenigen Helmuts ausgestattet, hört sich für mich das marzialische Marsch-Pasticcio der Schildwacht-Strophen genau so grell und übertrieben an wie die Süßlichkeit der Verlockung, die in die Welt der überzuckerten Paradiese Gustav Mahlers gehört, also etwa der Trios im Scherzo der IV., der 2. Nachtmusik der VII.


    Unbegreiflich ist mir die Auffassung, die oben wiedergegebenen Strophen der Damenstimme suggerierten irgend anderes als den Tod (es ist ganz gewiß nicht die ferne Braut, die hier spricht). "Verlorne Feldwacht" ist die Schlüsselwendung, und die ingrimmigen Phrasen, mit denen sich der Wachsoldat widersetzt, illustrieren auch keine pünktlich lostümmelnde Schlacht (da wäre die Schildwache ziemlich fehl am Platz), sondern eher die stachlige Selbstpanzerung, das sich Zusammenreißen und Zähnezusammenbeißen wie beim Jochanaan gegen Straussens Salomé.


    Dafür spricht zumal, daß der irritierte "Wer-da?"-Ruf ja quasi der säuselnden Dame gilt (und das ist wohl eine etwas andere Panik als bloß die, die Vedettenpflicht zu verletzen, wie Helmut vorschlägt). "Bleib mir vom Leib" ist Ausdruck existenziellster Bedrohung wie im Erlkönig das "jetzt faßt er mich an".


    Das Wesen der damenseitigen Einflüsterungen ist Zweideutigkeit; zuerst beim "grünen Klee" - vgl. "Jemanden über den grünen Klee loben":


    Die Redewendung kommt möglicherweise aus der Zeit, da dörfliche Kirchhöfe und Gräber mit Klee bepflanzt waren. Jemanden "über den grünen Klee" hinweg loben hatte die Bedeutung: Da man über Tote nichts Schlechtes sagt, ist das Lob bezogen auf das wirkliche Leben des Verstorbenen unangemessen. - Das ist der böse Subtext des erotisch-amoenenen Topos vom grünen Klee, von Hadlaub bis Max Hansen.


    Die nächste Zweideutigkeit liegt in der vielsagend blasphemischen Zeile "Wer´s glauben tut". - In der Schlußstrophe (die ja etwas gewaltsam der gleißnerischen Damenpartie zugedacht ist) wird die Unheimlichkeit der Ruhe über den verwehten Marschklängen in die raffinierte Echowirkung des seltsamen Reimpaars "Mitternacht! Feldwacht" gepackt. Gerade daß der grausame Krieg und die vordergründig lockenden Verheißungen unterm Strich für unseren Wachposten auf dasselbe hinauslaufen, scheint mir die Pointe zu sein. Das Lied erinnert (zumal in dieser Widerhall-Schlußwirkung) ganz von Ferne an Schumann-Eichendorffs "Waldgespräch". Der Soldat steht von Anfang an auf "verlorenem Posten".


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das ist eines der großen und überaus eindrucksvollen Lieder aus der Reihe von Mahlers „Wunderhorn“-Vertonungen. Man muss es in der Orchesterfassung hören. Zwar gibt es, wie von allen diesen Liedern, auch eine Fassung für Singstimme und Klavier, aber es ist unüberhörbar, dass dieses Lied von vornherein aus dem klanglichen Potential eines Orchesterliedes heraus komponiert wurde. Blechbläser, Piccoloflöten und Schlaginstrumente sind konstitutive Elemente des klanglichen Ausdrucks und der musikalischen Aussage, die dieses Lied vermittelt.


    Der lyrische Text besteht aus acht Strophen. Die Überschrift „Revelge“ ist aus dem französischen Wort „reveille“ hergeleitet und meint den militärischen Weckruf. Und um Militärisches geht es auch in diesem Text, allerdings um grauslich Militärisches, einen soldatischen Totentanz nämlich.


    Ein Trommler ist tödlich verwundet, und er spricht einen vorbeiziehenden Kameraden an, er möge ihm doch helfen. Der aber „kann ihn nicht tragen“, weil seine Einheit von „den Feinden geschlagen“ wurde, alle schon tot am Boden liegen und er selbst jetzt auch in den Tod marschiert. Der Trommler greift, weil er Angst hat, „sich selbst zu verlieren, zu seinem Instrument, beginnt davonzumarschieren du weckt mit seinem Trommeln die überall herumliegenden Toten auf. Gemeinsam ziehen sie, der Trommler voran, gegen die feindlichen Soldaten, und die laufen, von Schrecken gepackt, davon. Die beiden letzten Strophen lauten:


    Er schlägt die Trommel auf und nieder,
    Da sind sie vor dem Nachtquartier schon wieder,
    Ins Gäßlein hell hinaus,
    Tralali, Tralalei, Tralalera,
    Sie ziehen vor Schätzleins Haus.


    Des Morgens stehen da die Gebeine
    In Reih und Glied wie Leichensteine,
    Die Trommel steht voran,
    Tralali, Tralala, Tralalera,
    Daß sie ihn sehen kann.


    Das Lied Mahlers klingt durch und durch auf gespenstische Weise bedrückend und geht wegen der schrillen Klänge in der Instrumentierung regelrecht unter die Haut. Klanglich dominierend sind die durchgängig erklingenden Paukenschläge und die schrillen, signalartigen Trompetenklänge. Prägend ist auch das bei der Singstimme sich immer wieder in die melodische Linie förmlich hineindrängende „Tralali“. Mahler ist hier von der textlichen Vorlage abgewichen, denn dort heißt es „Tralali, Tralala, Tralala“, und dieser Zwischenruf kommt auch nur bei jeder Strophe im vierten Vers vor, während Mahler ihn häufiger einsetzt und auch mehrfach wiederholt.


    Schon in der Einleitung erklingt dieses vom Trommelrhythmus geprägte Zusammenspiel von Trompeten und dumpfen Paukenschlägen, in das in einer Abwärtsbewegung grelle, harmonisch verminderte Piccoloflötentöne einfallen. Die Singstimme deklamiert mehr, als dass sie singt: Es herrscht melodisch ein balladesker Grundton, der sich mehr und mehr dramatisch steigert. In den dialogischen Teilen des Liedes nimmt sich die Singstimme zurück, kann einen bittenden, einen flehenden oder klagenden Ton annehmen, in den epischen hingegen dominiert ein dramatischer, bis zu unerbittlicher Härte gesteigerter Klang.


    Zwischen den Strophen erklingt immer wieder der in die melodische Linie der Singstimme schroff einfallende, militärisch grelle Orchesterlärm. Am Ende aber, wenn die Gebeine in Reih und Glied dastehen, huschen die Orchesterklänge im Pianissimo vorbei, die Trompeter und Streicher haben Dämpfer aufgesetzt und die Pauke grummelt fast lautlos vor sich hin.


    Man könnte meinen, die große Friede des Todes habe sich über die gespenstische Szenerie gebreitet. Ein Irrtum! Mahler lässt im Nachspiel die alten schrillen Klänge und dumpfen Paukenschläge wieder in das Lied einbrechen, als wären sie unauslöschliches Schicksal.

  • Das Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“ handelt von einem Schweizer, der, weil er ein Alphorn über den Rhein herüberklingen hört, so sehr von Heimweh ergriffen wurde, dass er hinüber in seine Heimat schwimmen wurde und dadurch zum Deserteur wurde. Man greift ihn auf und, vor das Regiment gestellt, muss er „um Pardon“ bitten. Er weiß, dass sein Leben hiermit zu Ende ist, und nimmt Abschied von „seinen Brüdern“ im Regiment.


    Da es hier um die Frage geht, welche Haltung der Liedkomponist Mahler der lyrischen Sprache gegenüber einnimmt, seien die drei letzten Strophen des Wunderhorn-Gedichts, das dort mit „Der Schweizer“ überschrieben ist, hier wiedergegeben. Man kann wieder sehen, dass Mahler, eben weil er ganz von seinem subjektiven Ausdruckswillen ausgeht und dabei primär musikalisch denkt, sich souverän über die Textvorlage hinweggesetzt hat. Die zwei letzten Strophen fügen sich nicht in das, was er musikalisch sagen will.


    Ihr Brüder allzumal,
    Heut seht ihr mich zum letzten Mal;
    Der Hirtenbub ist doch nur schuld daran,
    Das Alphorn hat mir solches angetan,
    Das Klag ich an.


    Ihr Brüder alle drei,
    Was ich euch bitt, erschießt mich gleich;
    Verschont mein junges Leben nicht,
    Schießt zu, das das Blut rausspritzt,
    Das bitt ich euch.


    O Himmelskönig, Herr!
    Nimm du meine arme Seele dahin,
    Nimm sie zu dir in den Himmel ein,
    Laß sie ewig bei dir sein,
    Und vergiß nicht mein!


    Dieses Lied ist das erste aus der Gruppe von Mahlers „Soldatenliedern“. Auch hier geht es schon um die Nähe zum Tod, die alle diese Lieder prägt, aber es fehlt ihm noch der Beiklang des Schauerlichen und grauslich Phantastischen, den vor allem die letzten Lieder aufweisen. Zwar liegt diesem Lied auch ein Trauermarsch-Rhythmus zugrunde, aber es dominiert klanglich doch die Atmosphäre des wehmütigen Abschieds von der Heimat und vom Leben überhaupt.


    Mit einer Art Hornruf im Diskant setzt die Klaviereinleitung ein. Sie ist in markanter Weise von einer leeren Quinte geprägt, die dem ganzen Lied seinen Grundton verleiht, weil sie immer wieder auftaucht.


    Verhalten setzt die Singstimme ein. Man erwartet von der Klaviereinleitung her eigentlich eine Dur-Harmonik, aber die melodische Linie klingt in Moll-Tönen auf. Fünf Silben lang wird ruhig auf einem Ton deklamiert, bevor sich die Singstimme zu einem kleinen Bogen im Raum eines kleinen Intervalls aufschwingt, um gleich danach wieder zum Grundton zurückzukehren. Da gibt es nicht mehr viel an Leben, und das Klavier kommentiert diese Melodiezeile, die die beiden ersten Verse umfasst, mit dem aus der Einleitung bekannten Hornruf.


    Die melodische Linie, mit dem der folgende Vers einsetzt („Das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen“) ist überaus eindrucksvoll: Jede Silbe wird ruhig auf einem Ton deklamiert, und man meint, das sei wie ein melodischer Anlauf hin zu dem Wort „drüben“, das nach dem Tonschritt, der auf ihm liegt, musikalisch deutlich herausgehoben wirkt.


    Man hört: Dieses „drüben“ ist es, worauf sich der ganze Sinn dieses Menschen richtete. Und wenn es in den letzten Versen heißt „Das Alphorn hat mir´s angetan“ und dem Hirtenbub sogar eine „Schuld“ zugemessen wird, dann korrespondiert dies mit dem großen musikalischen Gewicht das Mahler dem Wort „drüben“ im dritten Vers des Liedes zugemessen hat.


    Der wehmütige Grundton dieses Liedes ergibt sich daraus, dass die melodische Linie der Singstimme sich durchweg in wenig ausgreifenden Tonschritten entfaltet und von fallenden Bögen geprägt ist. Das Klavier stützt sie mit einfachen Akkorden, die rhythmisch konsequent der Deklamation folgen. Was da erklingt, das hat klanglich etwas von einer endgültigen Feststellung.


    Selbst in den Pausen der Singstimme setzt sich dieser deklamatorisch definitive Ton im Klavier fort. Allerdings drängen sich immer wieder dumpfe Basstriller in die musikalischen Figuren, die da im Klavier erklingen. Bedrohlich kündigt sich an, was diesem Deserteur bevorsteht. Schicksal hat Mahler hier musikalisch artikuliert. Ein Grundton seiner Liedkomposition und seines musikalischen Werkes überhaupt.


    Mit der letzten Strophe nimmt das Lied einen deutlich ausgeprägten lyrischen Ton an. Bei „Heut seht ihr mich zum letzten Mal“ erhebt sich die melodische Linie der Singstimme in für dieses Lied ganz ungewöhnliche Höhen. Dieser Vers war für Mahler offensichtlich von so großer Bedeutung, dass er ihn noch einmal singen lässt.


    Die letzten beiden Verse erklingen, nach einem neuerlichen Ertönen der Hornrufe im Klavier, zunächst in einer fast volksliedhaft schlichten Melodik. Dann aber drängen sich bei den Worten „Das klag ich an“ dramatische Akzente vor, bevor die melodische Linie dann langsam und in einem Decrescendo in ihren wehmütigen Klageton zurückfällt, der sie von Anfang an in diesem Lied beherrscht.

  • Vielleicht sollte man, damit in der doch sehr trockenen Luft der Liedanalyse und -beschreibung der Aspekt des Gesanges (und damit der Musik) nicht zu kurz kommt, hie und da auch mal Angaben dazu machen, in welchen Aufnahmen man die Lieder hört, die man hier bespricht.


    Bei diesem Lied („Zu Straßburg auf der Schanz“) habe ich ganz besonderen Anlass dazu. Es gibt nämlich eine Aufnahme davon, die ich für singulär halte. Ich habe das Lied weder davor noch danach jemals auf so faszinierende Weise interpretiert gehört.


    Die Aufnahme: Dietrich-Fischer-Dieskau / Leonard Bernstein in a Recital of Mahler-Songs. CBS.

    Die Aufnahme entstand als Mitschnitt eines Konzerts, das die beiden 1968 in New York gaben. Bernstein stand nicht etwa am Dirigentenpult, er begleitete Fischer-Dieskau am Flügel. Und dieses macht die Aufnahme singulär.


    Bernstein inspiriert Fischer-Dieskau unüberhörbar durch ein überaus expressiv und rhythmisch markant gestaltetes Klavierspiel. Er reißt ihn regelrecht mit, - so, wie ich das selten bei diesem immer sich sehr kontrolliert gebenden Sänger erlebt habe. Die langsame Ausbildung der melodischen Linie bei dem Vers: „Das Alphorn hört´ ich drüben wohl anstimmen…“ wird von den beiden auf eine Weise gestaltet, die einem fast den Atem raubt, - wie so vieles andere in diesem Lied auch.

  • Das ist sicher das intimste, klangschönste von Mahlers „Soldatenliedern“, von faszinierenden Kantilenen geprägt, die noch dazu von Streichern getragen werden. Und es ist zugleich das unheimlichste: Eine Idylle, die sich über der Schauerlichkeit des Todes entfaltet, für einen Augenblick aufblüht, und dann wieder verklingt.


    Man weiß nicht recht, wie man den Text lesen soll. Ist das eine Phantasmagorie, in der ein bereits „unter dem Rasen ruhender“ Soldat zurückkommt und an das Fenster seiner ehemaligen Geliebten klopft, um sie zu sich zu holen? Oder ist es die Abschiedsszene eines noch Lebenden, der in den Krieg zieht und weiß, dass er diesen nicht überleben wird? Wie auch immer man diese Verse liest, eines ist sicher: Das „Zu-eigen-Sein“, von dem der Soldat spricht, wird eines im Tode sein, und der Ort, an dem es sich ereignen wird, ist der „unterm grünen Rasen“.


    Das Gedicht ist eine Montage, die Mahler aus Versen aus „Des Knaben Wunderhorn“ selbst vorgenommen hat. Der größte Teil dieser Montage stammt aus einem Gedicht, das dort mit „Unbeschreibliche Freude“ überschrieben ist. Das hat aber einen ganz anderen Inhalt. Keine Spur von der Schauerlichkeit, die Mahler daraus gemacht hat.


    Mit leisen Bläserrufen setzt das Lied ein, Trompeten fallen von ferne ein, und über all dem entfaltet sich eine melodische Linie, die wie ein Klageton wirkt, weil von leeren Quinten dominiert. Und nun setzt die Singstimme ein:


    „Wer ist den draußen und wer klopfet an,
    Der mich so leise wecken kann?“


    Es ist ein ruhig deklamierendes, in einem Auf und Ab zwischen zwei Tonebenen sich entfaltendes Singen, was man da auf den beiden ersten Versen hört. Da stellt ein Mädchen, das gerade erwacht ist, eine von Verwunderung getragene Frage, und Mahler hat dafür die treffende melodische Linie gefunden, die am Ende auf einem Ton innehält, von Bläsern umspielt, als hielte die Zeit den Atem an, bis dann klar wird, wer da eben angeklopft hat. Wunderbar gelungen ist das kompositorisch!


    Was jetzt nachfolgt, ist eine in sanftem D-Dur sich ruhig entfaltende, im Dreivierteltakt hinfließende Melodie, deren Zauber man sich kaum entziehen kann. Streicherklänge tragen sie und folgen ihr im Terzabstand: „Das ist der Herzallerliebste dein…“ Zu geradezu himmlischen Höhen schwingt sich die melodische Linie auf bei dem Vers: „Bei meinem Herzallerlieble“. Auf jeder Silbe liegen da Klänge, die nicht enden zu können scheinen.


    Aber leise Bläserzwischenrufe signalisieren im Zwischenspiel, dass es da eine reale Welt gibt, in der eine heimelige Idylle keinen Bestand haben kann. Und der Vers „Das Mädchen stand auf und ließ ihn ein“ erklingt auch prompt in Moll-Harmonien. Dann aber folgt das „Willkommen lieber Knabe mein!“. Das entfaltet sich als faszinierend weiche Kantilene in dunklem Des-Dur, wieder von Streicherklängen mit eingelagerten Holzbläsertönen getragen und umspielt, und das in Sextenparallelen. Und wenn das Mädchen zu weinen beginnt, hält die melodische Linie wieder auf jeder Silbe des lyrischen Textes inne, und Holzbläser kommentieren das alles wie aus weiter Ferne.


    Trompetenrufe klingen wieder auf, bevor der „Herzallerliebtste“ sein „Ach weine nicht“ dem Mädchen zusprechen kann. Jetzt zwar in einer sich ruhig in Dur-Klängen entfaltenden melodischen Linie, in die sich aber immer wieder in kurzen Zwischenspielen von Bläsern Moll-Klänge hineindrängen. Aber das „O Lieb auf grüner Erden“ darf sich wieder in weit gestreckten, auf jeder Silbe lange ruhenden Tönen entfalten.


    Hornrufe danach, Blechbläser dazwischen. Und dann die letzten Verse, wieder von Hornklängen umspielt, in die am Ende Trompeten einfallen: „Allwo dort die schönen Trompeten blasen…“. Das wird gesanglich in einfachen Tonschritten deklamiert, so als würde endlich die Nüchternheit der Realität die musikalische Idylle ablösen, die ohnehin nicht von dieser Welt war: Nur ein Traum, eine Phantasmagorie, ein Wunschgebilde.


    Nach den Worten: „…mein Haus von grünem Rasen“ erklingt leise ein ferner Trompetenruf, ein Signal in Tonschritten, wie man sie von dem kennt, was über Soldatengräbern erklingt.

  • Zitat

    Was war es, das ihn an den Inhalten so fasziniert hat. Ich finde immer wieder Todessehnsucht in seinen Lieder - oder aber zumindest die Thematisierung des Todes,

    Rheinlegendchen“ gehört zu den wenigen Mahler-Liedern, die man als „kindlichschalkhaft und innig“ bezeichnen kann. Wenn man zwischen Rhein und Neckar geboren ist, kennt man den Text von Kindesbeinen an, die musikalische Form wird als „Schnaderhüpfel“ bezeichnet.


    Mit der Komposition von Gustav Mahler kam ich dann erst viel später in Berührung.


    Auguste Pattberg (1769-1850) sammelte die Lieder und Sagen ihrer Heimat, schrieb eigene Gedichte und Beiträge für die "Badische Wochenschrift" und stand in regem Gedankenaustausch mit den Heidelberger Romantikern, unter ihnen Clemens Brentano und Achim von Arnim. Die Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" verdankt ihr mindestens 17 Volkslieder.



    Rheinischer Bundesring
    Achim von Arnim

    (Mitgetheilt von Frau von Pattberg.)


    Bald gras ich am Neckar,
    Bald gras ich am Rhein,
    Bald hab ich ein Schätzel,
    Bald bin ich allein.


    Was hilft mir das Grasen
    Wann die Sichel nicht schneidt,
    Was hilft mir ein Schätzel,
    Wenn's bei mir nicht bleibt.


    So soll ich dann grasen
    Am Neckar am Rhein,
    So werf ich mein goldiges
    Ringlein hinein.


    Es fliesset im Neckar,
    Und fliesset im Rhein,
    Soll schwimmen hinunter
    Ins tiefe Meer n'ein.


    Und schwimmt es das Ringlein,
    So frißt es ein Fisch,
    Das Fischlein soll kommen
    Aufs König sein Tisch.


    Der König thät fragen,
    Wems Ringlein soll sein?
    Da thät mein Schaz sagen,
    Das Ringlein g'hört mein.


    Mein Schäzlein thät springen,
    Berg auf und Berg ein,
    Thät mir wiedrum bringen,
    Das Gold Ringlein fein.


    Kannst grasen am Neckar,
    Kannst grasen am Rhein,
    Wirf du mir immer
    Dein Ringlein hinein


    Dieses Lied ist auf YouTube recht zahlreich verfügbar, sowohl als Klavierlied (zum Beispiel mit Thomas Hampson) als auch mit Orchesterbegleitung; es seien hier nur wenige bekannte Namen genannt: Brigitte Fassbaender, Christa Ludwig, Margret Price (nur Standfoto), Heinrich Schlusnus (nur Standfoto), Elisabeth Schwarzkopf (nurStandfoto).

  • Es gibt eine briefliche Äußerung Mahlers zu diesem Lied "Rheinlegendchen", die über seine Entstehung etwas aussagt. Nicht nur dieses: Man kann auch erkennen, wie Mahler an seine Liedkomposition herangegangen ist.


    "Heute (...) hatte ich ein Thema im Sinne und blätterte im Buch herum und da waren die passenden Verse eines reizenden Liedes zu meinem Rhythmus bald gefunden. >Tanzreime< nenne ich´s (...) Das aber unterscheidet sich der Art nach sehr von den früheren, die ich für Frau Webers Kinder geschrieben. Es ist viel unmittelbarer, dabei kindlich-schalkhaft und innig, wie du noch nichts gehört hast (...) Aber trotz aller Einfachheit und Volkstümlichkeit ist das Ganze höchst eigentümlich, besonders in der Harmonisierung, daß die Leute sich nicht hineinfinden, es gesucht nennen werden. Und doch ist es das Natürlichste, was es geben kann, das von der Meldoie einfach verlangte."


    Zwei Aspekte sind an diesem Zitat interessant. Zunächst einmal die Aussage Mahlers über das Lied selbst: Es sei "einfach" und "volkstümlich", zugleich aber doch "eigentümlich in der Harmonisierung". Das Lied zeichnet sich durch die Art und Weise aus, wie Mahler mit dem motivischen Material arbeitet, und diese motivische Arbeit st recht komplex Es handelt sich ja um ein variiertes Strophenlied. Auffällig ist auch die Reduktion im klanglichen Apparat des Orchester: Die Bläser agieren solistisch und es wird an Blechblasinstrumenten nur ein Horn verwendet. Das tritt gleich am Anfang auf und liefert sozusagen den Einstieg. Mit "Rhythmus" meint Mahler diesen sehr tänzerisch wirkenden, weil im im ersten Takt deutlich akzentuierten Walzerrhythmus. Dieser wird allerdings immer wieder durch gleichsam "besinnliche" und recht lyrisch wirkende Phasen unterbrochen.


    Der zweite interessante Aspekt ist die Aussage zur Genese der Liedkomposition. Sie ist für Mahler ganz typisch: Zuerst war das musikalische Thema da und der zugrundliegende Rhythmus. Er "blättert im Buch" und findet rasch das Gedicht, das dazu passt. Ich hatte schon mehrfach mit Belegen darauf hingewiesen, dass Mahler bei der Liedkomposition von der Musik her kommt, - nicht vom Text. Hier kann man es wieder erleben.

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