Die Bachkantate (168): BWV55: Ich armer Mensch, ich Sündenknecht

  • BWV 55: Ich armer Mensch, ich Sündenknecht
    Kantate zum 22. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 17. November 1726)




    Lesungen:
    Epistel: Phil. 1,3-11 (Dank und Gebet des Paulus für die Gemeinde in Philippi)
    Evangelium: Matth. 18,21-35 (Von der Vergebung: Das Gleichnis vom hartherzigen Schuldner)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 15 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Johann Rist (1642)



    Besetzung:
    Solo: Tenor; Coro: SATB; Traversflöte, Oboe d’amore, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Aria Tenor, Traversflöte, Oboe d’amore, Violino I/II, Continuo
    Ich armer Mensch, ich Sündenknecht,
    Ich geh’ vor Gottes Angesichte
    Mit Furcht und Zittern zum Gerichte.
    Er ist gerecht, ich ungerecht.
    Ich armer Mensch, ich Sündenknecht!


    2. Recitativo Tenor, Continuo
    Ich habe wider Gott gehandelt
    Und bin demselben Pfad,
    Den er mir vorgeschrieben hat,
    Nicht nachgewandelt.
    Wohin? soll ich der Morgenröte Flügel
    Zu meiner Flucht erkiesen,
    Die mich zum letzten Meere wiesen,
    So wird mich doch die Hand des Allerhöchsten finden
    Und mir die Sündenrute binden.
    Ach ja!
    Wenn gleich die Höll’ ein Bette
    Vor mich und meine Sünden hätte,
    So wäre doch der Grimm des Höchsten da.
    Die Erde schützt mich nicht,
    Sie droht mich Scheusal zu verschlingen;
    Und will ich mich zum Himmel schwingen,
    Da wohnet Gott, der mir das Urteil spricht.


    3. Aria Tenor, Traversflöte, Continuo
    Erbarme dich!
    Lass’ die Tränen dich erweichen,
    Lass’ sie dir zu Herzen reichen;
    Lass’ um Jesu Christi willen
    Deinen Zorn des Eifers stillen!
    Erbarme dich!


    4. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
    Erbarme dich!
    Jedoch nun tröst’ ich mich.
    Ich will nicht für Gerichte stehen
    Und lieber vor dem Gnadenthron
    Zu meinem frommen Vater gehen.
    Ich halt’ ihm seinen Sohn,
    Sein Leiden, sein Erlösen für,
    Wie er für meine Schuld
    Bezahlet und genug getan,
    Und bitt’ ihn um Geduld,
    Hinfüro will ich’s nicht mehr tun.
    So nimmt mich Gott zu Gnaden wieder an.


    5. Choral SATB, Traversflöte, Oboe d’amore, Streicher, Continuo
    Bin ich gleich von dir gewichen,
    Stell’ ich mich doch wieder ein;
    Hat uns doch dein Sohn verglichen
    Durch sein’ Angst und Todespein.
    Ich verleugne nicht die Schuld,
    Aber deine Gnad’ und Huld
    Ist viel größer als die Sünde,
    Die ich stets bei mir befinde.






    Keinen Monat nachdem Bach die großartige Solo-Kantate für den Bass BWV 56 komponiert hatte, brachte er erneut eine Kantate zur Aufführung, in der lediglich eine Solostimme (diesmal ist es der Tenor) zum Einsatz kommt. Gleichwohl gibt es auch in der hier besprochenen Kantate (genau wie in der erwähnten “Kreuzstab-Kantate“) einen kurzen Schlusschoral, so dass zur Besetzung dieser Kantate neben dem Tenoristen auch noch ein (wahrscheinlich recht kleiner) Chor erforderlich ist.


    Somit hat nun auch der Tenor (nachdem alle anderen Solostimmen ja schon mehrfach vertreten waren) endlich seine eigene Solo-Kantate von Bach erhalten – gerade im Jahr 1726 scheint Bach mehrere gute Solisten verschiedener Stimmlagen gehabt zu haben, denen er den Vortrag einer ganzen Kantate im Alleingang übertragen konnte. Offensichtlich hat er die sich damit bietende kompositorische Herausforderung als willkommene Abwechslung gerne angenommen.


    Denkt man an die schon mehrfach erwähnte Vorliebe Bachs für die Kombination Tenor + Traversflöte, so ist es eigentlich keine Überraschung, dass er auch in dieser Kantate nicht auf diese bewährte Kopplung verzichten möchte: In gleich zwei Arien des Tenors bezieht er eine Flöte mit ein!


    Sollte die Theorie stimmen, dass Bach seine Matthäus-Passion erstmals zu Karfreitag 1727 aufgeführt hat (und nicht erst 1729), dann könnten zwei Sätze dieser Kantate hier ihn ein knappes halbes Jahr später möglicherweise bei der Komposition zweier Sätze für seine große Passionsmusik inspiriert haben:
    Da wäre zum einen die Arie Nr. 3, die mit den Worten “Erbarme dich!“ beginnt und uns heute natürlich sofort an die berühmte Alt-Arie in der Matthäus-Passion erinnert, die mit denselben Worten beginnt.
    Und dann natürlich die für diese Kantate ausgewählte Strophe des Schlusschorals, die – mit derselben Melodie, nur in anderem Stimmensatz und anderer Instrumentation – in der Matthäus-Passion interessanterweise unmittelbar auf die erwähnte Alt-Arie “Erbarme dich!“ folgt und damit die Verleugnungs-Szene durch Petrus abschließt.


    Zufall?
    Vielleicht sogar ein Hinweis auf den anonymen Textdichter der hier besprochenen Kantate – es könnte sich doch wie bei der Matthäus-Passion um Christian Friedrich Henrici, besser bekannt unter seinem Dichternamen “Picander“ handeln?

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Guten Morgen


    diese prächtige Kantate gibt es in einer schönen Aufnahme mit englichen Tenor (Ian Bostridge ) und italienischen Instrumentalensemble (Europa Galante).




    Ob den schlichten Schlußchoral wohl die Gemeinde anstimmte ?
    Schade, dass nur eine einzige Kantate für Tenor von Bach erhalten blieb.


    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Guten Tag


    eine weitere neue Einspielung dieser schönen Kantate für Solotenor
    ist auf dieser CD



    mit dem Tenor Markus Brutscher zu hören.
    Das Barockorchester Le Chardon und
    der mit einem warmen
    und geschmeidigen Timbre singenden Tenor
    vollbringen eine intensive Ensemble-Leistung.
    Den abschliesenden Choral "Bin ich gleich von dir gewichen"
    muss in dieser Aufnahme der Tenor leider alleine singen.



    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard