Literarische Empfehlungen - was lese ich gerade

  • Zitat

    Original von Il Grande Inquisitore
    Hesiod kam aus Hawaii


    Und ich dachte bisher, der sei als Dichter der Ackerbauern und Viehzüchter aus Kuba gewesen.


    Viele Grüße,
    Medard

  • Lieber Grande Inquisitore,
    dein Spott trifft zu Unrecht den Schrott.
    Schrott ist ein ungeheuer begabter Dichter, dessen frühe Lyrik ("Rime", "Hotels") wirklich lesenswert ist. Zum Unterschied von sehr vielen modernen Autoren ist er äußerst sparsam mit Kraftausdrücken, dafür ist seine Sprache sehr reich an poetischen Bildern und unverbrauchten Metaphern. Wenn Du's nicht glaubst, lies "Finis terrae", eine erstaunlich gelungene Erzählung, bei der der Leser allerdings Zeit braucht, um hinter den Sinn des Aufbaus zu kommen - dafür ist es dann umso überzeugender.
    Was Schrott mit der Troja-Suche macht, ist, ich gebe da die Meinung des Archäologen Jürgen Borchhardt wieder, nichts Neues. Diese Lage Trojas wird von etlichen Personen, darunter zahlreiche Gelehrte, behauptet. Es ist fast etwas wie ein sektiererischer Kreis darum entstanden. (Borchhardt gehört ihm nicht an!)
    Schrott ist obendrein der letzte, dem man Provinzialismus vorhalten kann. Er spricht mehrere Sprachen, Englisch, Französisch und Italienisch sowieso, dazu kommen Altgriechisch und Latein, meines Wissens nach auch Hebräisch, außerdem spricht er Gälisch. Eine Lehrverpflichtung hatte er u.a. in Italien, wo er seine Poetik-Vorlesungen auf Italienisch hielt.
    Wenn man Schrott etwas vorwerfen kann, dann, daß seine Gelehrtheit ihm mitunter in die Quere kommt beim Entwerfen poetischer Bilder. Es gibt Augenblicke, da spürt man den Poeta doctus etwas zu sehr. Allerdings widerspricht auch dieses Faktum dem von Dir entworfenen Zerrbild.


    Abgesehen davon ist mir neu, daß der Hanser-Verlag ein Tiroler Kleinverlag mit Bekanntheitsgrad bloß in der Region Innsbruck wäre. Aber manchmal lernt man hier wirklich etwas dazu...


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Il Grande Inquisitore
    Und auch das neue Werk, das derzeit im Schrott-Atelier Gestalt annimmt, soll in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden:


    Homer kam aus Kilikien, Hesiod kam aus Hawaii


    Na jetzt wissen wir es endlich genau :D:D


    Zitat

    Ave Caesar,
    bei Schrott ist das so eine Sache: Er treibt mitunter ein raffiniertes Spiel mit Fiktion und Fakten. Seine Troja-Theorien sind nicht neu, aber ein Bekannter von mir, selbst Archäologe, verweist sie in den Bereich der Fantasie. Man liest ein glänzendes Buch, aber eben kein wissenschaftliches. Die Ilias-Übersetzung hingegen halte ich für einen großen Wurf, man kann Homer in einer uns nahestehenden, aber nicht modernisierenden Sprache lesen. Das hat Schrott ja auch mit seiner Edition antiker Lyrik geschafft.


    Besten Dank für den Odyssee-Hinweis, ein guter Anlass, diese Seefahrer-Gruselgeschichten wieder einmal zu lesen.


    Lieber Edwin,


    wie gesagt: Ernst nehmen muss man seine Thesen nicht, und Du hast selbstredend recht: Neu sind sie auch nicht. Liest man Schrotts Übertragung der Ilias und hat dabei eine der "klassischen" Übertragungen im Ohr muss man sich erst an den anderen Ton gewöhnen. Aber die Mühe lohnt sich, wie ich finde.
    Ach ja: Und die Odyssee-Übertragung ist kann ich wirklich nur empfehlen. Alleine schon der Gestaltung wegen lohnt die Anschaffung.


    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)



  • Gerade wieder mal total auf dem Venedig-Trip, habe ich mir gestern in der Basler Venedigausstellung dieses Buch gekauft und schon fast fertig gelesen. Lange Zugreisen haben ihre Vorteile!


    Henry James ist immer wieder en phantastischer Psychologeund seine Themen für mich besonders faszinierend.
    Hier geht es um den Briefnachlass eines berühmtem Schriftstellers, dem ein leidenschaftlicherLiteraturliebhaber nachforscht und dabei an die inzwischen uralte und sehr bizarre Ex-Geliebte des Dichters gerät: Sie lebt unter obskuren Umständen in einem venezianischen Palazzo und der Forscher schmuggelt sich dort als Untermeter ein......


    Fairy Queen

  • Zitat

    Original von gyokusai


    Respekt. Ich hatte selbst mit Schulkommentar und allen erdenklichen Hilfsmitteln inklusive danebenliegender Übersetzung Probleme, meinen Kopf um so manchen Satzaufbau zu wickeln, und nicht nur bei Homer-Griechisch!


    Da das ca. 18 Jahre her ist, will ich den Mund nicht zu voll nehmen. Ich weiß auch noch in etwa, wie ich in der 10. Klasse oder so zum ersten Mal einen Vers Homer gesehen habe und zweifelte, sowas jemals verstehen zu können. Aber zwei Jahre später ging es jedenfalls gut genug für die Klausuren (da durfte man allerdings auch ein Lexikon benutzen). Und ich meine mich zu erinnern, daß ich "König Ödipus" in der folgenden Klasse und auch einiges lateinische der Oberstufe wie Vergil oder Horaz eher unangenehmer fand. Überhaupt lag mir Griechisch gerade vom Satzbau irgendwie näher.
    Was nicht ausschließen soll, daß so mancher Vers außerordentlich schwer zu entschlüsseln gewesen sein könnte, aber Details weiß ich nicht mehr. Nur eben, daß ich vergleichsweise erleichtert und positiv überrascht war, daß es so gut ging.
    Heute hätte ich aber bei solchen Sachen keine Chance mehr. Zweisprachig Aristoteles oder Platon geht noch, da kann ich meisten halbwegs feststellen, ob die Übersetzung eher eng oder eher frei ist, aber selbst dort fehlen einfach zu viele Vokabeln und auch der Rest nach so langer nur sporadischer Nutzung. Obwohl in Latein die Lücken ähnlich erschreckend sind, ist da mehr Vokabular hängen geblieben, vermutlich weil man es viel länger gehabt hat.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Überhaupt lag mir Griechisch gerade vom Satzbau irgendwie näher.
    :hello:


    JR


    Glücklicher. Mir ging’s genau andersrum: in der Oberstufe habe ich bei den Klausuren selbst mit Lexikonbenutzung stets bergauf gekämpft (und bin dabei in der Regel mit Ach und Krach vom Basislager weggekommen). Dagegen, je anspruchsvoller die Texte in Latein wurden, desto besser wurde ich; meine Noten wurden mit der Zeit tatsächlich besser, nicht schlechter. Und das Hebraicum war wie ein Spaziergang, als wäre ich mit der Sprache aufgewachsen. In der Regel galt: je agglutinierender, desto einfacher fiel es mir. Allerdings hatte ich mit Althochdeutsch und Altenglisch wiederum keine Probleme, oder mit MHD und ME ... ehrlich gesagt, ich weiß bis heute nicht, warum für mich die griechische Syntax immer so undurchschaubar war. Graecum ist Graecum, okay, aber das war echt ein Klimmzug, bei dem ich fast auf der Matte gelandet wäre. Das nächste Mal, daß mir in meinem Leben etwas so brutal Schwieriges begegnete, war Japanisch ...


    Noch mal zum Thema Schrott. Wie gesagt, über die Übersetzung selbst erlaube ich mir kein Urteil, weil ich sie nicht kenne. (Aber auch wenn sie besser ist, als diverse Kritiken erwarten lassen, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich Christian folgen und Schrott seine Megalomanie so ohne weiteres verzeihen würde *kicher* ...) Aber Schrotts Homer-Theorien sind für mich mehr Schein als Sein und sehr viel wildes Händewedeln.


    Grüße,
    ^_^J.

  • Lieber Edwin,


    dann kurz im Ernst: Mir ist der Raoul vor allem im wissenschaftlichen Kontext ganz gut vertraut, und da sind die Anläufe, ihn zu promoten, nur noch peinlich. Seine ach wie provokanten Thesen sind nicht nur mit gewissem Recht mehrheitlich zerrissen worden, aber unter dem Einfluß gewisser Lobbies, die den nach Kolb und Korfmann nach zum Erliegen gekommenen Homer-und-Troja-Diskurs dringend weiter am Köcheln halten wollen, um ihre Projekte zu rechtfertigen, werden nun Tagungen um Schrotts Halbgarheiten abgehalten, stets wissenschaftlich begleitet von den Spezialisten der Uni Innsbruck. Und erst in diesem Fahrwasser wurde die neue Ilias-Übertragung überhaupt derartig "gehypt".
    In diese Richtung zielte mein Spott, denn Herr Schrott hat sich eben nicht damit begnügt, ein begabter Dichter sein zu wollen, sondern vielmehr versucht, als Homer-Autorität zu gelten.


    Bildung schützt vor Marketing nicht!


    Dies nur zur Erläuterung meiner kleinen Sottise.


    LG



    Christian

  • Lieber Grande Inquisitore,

    Zitat

    In diese Richtung zielte mein Spott, denn Herr Schrott hat sich eben nicht damit begnügt, ein begabter Dichter sein zu wollen, sondern vielmehr versucht, als Homer-Autorität zu gelten.


    Das stimmt nur an der Oberfläche, zielt aber an der Wahrheit vorbei. Man darf Schrott von seiner Poetik nicht trennen. Wer das tut, führt sich selbst in die Irre. Schrotts Poetik besteht, ich verkürze das jetzt, in der Welterklärung aus der Dichtung heraus. Man muss das akzeptieren wie die römische Geschichtsschreibung über die Zeit der Könige. Auch hier wird man wohl keine historisch belegbaren Fakten finden, wodurch diese Bücher jedoch nicht entwertet werden, sie wechseln nur von der Geschichtsschreibung in den Bereich der Geschichtenschreibung.
    So ist Schrotts Troja-Buch als Teil eines Troja-Mythos zu verstehen, nicht als Beweisführung. Schrott weiß selbst, daß ihm das archäologische Instrumentarium dazu fehlt.
    Dass mit seinem Buch jetzt eine längst eingeschlafen geglaubte Diskussion wiedererwacht, finde ich dabei gar nicht schlecht. Erstens, weil das Thema Troja, wie Antike überhaupt, gar nicht oft und nachhaltig genug im modernen Bewußtsein verankert werden kann; zweitens, weil auf diese Weise ein Autor bekannt wird, der es wirklich verdient. Vielleicht greift jemand nach der Lektüre des Troja-Buchs oder der Ilias-Übersetzung zu "Finis terrae". So übel scheint mir der Nebeneffekt also gar nicht zu sein.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Lieber Grande Inquisitore,


    Das stimmt nur an der Oberfläche, zielt aber an der Wahrheit vorbei. Man darf Schrott von seiner Poetik nicht trennen. Wer das tut, führt sich selbst in die Irre. Schrotts Poetik besteht, ich verkürze das jetzt, in der Welterklärung aus der Dichtung heraus. Man muss das akzeptieren wie die römische Geschichtsschreibung über die Zeit der Könige.
    :hello:


    Also Schrott als neuer Titus Livius? Oha!


    Dennoch: Die Frage stellt sich vielmehr, inwieweit Herr Schrott selbst den von Dir postulierten Anspruch bedient oder ob er nicht eben doch eine dezidiert wissenschaftliche Position bezogen hat. Und seine Essays in der FAZ sind schwerlich allein durch seine Dichtung zu beleuchten, ebenso wenig wie seine Auftritte in althistorischen bzw. archäologischen Fachtagungen, die mittlerweile allein seinetwegen ins Leben gerufen werden. Ist das seiner Begabung geschuldet oder womöglich auch der Schützenhilfe durch eines der einflußreichsten Wissenschaftszentren für die Fragestellung der Wechselbeziehungen zwischen Orient und Okzident in der Antike? Aus meiner Sicht stellt sich da ebenso die Frage nach Oberfläche und Wahrheit.


    Ob darüber hinaus die Troja-Debatten tatsächlich eine inhaltliche Belebung der intellektuellen Diskussion darstellen, mag dahinstehen. Jedoch ist es schon beeindruckend, welche Kunstgriffe sofort medial beherrschend sind und welche Themen, die fachlich nicht als bloßes Scheingefecht geführt werden, an den geneigten Leser zu bringen sind.


    LG


    Christian

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  • Lieber Christian,
    ich fürchte, die ganze Troja-Geschichte ist ein Selbstläufer geworden, aus dem sich Schrott nicht mehr auszuklinken wagt. Vielleicht glaubt er mittlerweile sogar selbst daran.
    Ich bin kein Historiker, lediglich laienhaft aber leidenschaftlich an der griechischen und römischen Antike interessiert, weshalb ich mir ein paar Meinungen zusammengetragen habe - wobei mein Gewährsmann vor allem Borchhardt ist.
    Er meinte, die Troja-Exegese Schrotts sei ein alter Hut und tauche von Zeit zu Zeit auf. Einige Historiker nehmen sie ernst, die meisten Archäologen weniger. Borchhardt selbst hält die Thesen für Unsinn, aber mit verblüffender Gelehrsamkeit dargelegt. Er meinte, Schrotts Buch sei ein Abenteuerroman kostümiert als wissenschaftliches Werk.
    Das finde ich insoferne bemerkenswert, als Schrott genau damit von Zeit zu Zeit spielt. So enthält "Finis terrae" einen antiken Reisebericht, der geradezu brillant gefälscht ist, man glaubt, tatsächlich einen antiken Autor lesen. Dann wiederum hat er seiner Lyrik Erklärungen beigegeben, die von einigen Kritikern für eigenartige Versuche eines Eigenkommentars gehalten wurden. Tatsächlich waren es jedoch Kontrasttexte, wie sie etwa H.C. Artmann in "Die Jagd nach Dr. U." verwendet hatte.
    Dann machte Schrott den Versuch, Wissenschaft und Dichtung zu verbinden, indem er "Lehrgedichte" schrieb. Seine Beschäftigung mit der Antike wurzelt in der Übertragung antiker Lyrik, wobei er in diesem Buch, "Die Erfindung der Poesie", versucht, eine Poetik der Antike zu entwickeln und die Antike aus ihrer Dichtung heraus zu erklären.
    Schrott ist ein Sammler von Material, vieles von seiner Dichtung basiert auf solchen sprachlichen "objets trouvés". Ich bin überzeugt, daß Schrott für seine Ilias-Übersetzung schlicht und einfach Troja-Materialien sammelte und aus diesen sein Troja-Buch entwickelte. Zumindest würde es der bisherigen Vorgangsweise Schrotts entsprechen. Somit lese ich sein Troja-Buch als poetologischen Kontrasttext zur Ilias-Übersetzung, nicht als wissenschaftliche Abhandlung.
    Wenn Wissenschaftler die Thesen des Dichters der Diskussion für würdig erachten, dann sehe ich das weniger als das Problem Schrotts als das der Wissenschaftler.
    Oder gibst Du Goethe die Schuld an jedem Selbstmord, den der "Werther" ausgelöst hat?
    :hello:

    ...

  • Mal was anderes als Schrott:



    Schreiben kann er ja, der Sepp Gumbrecht - und faszinierend ist diese absolut-präsentische Hypertextgeschichte des Jahres 1926 auch. Gumbrecht versucht das Chaos und das vielschichtige Ineinandergreifen des Gleichzeitigen zu vergegenwärtigen, um so ein Gesamtbild kaleidoskopartig zusammenzufügen und dieses Bild zugleich wieder spektral aufzufächern. Das ist der avancierte Versuch einer nicht-linearen (Kultur)Geschichtsschreibung oder eigentlich eher eines multiperspektivischen Zeitportraits (und der Versuch gelingt hier auch weitestgehend). Andererseits liegt in dieser Struktur IMO zugleich auch der Haken an der Sache: Manches wirkt nämlich doch schon recht gewollt, manches beliebig.


    Die in der »Gebrauchsanweisung« formulierte Aufforderung, das Buch nicht von vorn nach hinten zu lesen - weil dieses Verfahren eben der nicht-linearen Struktur des Gegenstandes nicht angemessen sei - sondern ein beliebiges Kapitel für den Start auszuwählen und sich dann von den eingebauten »Hyperlinks« (das sind hier ganz einfach Verweise auf andere Kapitel) leiten zu lassen, scheint mir nicht allein zuvorderst Koketterie zu sein (übrigens kenne ich das Verfahren schon aus Bolz' »Das kontrollierte Chaos«), sondern zudem auch ein etwas brachialer (und irgendwie anachronistischer) Versuch, die Struktur digitaler Hypertexte auf das gute alte Medium »Buch« zu übertragen.


    Ist aber egal! Man kann »1926« nämlich auch sehr gut mit dem ersten Kapitel beginnen und dann einfach ganz gewöhnlich weiterlesen - und man tut es wirklich mit Gewinn!


    Insgesamt schon ein überaus anregendes, spannendes, lehrreiches und unterhaltsames Buch.


    Viele Grüße,
    Medard

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Wenn Wissenschaftler die Thesen des Dichters der Diskussion für würdig erachten, dann sehe ich das weniger als das Problem Schrotts als das der Wissenschaftler.
    Oder gibst Du Goethe die Schuld an jedem Selbstmord, den der "Werther" ausgelöst hat?
    :hello:


    Lieber Edwin,


    mir wäre neu, daß Goethe im Rahmen eines länglich-pompösen Essays in der Weimarer Allgemeinen Zeitung den Selbstmord als wissenschaftlich bahnbrechende Antwort auf das Problem des Liebeskummers propagiert hätte.


    ^_^J.


    (:P )

  • Hallo Medard,


    Zitat

    Original von Klawirr


    Die in der »Gebrauchsanweisung« formulierte Aufforderung, das Buch nicht von vorn nach hinten zu lesen - weil dieses Verfahren eben der nicht-linearen Struktur des Gegenstandes nicht angemessen sei - sondern ein beliebiges Kapitel für den Start auszuwählen und sich dann von den eingebauten »Hyperlinks« (das sind hier ganz einfach Verweise auf andere Kapitel) leiten zu lassen, scheint mir nicht allein zuvorderst Koketterie zu sein (übrigens kenne ich das Verfahren schon aus Bolz' »Das kontrollierte Chaos«), sondern zudem auch ein etwas brachialer (und irgendwie anachronistischer) Versuch, die Struktur digitaler Hypertexte auf das gute alte Medium »Buch« zu übertragen.


    Aber das gabs doch auch schon früher, als ich noch ein Schulkind war:



    Hier war es sogar spaßverderbend, das Buch linear zu lesen.


    :untertauch::untertauch:




    An die Iliasdiskutanden:


    Ich hatte mich auch durch die Voss-Übersetzung gequält. Allerdings war es nicht nur eine Qual, da ich diesem ältlichen, pathetischen Stil durchaus etwas abgewinnen kann. Und ich dachte mir, irgendwie paßt er ja zur Ilias.
    Nach dem hier gelesenen bin ich aber verunsichert, ob ich bei der Odyssee (die steht noch ungelesen als Voss-Übersetzung im Regal) nicht doch eine andere Übersetzung kaufen sollte... ?(


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Lieber Gyokusai,

    Zitat

    mir wäre neu, daß Goethe im Rahmen eines länglich-pompösen Essays in der Weimarer Allgemeinen Zeitung den Selbstmord als wissenschaftlich bahnbrechende Antwort auf das Problem des Liebeskummers propagiert hätte.


    Du darfst die Entwicklung der Sache nicht vergessen:
    1) Schrott will die Ilias übersetzen.
    2) Schrott sammelt Hintergrundmaterial über die Zeit und liest sich in die diversen Theorien ein. (So geht er bei Übersetzungen vor. Er ist überzeugt, daß eine Übersetzung nur dann möglich ist, wenn man sich der Kultur, aus der das Werk stammt, quasi einschreibt.)
    3) Schrott ist fasziniert von ein paar Thesen, die zwar wissenschaftlich abstrus sind, aber in seine Poetik passen.
    4) Schrott schreibt sein Troja-Buch, das er als poetisch-wissenschaftliches (wenngleich pseudo-wissenschaftliches) Material zu seiner Übersetzung versteht.
    5) Schrott liefert die Übersetzung.
    6) Schrott ist zu diesem Zeitpunkt allerdings längst überholt worden von den Diskussionen um sein Troja-Buch.
    7) Leider läßt sich Schrott, der mittlerweile zum Kreis der gläubigen Karatepisten gehört, vor deren Karren spannen und liefert Essays, die wissenschaftlich unhaltbar sind.


    Kannst Du mir aber bitte erklären, warum permanent Punkt 7 gelöst aus dem Kontext gegen Schrott angeführt wird? Er ist keineswegs der einzige, der Troja in Karatepe vermutet hat. Und er ist auch nicht der erste Dichter, der irrt, wenn er sich auf wissenschaftliches Gebiet begibt. Denk doch nur an die Hormonforschung von Hanns Henny Jahnn - aber wird dadurch der "Pastor Ephraim Magnus" zu einem minderwertigen Stück und der "Fluss ohne Ufer" zu einem lächerlichen Roman?
    Und, ja: Jahnn hat das Wundermittel "Miramon" propagiert...


    :hello:

    ...


  • Lieber Edwin —


    ja, kann ich :yes:


    Dein Beispiel mit der Hormonforschung ist gut gewählt. Ich habe generell ein Problem damit, wenn etwas bekanntere Persönlichkeiten anfangen, auf öffentlichen Plattformen Nonsens über wissenschaftliche Themen zu verbreiten, speziell unter Zuhilfenahme solch archetypischer Erzählformen auf diesem Feld wie „bahnbrechende Erkenntnisse eines mutigen Forschers unterdrückt vom Establishment“, einschließlich dieser haarsträubenden Vorstellungen über Wissenschaft, die in dem Argument „ich selbst bin überall dorthin gereist und hab mir alles angesehen“ mittransportiert werden in mehr als einer Hinsicht.


    Wenn unser Wissenschaftsjournalismus gesund und munter wäre und ein robusteres öffentliches Bewußtsein nicht nur über Forschungsstände im allgemeinen sondern auch den wissenschaftlichen Prozeß als solchen im speziellen bestünde, wär das ja auch alles kein Problem. Das Problem besteht aber, daß Unsinn in Form und Inhalt wie dieser meist der einzige ist, mit dem die Öffentlichkeit überhaupt konfrontiert wird respektive sich konfrontieren läßt. Ein vernehmliches und beharrliches „aua!“ finde ich daher angemessen.


    Aber laß uns lieber wieder Bücher lesen zu guter Musik ...


    Liebe Grüße,
    ^_^J.

  • Zitat

    Origibal von gyokusai
    Wenn unser Wissenschaftsjournalismus gesund und munter wäre und ein robusteres öffentliches Bewußtsein nicht nur über Forschungsstände im allgemeinen sondern auch den wissenschaftlichen Prozeß als solchen im speziellen bestünde, wär das ja auch alles kein Problem. Das Problem besteht aber, daß Unsinn in Form und Inhalt wie dieser meist der einzige ist, mit dem die Öffentlichkeit überhaupt konfrontiert wird respektive sich konfrontieren läßt. Ein vernehmliches und beharrliches „aua!“ finde ich daher angemessen.


    Noch mehr dazu zu sagen, wäre Zeitverschwendung! Vollständig d´accord!


    Alex.

  • Lieber Gyokusai,
    dennoch wage ich anzumerken:
    1) Wenn Schrott irrt, dann irrt er auf hohem Niveau (wie Jahnn bei der Hormonforschung und Hörbiger bei der Welteislehre etc.). Es ist genug, auf diesen Irrtum argumentativ hinzuweisen. In diesem Fall gebärden sich die Wissenschaftler jedoch nicht mit der ihnen zukommenden Gelassenheit, die sie aufgrund ihres besseren Wissens eigentlich haben müssten, sondern wie ein von einer Hornisse umschwirrtes Damenkränzchen.
    2) Das Versagen des Wissenschaftsjournalismus ist dessen schuld, nicht die Schrotts.
    3) Wenn die Wissenschaft weiterhin dermaßen arrogant verfährt, wird es für nicht arrogant auftretende Nicht-Wissenschaftler immer Zulauf geben. Ich finde es jämmerlich, daß die gesamte Altertumswissenschaft aus ihrem Totalversagen im Fall Däniken noch immer nichts gelernt hat.
    4) Ich warte mit Spannung auf eine halbwegs so gut lesbare Erwiderung des Schrott-Buchs aus der Sicht eines Wissenschaftlers.
    Nochmals: Mir ist völlig klar, daß Schrott irrt. Ich verteidige lediglich das Recht des Dichters, eine nach eigenen Regeln gebaute poetische Welt zu entwerfen und ihre Berechtigung argumentativ zu vertreten. Einfach zu sagen, Schrott ist Schrott, weil sein Buch versucht, eine falsche These zu argumentieren, halte ich zumindest für engstirnig.
    :hello:

    ...

  • Ich weiss gar nciht, ob ich dieses Buch , dass mir wiederum von einem Tamino wärmstens empfohlen wurde, ausgerechnet in einem Internetforum empfehlen sollte ....


    Aber da ich gar nicht mehr davon lassen konnte und deswegen sogar beinahe am falschen Bahnhof ausgestiegen wäre und solche Bücher in diesen Zeiten für sehr wichtig halte:




    Hier wird die Entwicklung einer rein virtuellen Liebes-Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich niemals persönlich begegnet sind, geschildert und die am Ende massive Auswirkungen auf das nicht-virtuelle, reale Leben dieser Beiden hat.


    Modernes Suchtpotential in mehrfacher Hinsicht.


    Fairy Queen

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Ja, gut 300 Jahre älter als das "klassische" Griechisch und auch noch ein spezifischer "epischer" Dialekt. Ich hätte da jetzt zwar auch kaum eine Chance mehr, aber zu Schulzeiten hatte man sich mit üblichem Schulkommentar, wo die schwierigeren und seltenen Formen erklärt wurden, relativ schnell dran gewöhnt. Man muß sich aber schon einarbeiten. Lyrik oder Tragödie ist jedenfalls oft noch deutlich schwieriger zu übersetzen gewesen.


    Liebe Philhellenen, :D


    es gibt ja eigentlich kein "Altgriechisch", also keine Standardsprache, sondern nur verschiedene Dialekte, wie Attisch, Ionisch, Äolisch, Dorisch, Arkadisch..., die allerdings gegenseitig verständlich waren. (Ich blende die hellenistische Koiné, die sehr wohl eine Standardsprache war, und in der z. B. das Neue Testament verfasst ist, vorerst aus)
    Homer, der nach derzeitigem Forschungsstand ungefähr um 730/720 v. Chr. anzusetzen ist, schreibt aber dennoch in einer Art Standardsprache, in einer Kunstsprache, die so nirgends gesprochen wurde. Homers Sprache geht vom Ionischen aus, verwendet aber auch viele äolische Elemente (was eines von vielen Indizien ist, dass Homer in Kleinasien anzusiedeln ist, wo die beiden Dialekte unmittelbar benachbart waren). Vielleicht war diese Sprachform schon vor Homer für das Epos verbindlich, nach Homer wurde sie es auf alle Fälle (vgl. Hesiod, frühgriechische Elegiker).


    Was die Lyrik betrifft, so handelt es sich dabei in der archaischen Zeit eigentlich um genuine Mundartdichtung. Die frühgriechischen Lyriker schreiben im lokalen Dialekt (siehe Sappho, Alkaios, Alkman...).
    Nachdem man sowohl in der Schule als auch auf der Uni hauptsächlich Attisch lernt, hat man bei der gesamten vorklassischen Dichtung (Attisch ist uns frühestens ab dem 5. Jh. überliefert, davor war Athen zu unbedeutend, um Kunst hervorzubringen) natürlich gewisse Umstellungsschwierigkeiten, man kann sich aber recht schnell einlesen. Ich habe eine besondere Vorliebe für die frühgriechische Lyrik und Elegie. Wirklich schwierig finde ich die Tragödie mit ihrer knappen Sprache und ihrem Hang zu Pronomina, wo sich der Sinn immer mehr aus der dazuzudenkenden Darstellung der Schauspieler als aus dem Text selbst ergibt... :rolleyes:


    Ich persönlich finde Schrotts Übersetzungen nicht schrottig - sie gehören m. E. zu den besten modernen -, die wissenschaftlichen Erläuterungen würde ich aber mit jener Vorsicht genießen, die Edwin oben ausgeführt hat.


    Liebe Grüße,
    Martin


  • Hello Fairy Queen! :hello:


    stimme zu
    hab das Buch als Hörbuch gehört und empfehles es wärmstens


    als HB wird es von zwei personen gelesen was super funktioniert und (wie Du sagst) - es fesselt und man will gar nicht aus dem Auto aussteigen, weil man wissen möchte wie es weitergeht


    als negativ bemerke ich allerdings, dass es doch ein wenig gekünstelt ist - was der Spannung allerdings nicht schadet - im Gegenteil


    Liebe Grüsse
    Paul?



  • Ich kann Fairy Queen nur beiplflichten - kein Wunder, bin ich doch der ominöse Tamino, der daran Schuld trägt, daß die Feenkönigin fast am falschen Bahnhof ausgestiegen wäre. :pfeif:


    Auch ich kann das Buch jedem nur wärmstens empfehlen. Voller Wärme, Klugheit, Sprachwitz und geschliffener Dialoge erzählt Glattauer eine Art modernen Briefroman - ergo einen e-mail-Roman.


    Mit dem Zeitalter der fortschreitenden Technologie verändern sich auch die Parameter zwischenmenschlicher Beziehungsknüpfung. So wimmelt es in Chatforen tatsächlich von Menschen, die sich näher kennen und Intimitäten in einem Tempo austauschen, das nie zuvor derart möglich war. Meist erfolgt Ernüchterung.


    Die Ausgansgsituation bei Glattauer - ein Tippfehler in der e-mail-Adresse führt die vom abfallenden Niveau einer Zeitschrift enttäuschte Protagonistin statt auf die Verlagadresse auf eine Privatadresse. Es entwickelt sich trotz zunächst längerer Pause bereits nach wenigen ausgetauschten Nachrichten ein humorvoller, geistreicher Dialog mit der ein oder anderen überraschenden Wendung.


    Daß die Entwicklung, der Handlungsstrang nicht ins Uferlose abgleitet bzw. der Roman zu einer Schmachtmonzette verkommt, ist Glattauers kluger Beobachtungsgabe und seinem Einfühlungsvermögen zu verdanken.


    Glattauer versteht es außerdem meisterhaft den Leser am Bal zu halten, ständig ist man von Neugier beseelt, wie es mit den - gar nicht immer nur sympathischen - Protagonisten weitergeht.


    Unbedingte Empfehlung also auch meinerseits.


    :hello:
    Wulf


    P.S. Ich empfinde den Roman durchaus nicht als gekünstelt. Solche Geschicten gibt es - vielleicht nicht auf dem Niveau - in der Realität nicht selten.


    P.P.S Christian Berkel war zu meiner Jugenzeit unser Nachbar in einer Altbauwohnung in Berlin-Wilmersdorf. Inzwischen hat er - bestimmt dank seines TV-Erfolgs, wie kürzlich in "Zimmer frei" zu sehen war - etwas aufgestockt :rolleyes:

  • Nein, das ist kein bisschen gekünstlelt sondern nur allzu nah an der Realität.


    Das Gefährliche ist in meinen Augen die Weigerung der Protagonisten, sich persönlich als Menschen aus Fleisch und Blut kennenzulernen.
    Beide geben sich in unterschiedlicher Weise rein virtuellen Phantasien hin(auch erotischen natürlich), die sogar einer im Beginn glücklichen Ehe ernsthaften Schaden zufügen und andere sich anbahnende Beziehungen blockieren.
    Die Grenze zwischen virtueller und realer Welt wird nciht überwunden und darin sehe ich die Hauptgefahr, die der Autor sehr einfühlsam und spannend aber auch sehr amüsant vor Augen führt.


    Solange man einen Menschen nur virtuell kennt, kann man Alles in ihn oder sie hineinprojizieren, was man will und damit Gegenwelten schaffen, die sowohl kreatives wie auc hdestruktives Potentail enthalten.


    Ähnlcihkeiten mit lebenden Taminos sind natürlich rein zufällig...... :D


    Nochmal Danke an Wulf für die Buch-Empfehlung!!!!!


    sonnambule Grüsse von Fairy Queen, die jetzt wieder ins (richtige) Bett einsteigt.

  • Hallo.


    Ich lese derzeit simultan. Ein Buch, das eine Vergangenheit zeigt, die ich selbst nicht habe miterleben müssen: das Leben in der DDR, spezieller Dresden, zu Vorwendezeiten: genau: "Der Turm" von Uwe Tellkamp. Mir hatte "Der Eisvogel" schon sehr gefallen, nun also das opus magnum zur Wende. Der Wille zur Größe ist erkennbar, aber für mein Empfinden nicht störend, sondern auch den Leser fordernd.



    Und dann noch Christian Kracht. Ich habe bislang alles von ihm mit Gewinn gelesen. Ihn darauf zu reduzieren, dass er "sehr reich", arrogant, belangloser Pop-Literat ist, greift meines Erachtens zu kurz. Gewiss ein polarisierender Autor, der jetzt wieder ein interessantes Buch vorgelegt hat, das in einer kommunistischen Schweiz spielt, die sich in einem bald ewig schienenden Weltkrieg befindet. Das eigentlich bekannte ist gänzlich fremd. Existenziell.



    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Bei mir ist es (ohne Bildchen) im Moment


    Joachim Matzinger: Der altalbanische Text Mbsuame e Kreshtere des Leke Matrenga von 1592. Eine Einführung in die albanische Sprachwissenschaft. J.H.Röll 2006


    Eine Einzelfrage hat mich in die äußerst spannende Lektüre getrieben, und nun lese ich fasziniert, wie man mit einer Sprache, von der es vor 1550 keine Schriftlichkeit gibt, bis hin zur Rekonstruktion des Vor- und Uralbanischen Fragen an die Indogermanistik entwickeln kann. Und wenn da Tichys "Indogermanisches Grundwissen" (2001) zitiert wird, Das Albanische wird hier nicht berücksichtigt, weil es nur mit besonderen Schwierigkeiten zur Rekonstruktion des Uri[in]d[o]g[ermanischen] herangezogen werden kann (Tichy, 16), dann weckt das in mir den Jagdhund.


    Liebe Grüße Peter

  • Dank eine Vorstellung bei Spiegel online bin ich auf diesen Buch gestoßen:



    Die Ausrichtung des Buche erschien mir anfänglich etwas zu sehr auf das wirtschaftliche bezogen, aber im Verlauf des Buches bemerkt man, wie sehr sich die dargelegten Zusammenhänge auf die Gesamtheit zwischenmenschlicher Beziehungen auswirken.


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Im Moment


    Claudia Brinker-von der Heyde: Die literarische Welt des Mittelalters



    Von der Entstehung eines Buches bis zu der Sinnlichkeit des Lesens, ein faszinierender Blick in die Welt des Mittelalters. Auch hier kann man erfahren, warum Schafe & Kälber vor intellektueller Leistung ihren Abscheu haben, brauchte man doch mehrere 100 von ihnen, um eine umfangreiche Handschrift herzustellen ...


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von lohengrins
    Und dann noch Christian Kracht. Ich habe bislang alles von ihm mit Gewinn gelesen. Ihn darauf zu reduzieren, dass er "sehr reich", arrogant, belangloser Pop-Literat ist, greift meines Erachtens zu kurz. Gewiss ein polarisierender Autor [...]


    Nicht zu vergessen, dass er die Falklandinseln endlich wieder zu Argentina zurückholen will - VIVA EL LOCO!!! :D

    Viva la libertà!

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