Bruckner 9: Finale/Aufführungsfassung - - -(Samale - Philips - Cohrs - Mazzuca )

  • Liebe Forianer - nur um einige Gerüchte richtigzustellen:


    In der Tat bekam ich im letzten Jahr eine Anfrage von Marius Stieghorst, Kapellmeister in Osnabrück, der sich für das Finale interessierte; er würde Bruckners Neunte Ostern 2009 in Osnabrück aufführen.
    :jubel:


    Ich sandte ihm Infomaterial und CDs; er versprach, sich bis letzten Herbst wieder bei mir zu melden. Dann habe ich nichts mehr von ihm gehört, bis ich im März endlich einmal selbst nachfragte. Daraufhin kamen die üblichen Ausreden -- zu langes Programm (es stand noch Wagners Parsifal-Vorspiel und Karfreitagszauber auf dem Programm); Angst um die Kondition der Blechbläser usw. So erfolgte die Aufführung in der Tat ohne Finale.
    :no:


    Eine Erklärung dafür, warum man mir dies nach dem anfänglichen Interesse nicht mitteilte (geschweigedenn eine Entschudigung für diese Oberflächlichkeit) bekam ich nicht. Stattdessen ließ Herr Stieghorst ohne Kommentar meine CDs von seiner Sekretärin an mich zurückschicken.
    :kotz:


    Meinen Presserecherchen zufolge handelt es sich um einen aufstrebsamen jüngeren Mann. Typische Maestro-Verhaltensweisen zeigt er jetzt schon ...
    :untertauch:


    Zur Zeit stehen leider keine weiteren Aufführungen des Finalsatzes an.

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Zur Zeit stehen leider keine weiteren Aufführungen des Finalsatzes an ...


    ... was zu bedauern ist ! Ich habe mir ja vor ein paar Wochen folgende Aufnahme zugelegt (bestellt bei http://www.abruckner.com) :



    also mit dem Finale, wie es nach der aktuellsten SPCM-Stand (2008 ) gespielt wurde - und das hat mich dann doch überzeugt :yes: Ich habe ja mehrere Versionen vom Finale, und bisher bin ich immer an der einen oder anderen Stelle doch zusammengezuckt - da passte was nicht. Aber bei dieser Version passte einfach alles, ich lauschte von Anfang bis Ende mit spitzen Öhrchen ... :D

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

  • Leider stehen, soweit ich weiß, zur Zeit keine weiteren Aufführungen unserer Aufführungsfassung des Finales an. Einzige Neuigkeit in Sachen Finale ist die verspätete Uraufführung des Auftragswerkes vom Linzer Brucknerfest an Heinz winbeck. Er hat nun allerdings doch nicht ein ganz neues Finale unter nicht-Berücksichtigung der Originalskizzen geschrieben (was einigermaßen beruhigt), sondern eine der üblichen "Dialoge eines Komponisten mit dem Material". Das neue Werk erklingt auch zu Anfang des Konzertes ...

  • Aus gegebenem Anlass hole ich heute diesen alten Thread hervor. Heute widmet sichder Kulturkritiker der "Presse" Wilhelm Sinkovicz diesem Thema - und zwar unter dem Titel: "Ist die Unvollendete wirklich unvollendet?" Zuerst wird hier Schuberts "Unvollendets" erwähnt und ihre "Vollendunge durch das beinahe komplette Scherzo und der Schaupielmusik zu "Rosamunde" - Eine kühne These. Es gibt zumindest eine Aufnahme dieser Version - aber sie hat mich nicht überzeugt.


    Fast nahtlos geht es dann zu Bruckners 9. über, und Benjamin-Gunnar Cohrs wiederholte dann seine Statements, dei man vor 8 Jahren schon hier nachlesen konnte - so man wollte.


    Nichts Neues unter der Sonne ?


    Doch - Einerseits gab es 2011 eine weitere Revision der Rekonstruktion durch Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca
    Ferner gibt es mindestens 2 Aufnahmen mit dieser Ergänzung



    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Doch, es gibt etwas neues: Nachdem Gerd Schaller bereits die 2010er Version von William Carragan einspielte



    wartete er 2016 mit seiner eigenen Version auf:



    Ich habe Schallers neue Aufnahme erst einmal gehört, kann also nicht sagen, in wieweit sich seine Fassung im Detail von der von Carragan oder SPCM unterscheidet. Allerdings wage ich es ernsthaft zu bezweifeln, dass es mindestens vier verschiedener Fassungen bedarf (vergessen wir den Herrn Marthé nicht), um zu versuchen, das zu rekonstruieren, was niemals zu 100% rekonstruierbar sein wird. Es ist bekannt, in wieweit Bruckner das Finale vollständig mit Noten versehen und/oder instrumentieren konnte (sehr gut nachzulesen übrigens im Beiheft der Rattle-Aufnahme), ab und an werden neue Noten gefunden, der Rest muss "im Sinne Bruckners" vervollständigt werden.


    Aus meinem Gedächtnis unterscheidet sich Schallers Fassung nur marginal von der Carrigans. Okay, auch hier wird "der Markt" zeigen, welche Version sich durchsetzt. Wobei, wesentlich interessanter ist die Frage, ob sich das Finale an sich durchsetzen wird...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Wobei, wesentlich interessanter ist die Frage, ob sich das Finale an sich durchsetzen wird...


    Das ist eine interessante Frage
    Ich habe gestern bei mir gedacht, selbst wenn ALLE Seiten des Originals auftauchen würden, so würde die Mehrheit noch an der unvollendeten Version festhalten.
    Die Menscheit liebt unvollendete Werke und widmet ihnen mehr Aufmerksamkeit als komplett erhaltenen.
    Angeblich gibt es (lauf gestriger "Presse") übrigens einen Hinweis darauf, dass ein privater Sammler, tatsächlich noch im Besitz weiteren Notenmaterials zu dieser Sinfonie ist, es aber gewissermaßen vor der Welt versteckt...


    Prinzipiell würde ich das mit den abweichenden Fassungen nicht so eng sehen, denn Bruckner selbst hat zu Lebzeiten stets an seinen Werken herumgebastelt und immer wieder geändert, war in dieser Hinsicht also -vorsichtig ausgedrückt - sehr tolerant.


    Marthe - das ist eine andere Liga . ich würde das zumindest nicht als Rekonstruktion bezeichnen
    Immerhin hat er polarisiert und das Werk in den Mittelpunkt des Interesses gebracht
    Davon haben - vermutlich ungewoll -. auch die echten Rekonstruktionen partizipiert


    mfg aus Wien
    Alfred


    clck 60482

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das ist eine interessante Frage
    Ich habe gestern bei mir gedacht, selbst wenn ALLE Seiten des Originals auftauchen würden, so würde die Mehrheit noch an der unvollendeten Version festhalten.
    Die Menscheit liebt unvollendete Werke und widmet ihnen mehr Aufmerksamkeit als komplett erhaltenen.
    Angeblich gibt es (lauf gestriger "Presse") übrigens einen Hinweis darauf, dass ein privater Sammler, tatsächlich noch im Besitz weiteren Notenmaterials zu dieser Sinfonie ist, es aber gewissermaßen vor der Welt versteckt...


    Ich denke auch, dass die 9. Sinfonie weiterhin hauptsächlich dreistätzig aufgeführt werden wird, denn sie ist dreisätzig in sich komplett stimmig und "fertig". Niemand käme auf die Idee, dass etwas "fehlt", dass ein vierter Satz zwingend notwendig wäre, um den "inneren Inhalt" der Sinfonie zu verdeutlichen. Das Adagio ist bereits ein "würdiger Abschluss" der Sinfonie. Nicht umsonst wird es gerne als "Abschied vom Leben" gedeutet.


    Das Schwierige an der Sache ist Bruckners Wunsch und Wille, diese Sinfonie viersätzig komponieren zu wollen und der verzweifelte Versuch, sie, bei schwindenden Kräften, hoffentlich noch vollenden zu können (was bekanntlich nicht ganz gelang). Niemand weiß, wie die viersätzige Version geklungen hätte, wenn Bruckner ausreichend Zeit gehabt hätte, sie zu komponieren. Das macht den Umgang mit der viersätzigen Version für mich auch heute noch schwierig. Ich erkenne Bruckners Wunsch an, ebenso die akribisch verfassten Vervollständigungen, aber das Gefühl der kompletten inneren Stimmigkeit habe ich immer noch mehr bei der drei- als bei der viersätzigen Sinfonie.


    Zitat

    Prinzipiell würde ich das mit den abweichenden Fassungen nicht so eng sehen, denn Bruckner selbst hat zu Lebzeiten stets an seinen Werken herumgebastelt und immer wieder geändert, war in dieser Hinsicht also -vorsichtig ausgedrückt - sehr tolerant.


    Prinzipiell sehe ich die verschiedenen Fassungen gar nicht eng, denn wenn "im Sinne von Bruckner" rekonstruiert und vervollständigt werden muss, dann kommt es zwangsläufig zu Interpretationen. Das ist in Ordnung, bloß in meinen Augen eher kontraprodukitv, wenn es um die Verbreitung und Bekanntmachung des Finales an sich geht.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Rattle / Berliner PH mit der SPCM-Fassung


    :hello: Ich würde gerne ein paar Höreindrücke von Euch lesen, die diese EMI-Aufnahme von 2012 haben !?!


    Irgendwie lässt mich die Aufnahme aller 4 Sätze sehr zweispältig zurück. Im Prinzip habe ich von Rattles Interpretation keinen total schlechten Eindruck gewonnen. Mangelnde Detailarbeit ist Rattle auch nicht vorzuwerfen, wo es mit Dramatik "zur Sache" geht ist er sogar mit Power dabei.

    :) Den 4.Satz in der SPCM-Fassung habe ich gestern zum ersten Mal gehört. Interessant und gut, aber nicht der Bruckner, den ich für ein Finale erwartet hätte.

    Von der Int unter Rattle würde ich sagen: 8) Da geht noch mehr !

    :( Was mich stört, ist das zu wattig matschige Klangbild ... und das bei einer DDD-Aufnahme von 2012. Leider erfahren wir bei EMI solche Beispiele immer wieder ...

    Mein Eindruck wurde dadurch so getrübt, sodass ich sagen muss: So eintönig habe ich die Sinfonie Nr.9 (Satz 1 - 3) noch nie gehört. Entweder ruhiges belangloses Orchestergewusel oder matschiges Fortissimo. Ausgespielte Ecken und Kanten, Emotion und ausgearbeitete Details ?

    :| Ich habe das nicht wahrgenommen ........................


    :!:Ich habe danach in 2 Aufnahmen reingehört, die wirklich nicht von einem Bruckner-Experten stammen. Dennoch hochinteressant sind:

    1. Bernstein / New Yorker PH (SONY)

    Was hier klanglich an Details herausgeholt wurde und den Hörer gleich anspricht, bei aller Kritik für Bernsteins frühe Aufnahme, übertrifft die EMI-2012 Aufnahme deutlich.

    2. Bernstein / Wiener PH (DG)

    Was Gefühl und Emotion angeht, so ist dies wohl eine der stärksten Aufnahmen der Neunten. Die mag nicht "wienerisch" sein ... was solls, mir vollkommen egal.

    Aber auch die DG-Klangtechnik, die alle Details offenbart und das Orchester ohne Watte abbildet, ist zu EMI-2012 ein Unterschied wie Tag und Nacht.

    :saint: Jedenfalls hat diese DG-CD meine Bruckner-Welt wieder in Ordnung gebracht !


    Mit sehr gemischten Gefühlen für diese EMI-CD:


    EMI, 2012, DDD

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Leider stehen, soweit ich weiß, zur Zeit keine weiteren Aufführungen unserer Aufführungsfassung des Finales an.


    Das schrieb Ben Cohrs 2009. Daran scheint sich in den letzten zwölf Jahren leider nicht arg viel geändert zu haben. Nur selten gelangt die vervollständigte Symphonie Nr. 9 von Anton Bruckner aufs Konzertprogramm. Sir Simon Rattle scheint sich am meisten dafür einzusetzen und führte sie auch bei einem Gastspiel der Berliner Philharmoniker in Wien auf (2018). Ansonsten fand ich durch Recherche noch Aufführungen des Brabants Orkest unter Friedemann Layer (Eindhoven, 2011), des BBC Scottish Symphony Orchestra unter Thomas Dausgaard (Edinburgh und Glasgow, 2016) und des Orchestre National de Belgique unter Michael Schønwandt (Brüssel, 2016).

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Ich habe gestern bei mir gedacht, selbst wenn ALLE Seiten des Originals auftauchen würden, so würde die Mehrheit noch an der unvollendeten Version festhalten.
    Die Menscheit liebt unvollendete Werke und widmet ihnen mehr Aufmerksamkeit als komplett erhaltenen.

    Dieses Zitat habe ich ausgewählt, weil es als typisch empfinde. Es ist schon mehr als zwei Jahre alt, und ich weiß nicht, wie Alfred heute dazu steht. Wahrscheinlich ist er dabei geblieben. Ich tue mich mit der vollendeten Fassung auch sehr schwer. Der Finalsatz erreicht und ergreift mich nicht. Nach meinem Empfinden kommt er an die vorgangegangenen Sätze nicht heraun. Was hätte nach diesem grandiosen Adagio auch noch kommen können und sollen? Die 9. Sinfonie war meine erste Begegnung mit Bruckner. Das war insofern reiner Zufall, weil es in dem mir zugänglichen Geschäft keine andere Bruckner-Platte gab. Und der sollte es sein. Concertgebouw unter Beinum. Und so sah sie aus:


    eterna_820189_bruck_sinfo9_i.jpg


    Im Internat diskutierten wir damals schon heiß, wie wohl das Finale geklungen hätte, wäre es denn vollendet worden? Eine Freundin glaubte, es wäre ein stilles Weinem gewesen. Ich habe das nie vergessen. Für mich hat sich das Werk so verinnerlicht wie es ist. Die Vollendung konnte ich nie recht akzeptieren, auch, weil ich sie mir einfach nicht vorstellen kann. In der vorliegenden Form - ich kenne eigentlich Rattle mit den Berliner Philhamonikern am besten - kommt es mir immer wie ein Gemischtwarenladen vor. Ich weiß, das ist hart und sicher unegrecht. Aber es ist so.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich kann jeden verstehen, der die Fassung ohne das Finale bevorzugt. Die besten Interpretationen der Neunten von Bruckner sind eben doch die dreisätzigen. Meine persönlichen Favoriten sind Bruno Walter (CBS) und Bernsteins späte Wiener Einspielung (DG), die auch Wolfgang zurecht hervorhebt. Bei beiden gelingt das paukenlastige Scherzo besonders furchteinflößend.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Bruckner 9 mit Bruno Walter

    Zum Wochenende habe ich diese sehr schöne Bruckner-Aufnahme der Sinfonie Nr.9 mit Bruno Walter erhalten.


    :!: Ich habe im anderen Bruckner 9 - Thread Dem Lieben Gott - Anton Bruckner: Sinfonie Nr 9 in Referenzaufnahmen

    zu dieser Walter-Aufnahme ohne den Finalsatz geantwortet.

    Walters Interpretation geht ganz weit über die Rattle-Aufnahme (EMI; siehe Beitrag 279) hinaus, die auf mich dagegen eintönig wirkte und somit nur für die wichtige Zugabe, dem SMPC-4-Satz von Interesse ist !


    Diese fein klingende CD-Ausgabe aus dem Jahre 1996 im 20Bit - SBM-Remastering erfüllt klanglich alle Ansprüche:


    41VSTCR3CZL.jpg

    SONY, 1959, ADD

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Eichhorn (SPCM-Fassung 1992)

    eichbru9hxkbw.jpg


    Endlich kam ich dazu, mir den Finalsatz in der Fassung von Samale-Philips-Cohrs-Mazzuca in dieser Einspielung konzentriert anzuhören. Es handelt sich um die Aufnahme des Bruckner-Orchesters Linz unter Kurt Eichhorn, erschienen bei Camerata, zunächst einzeln, später in einer Box. Da die Einspielung bereits im Februar 1993 erfolgte (die ersten drei Sätze schon im April 1992), konnte logischerweise nur die damals vorliegende 1992er Aufführungsfassung zu Rate gezogen werden. Bis 2011 wurde die SPCM-Fassung bekanntlich noch mehrmals überarbeitet. Trotz dieser Einschränkung bin ich sehr angetan von der Aufnahme. Eichhorn, ein begnadeter Bruckner-Dirigent ersten Ranges, breitet den Finalsatz in majestätischen 30:11 aus und stellt Details heraus, die mir bisher kaum auffielen. Mitbearbeiter und -herausgeber Benjamin-Gunnar Cohrs, der zeitweise auch diesem Forum angehörte, fand seinerzeit recht kritische Worte für die Interpretation, da sich Eichhorn einiger "Kapellmeister-Retuschen" bediene. Tatsächlich verlangsamt er das Choralthema enorm, doch wirkt es dadurch zumindest auf mich noch bezwingender, ja atemberaubender. Gewaltiger habe ich das noch nirgends vernommen, selbst wenn die Rattle-Einspielung insgesamt idiomatischer und auch auf dem neuesten Stand der Forschung ist.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões