Hallo Engelbert!
Ich verteidige mich mit dem größten Vergnügen!
Fangen wir mit dem Harmlosesten an:
ZitatProkofieff , Strawinsky und Bartok, um nur einmal im slawischen Raum zu bleiben.
1) Bartók war Ungar, ergo kein Slawe.
2) Die Rede ist dezidiert von Opernkomponisten. Prokofieff würde ich, trotz des genialen "Feurigen Engel", nicht wirklich als solchen bezeichnen (seine anderen Opern sind sicher gute Stücke, aber meiner Meinung nach nicht vergleichbar mit Janácek). Strawinskij war meiner Meinung nach ein lausiger Opernkomponist.
Wenn, dann müsste man Janácek vergleichen mit Britten, dessen Großvater er sein könnte. Ich verehre Britten als eines der größten Genies der Musik des 20. Jahrhunderts (siehe mein Avatar) - und: ja, ich würde Britten mit Janácek gleichsetzen. Mit einer Ausnahme: Janácek ist wirklich modern, er erfindet seine eigene Sprache in einem Ausmaß, wie nur wenige andere Komponisten. Britten schmilzt Vorgefundenes zu einem eigenen Idiom zusammen - siehe etwa die Parallelen zwischen Britten und Schostakowitsch, von dem Britten in seinen Tagebüchern schwärmt und der deutliche Einflüsse zurückgelassen hat.
Wenn Du als die Fixpunkte der Musik des 20. Jahrhunderts Messiaen, Schostakowitsch und Britten nennst, gebe ich Dir recht. Ich würde nur ZUSÄTZLICH und GLEICHWERTIG eben Janácek, Strawinskij, Schönberg und Berg nennen. Und ich würde mit kaum merklichem Zögern auch dafür plädieren, Webern (für mich ein Buch mit 7 Siegeln) und Bartók ebenfalls in diesen Kreis der Erlauchten aufzunehmen.
Von diesen genannten waren nur Britten, Berg und Janácek echte Opernkomponisten. Schostakowitsch schrieb zwei der für mich besten Opern überhaupt, aber seine zentrale Bedeutung liegt auf dem Gebiet der Symphonik und der Kammermusik.
Nun zum zwischen den Zeilen erhobenem Vorwurf, mein Lob der "Jenufa" sei in Wahrheit eine Abwertung.
Für mich ist das nicht so. Ich habe absolut nichts gegen Folklore-Einsprengsel, wenn sie dramaturgisch gerechtfertigt sind. (Es gibt auch in Bartóks "Blaubart" einen Csardás - das Volksmusik-Vokabular sitzt diesen Komponisten so in den Knochen, dass sie gar nicht merken, wenn sie's anwenden.)
Also "Jenufa", erster Akt (ich zitiere aus dem UE-Klavierauszug der Kovarovic-Fassung, die aber den Grundcharakter der Musik nicht ändert)
1) Orchesterbegleitung bei Jenufa: "...wenn den Liebsten sie mir zu den Soldaten tun..." etc.
2) Orchester-Bass bei Jano: "Jenufa, hei, Jenufa, ..."
3) Chor der Rekruten (Beginn 4. Szene)
4) Chor "Hinterm Dorf weit steht ein Schlösselein..." inklusive Nachspiel
5) Die Alte (Starenka): "Und ihr Musikanten, marsch mit euch..."
6) Diess.: "Jedes Paar muss im Leiden..."
7) Orchester bei Stewa: "Alles nur, weil ich dich so liebe...." etc.
An all den genannten Stellen ist die Musik "typisch tschechisch", nämlich voll mit Wendungen, wie man sie in Volkstänzen findet. (Und unterschätz' mir die Polka nicht!!! Smetana hat Polkas für Klavier komponiert, die der Raffinesse einer Chopin-Polonaise nicht nachstehen!)
Nun die Frage, warum Janácek diesem volkstümlichen Idiom im Ersten Akt so breiten Raum gewährt und es in den anderen Akten fast völlig ausschließt.
Ich glaube, die Antwort besteht aus zwei Teilen:
1) Der erste Akt ist der relativ unbeschwerteste, das Volk freut sich auf seine Weise, spricht auf seine Weise Trost zu; auch Jenufa und Stewa äußern sich stellenweise in diesem Idiom - nicht aber Laca und nicht die Küsterin. Meiner Meinung nach steckt hier ein Konzept dahinter, nämlich eine sehr kluge Personencharakteristik.
2) Janácek schafft Atmosphäre - wir sind halt in einem mährischen Dorf. Und da wird eben so gesungen (ähnlich wie ja auch die Seeleute in Brittens "Billy Budd" Shanties von sich geben und die Musik dieser Oper immer wieder auf den Tonfall der Seemannslieder anspielt; so macht das genialer Opernkomponist eben!).
Außerdem bin ich überzeugt, dass Janácek, dieser glühende Nationalist, durchaus eine mährische Volksoper im Sinn hatte. Doch dann blendete er, geleitet von seinem untrüglichen musikdramatischen Instinkt, vom Idiom der Volksoper weg und erzählt eine ganz andere Geschichte.
Ich meinte dabei "Bauernfängerei" mit anerkennender Bewunderung. Mir fällt als Parallele ein Film von Peter Weir ein: "Der einzige Zeuge" ist eine faszinierende Studie über das Leben der Amish und über Integration, wird aber verpackt als Kriminalfall.
So verpackt Janácek seine Oper über fehlgeleitete Ehrbegriffe, die wahre Liebe und Läuterung durch Selbsterkenntnis einen Akt lang als Volksoper.
Zum nächsten von Dir aufgegriffenen Punkt: Es gäbe auch andere Komponisten, die ungewöhnliche Themen aufgriffen.
Ja, schon. Aber: Die "Griechische Passion" ist schon bei Kazantzakis voller Musik, und die Passionsthematik als Opernstoff ist keineswegs abwegig. Im "Palestrina" sehe ich eher eine Oper über das Selbstverständnis des Komponisten (ein "Konservativer" wehrt sich gegen umstürzlerische Gedanken und beweist die Tauglichkeit "des Alten") - und es ist bei Pfitzner die Ausnahme, dessen andere Opern, trotz ihrer von mir hoch geschätzten Musik, vor Handlungsklischees strotzen.
Cikker würde ich ebenfalls nicht nennen, weil sein "Erdbeben" ebenfalls die Ausnahme ist. Seine restlichen Libretti sind gute, aber typische "Opernware".
Zu einer solchen zähle ich auch einen Roman, wenn er starke Affekte enthält, diese über ein halbwegs überschaubare Zahl von Hauptpersonen verteilt und seine wesentliche Handlung bzw. die wesentliche Motivation der Handlung über keinen allzu langen Zeitraum erstreckt. (Mit letzterem meine ich, dass sich ein Generationen übergreifender Roman wie die "Buddenbrooks", im österreichischen Fernsehen anlässlich der Serie übrigens mehrfach "Baddenbruks" ausgesprochen, eher nicht eignet.)
Daher halte ich Dostojewskijs "Schuld und Sühne" ebenso für einen geeigneten Opernstoff wie Tolstojs "Auferstehung".
Und nun zu Janáceks Stoffen:
1) Reise zum Mond, Reise in die tschechische Vergangenheit, beides satirisch.
2) Menschen und Tiere als parallele Gestalten zwecks Verdeutlichung der philosophischen Überlegung, dass die Natur aus ineinander greifenden Lebenszyklen besteht.
3) Ein Rechtsstreit um ein Testament - wobei sich herausstellt, dass eine der Streitparteien ein paar 100 Jahre auf dem Buckel hat, weil ihr Leben durch eine Tinktur verlängert wurde.
4) Strafgefangene, die einander ihre in Trümmer gegangene Leben erzählen. Ein verletzter Adler wird gesund gepflegt. Und einer der Strafgefangenen kommt frei.
Das sind so völlig ausgefallene, so völlig unmögliche Opernstoffe (scheinbar!!!), dass meiner Meinung nach nur ein Komponist in der Fülle der (nochmals scheinbar!!!) untauglichen Stoffe gleichkommt. Jener nämlich, der sich als Stoffe wählte:
1) Ein sadistischer Fischer, der von einer widerlich bigotten Gemeinde zu Tode gehetzt wird.
2) Ein Waschlappen von junger Mann wird in Ermangelung tugendsamer Mädchen zum "Maikönig" gewählt, wird betrunken gemacht und hat sein sexuelles Coming out.
3) Eine Gouvernante projiziert ihre eigenen sexuellen Wünsche auf zwei Kindern, denen sie einredet, sie würden von Geistern verfolgt. Oder sollten die Geister real sein? Am Schluß ist ein Kind tot, das andere psychisch traumatisiert.
4) Ein Matrose wird von seinem Kapitän und seinem Waffenmeister gleichermaßen begehrt und zwischen den beiden aufgerieben. Der Kapitän lässt den Matrosen hinrichten, wäscht seine Hände wie seinerzeit Pilatus in Unschuld - haben wir da am Ende eine Christus-Geschichte vor uns?
5) Der Abkömmling einer Offiziersfamilie ist Pazifist, wird von dieser als Feigling bezeichnet, übernachtet, um seinen Mut zu beweisen, in einem verfluchten Zimmer und stirbt.
6) Ein alternder, inspirationsloser Schriftsteller verliebt sich in einen jungen Mann, erlebt einen zweiten Frühling und stirbt an der Cholera.
Das meinte ich, als ich schrieb, Janácek und Britten wären jene Komponisten, die, nur geleitet von ihrem literarischen Geschmack, die "unmöglichsten" Themen wählten - und recht behielten!
Und das wäre mein Plädoyer in eigener Sache.