Hugo Distler – Neuerer der evangelischen Kirchenmusik

  • Liebe Taminen!


    Nicht nur Karajan wird 100.
    Auch ein stillerer Revolutionär ist dieses Jahr aus gleichem Anlass zu würdigen.


    [tIMG]http://www.bach-cantatas.com/P…ler-Hugo-03.jpg;l;187;235[/tIMG]Hugo Distler wurde am 24.6. 1908 in Nürnberg als uneheliches Kind einer Schneiderin, die bald nach Amerika auswanderte, und eines Stuttgarter Fabrikanten geboren.
    Das Kind wuchs unter wenig harmonischen Bedingungen bei seinen Großeltern – Opa war Viehhändler – auf, die ihm allerdings den Besuch des Gymnasiums sowie Unterricht im Klavierspiel und Musiktheorie ermöglichten.
    Nach dem Abitur 1927 studierte er am Leipziger Konservatorium Tonsatz bei Hermann Grabner und Klavier bei Carl Adolf Martienssen, dann schloss sich ein Orgelstudium am Kirchenmusikalischen Institut Orgel beim Thomasorganisten Günther Ramin an.

    Bereits 1931 übernahm Distler das Organistenamt an St. Jakobi in Lübeck. In der Hansestadt entstand ein wesentlicher Teil des kirchenmusikalischen Werks.
    1933 heiratete er Waltraut Thienhaus. Die Familie bezeichnete Distler als »jene letzte und sicherste Sphäre, die wir heute haben müssen und uns zueignen, um überhaupt eine Existenzmöglichkeit zu haben.«
    Im gleichen Jahr übernahm er einen Lehrauftrag an der Kirchenmusikhochschule Berlin-Spandau.


    1937 wurde er als Dozent an die Württembergische Musikhochschule Stuttgart berufen und übernahm zudem die Leitung der Esslinger Singakademie.


    Nachdem Distler bereits 1935 bei den Kasseler Musiktagen für Aufsehen gesorgt hatte, ereilte ihn ein Jahr nach der Aufführung seines »Mörike-Chorliederbuches« Op.19 beim »Fest der deutschen Chormusik« 1939 in Graz der Ruf als Professor an die Berliner Hochschule für Musik.
    Zu dieser Zeit entstand auch seine Schrift „Funktionelle Harmonielehre“.
    Ein halbes Jahr vor seinem Tod übernahm er in der Hauptstadt noch die Leitung des Staats- und Domchors, obwohl seine kompositorische Arbeit von den braunen Machthabern bereits als „entartet“ eingestuft worden war.


    Zu dieser Zeit, da Berlin Ziel immer heftiger werdender Luftangriffe wurde, waren seine Frau und seine Kinder an die Ostsee evakuiert worden.
    Aus der für den sensiblen Distler unerträglichen Isolation schrieb der Komponist an Waltraut:


    »Weißt Du, in mir hockt dauernd jene nicht zu beschreibende Einsamkeit, das Gefühl, von allem und jedem getrennt zu sein.«


    Der Tod mehrerer Freunde, Repressalien durch das Regime und die drohende Einberufung zum Wehrdienst ließen Distler schließlich kapitulieren. Obwohl er am vorherigen Tage den Bescheid über die Freistellung von der Wehrmacht erhalten hatte, steckte der seelisch und körperlich zerrüttete Künstler am 1. November 1942 seinen Kopf in den Gasofen seiner Wohnung. Seine Haushälterin, die ich durch Zufall kennen gelernt habe, fand den Leichnam.


    Im Abschiedsbrief an seine Frau fanden sich folgende Zeilen:


    »Ich habe nur noch eine Bitte in der Welt: Dass Du mir nicht zürnst. Wer weiß wie Du, welche Lebensangst in mir gesessen hat, seit ich lebe? Alles, was ich schaffte, stand unter diesem Zeichen.«


    Hugo Distler ist beigesetzt in Stahnsdorf bei Potsdam.




    Distler war, neben Ernst Pepping, Kurt Thomas, Johann Nepomuk David, Helmut Bornefeld und dem (allerdings nicht komponierenden) Thomaskantor Karl Straube Hauptprotagonist der deutschen Erneuerungsbewegung in der Evangelischen Kirchenmusik in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, die sich auch gegen die Anfeindungen solcher Institutionen wie dem „Reichsverband evangelischer Kirchenmusiker Deutschlands“ immer mehr durchsetzte.


    Die Kirchenmusiker entdeckten die alte Musik und ihr Instrumentarium wieder – die ersten HIPs.
    Sie kehrten zu den reformatorischen Liedern und zu den liturgischen Formen vor der Aufklärung zurück.
    Kirchenmusikalische Erneuerung bedeutete für sie auch Abschied von einer Tradition, für die die Mendelssohnsche Wiederentdeckung und Aufführung der Matthäus-Passion mit einem gigantischen Besetzungsaufgebot einen Meilenstein dargestellt hatte.
    Die Reformation der Reformierten beinhaltete somit Rückkehr zu einfachen linearen und polyphonen Strukturen in der Komposition sowie maßvolle Mittel bei der Aufführung.


    So ist Distlers Musik gekennzeichnet durch unabhängige Linienführung in den einzelnen Stimmen zu Lasten einer vertrauten Harmonik, gleichsam physiologische - Atemzeichen sind integraler Bestandteil der Notation - Phrasierung, modale Skalen (irgendwo gibt’s einen Thread zu den Kirchentonarten), pentatonische Elemente, häufige Taktwechsel und Polyrhythmik.
    So entstehen filigrane, im Sinne der klassischen Harmonielehre nicht zwingend analysierbare Strukturen, die gegebenenfalls stark dem Text untergeordnet sind und deren Gesamtklang nahezu archaisch anmutet.


    Die Anforderungen an Ausführende sind scheinbar gering, ein „unverbildetes Ohr“ ist vielleicht die beste Voraussetzung für authentische Reproduktion oder auch offene Rezeption.
    So wenden sich Distlers Werke bei aller künstlerischen Brillanz nicht zuletzt an Kinder – so komponierte der zeitweilige Knabenchorleiter im „Jahreskreis“ für Alt und Sopran, wobei er selbst die dritte Bass-Stimme mitsang - und die im besten Sinne „normale“ Kirchengemeinde.




    Werke:


    Konzertante Sonate für zwei Klaviere Op.1 (1931)


    Motette für zwei gemischte Chöre Op.2 »Herzlich lieb hab ich Dich, o Herr« (1931)

    »Deutsche Choralmesse« für sechsstimmigen gemischten Chor Op.3 (1932)

    »Kleine Adventsmusik« für Kammerchor, Instrumente und Sprecher Op.4 (1932)

    »Der Jahreskreis« 52 zwei- und dreistimmige Chormusiken Op.5 (1933)

    »Kleine geistliche Abendmusik» Op.6/1 »Christ, der du bist der helle Tag« (1933)

    »Drei kleine Choralmotetten» für gemischten Chor Op.6/2 (1933)

    »Choral-Passion» für fünfstimmigen gemischten Chor und zwei Vorsänger Op.7 (1933)

    Orgelpartita Op.8/1 »Nun komm, der Heiden Heiland« (1933)

    Orgelpartita Op.8/2 »Wachet auf, ruft uns die Stimme« (1935)

    Kleine Choralbearbeitungen Op.8/3 (1938)

    Weltliche Kantate für vierstimmigen Chor, Sopran-Solo und Streicher Op.9/1 »An die Natur« (1933)

    »Die Weihnachtsgeschichte« für vierstimmigen gemischten Chor und vier Vorsänger Op.10 (1933)

    Choralkantate für vierstimmigen Chor, 4 Singstimmen, Streicher, 2 Oboen und Cembalo Op.11
    »Wo Gott zum Haus nit gibt sein Gunst« (1935)


    »Geistliche Chormusik« Op.12 (1934-1941)
    -Nr. 1: »Singet dem Herrn«
    -Nr. 2: »Totentanz«
    -Nr. 3: »Wach auf, du dt. Reich«
    -Nr. 4: »Singet frisch u. wohlgemut«
    -Nr. 5: »Ich wollt, daß ich daheime wär«
    -Nr. 6: »Wachet auf, ruft uns die Stimme«
    -Nr. 7: »In der Welt habt ihr Angst«
    -Nr. 8: »Das ist je gewißlich wahr«
    -Nr. 9: »Fürwahr, er trug unsere Krankheit«


    Liturgische Sätze über altevangelische Kyrie- und Gloria-Weisen für Tenor und gemischten Chor Op. 13


    Konzert für Cembalo und Streicher Op.14 (1936) (von den Nationalsozialisten in der Wanderausstellung „Entartete Kunst” als „abschreckendes Beispiel“ vorgeführt.)


    Sonate für zwei Violinen und Klarinette Op.15a (1938)

    »Neues Chorliederbuch« Op.16 (1936-1938)
    -I: Bauernlieder
    -II: Minnelieder I
    -III: Minnelieder II
    -IV: Kalendersprüche I
    -V: Kalendersprüche II
    -VI: Kalendersprüche III
    -VII: Kalendersprüche IV
    -VIII: Fröhliche Lieder


    Geistliche Konzerte für hohe Singstimme und Orgel Op.17 (1938)

    Dreißig Spielstücke für die Kleinorgel Op.18/1 (1938)

    Orgelsonate (Trio) Op.18/2 (1939)

    »Mörike-Chorliederbuch« Op.19 (1939)
    -Erster Teil für gemischten Chor
    -Zweiter Teil für Frauenchor
    -Dritter Teil für Männerchor

    »Musik für vier Streichinstrumente« a-moll Op. 20/1 (»Konzertstück« für zwei Klaviere Op.20/2 (1939)


    Überdies Werke ohne Opuszahl, so:


    »Kleine Choralkantate« für Sopran, Tenor, vierstimmigen gemischten Chor, Streicher und Orgel
    »Nun danket all und bringet Ehr« (1941), Kammerkonzert für Cembalo und elf Soloinstrumente (1930/32), Kammermusik für Flöte, Oboe, Violine, Viola, Violoncello und Klavier (1929)



    audiamus
    .

  • Woraus ist die Psalmvertonung: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen..."?
    Die habe ich vor sehr langer Zeit mal im Radio gehört und war recht fasziniert. Gibt es die auf CD? (oder ist sie am Ende nicht von Distler, sondern von einem so ähnlich komponierenden Zeitgenossen?)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber audiamus,


    vielen Dank für diesen schönen Thread über Distler, der auf jeden Fall einen verdient hat.
    Ich habe ein paar Sachen von ihm schon gesungen. Es gibt ja auf nahezu jedes bekannte Kirchenlied eine Distler-Version.
    Auch wenn mir nicht alles so sehr zusagt, da es teilweise schon sehr herb und polyphon klingt, habe ich doch großen Respekt vor seinem Werk.
    Mein Lieblingsstück ist: "Lobe den Herren, den mächtigen König".



    Gruß, Peter.

  • Lieber Peter,


    Du hast schon Recht, es ist spröde, aber wunderbare Musik.
    Meinen Zugang hatte ich gefunden mit "Verleih' und Frieden gnädiglich".


    Lieber Johannes,


    von Distler weiß ich da nichts. Vielleicht Burkhard oder Abel?


    Gruß,



    audiamus


    .

  • Zitat von Johannes Roehl

    Woraus ist die Psalmvertonung: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen..."?


    JR


    Lieber Johannes,


    Du meinst jetzt aber nicht die Vertonung Mendelssohns aus dem Elias, oder?


    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

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  • Hallo Audiamus, nun bist Du mir mit dem Distler-Thread zuvorgekommen, den ich explizit zum 100. Geburtstag ins Forum stellen wollte, ging ich doch davon aus, daß NIEMAND ausser mir sich dafür tiefgreifender interessieren würde.
    Jetzt hoffe ich erstmal, daß sich sich hie ein möglichst facettenreicher Disput entwickelt, den Distlers Stern ist, nach hellem Aufleuchten in den 50ger und 60gern, langsam aber sicher untergegangen...


    Trotzdem besteht die Möglichkeit, sein Werk als Konserve (z.T. in durchaus beachtlichen Einspielungen) kennen zu lernen und ich werde so nach und nach die wesentlichen Scheiben hier besprechen.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat von BigBerlinBear

    Hallo Audiamus, nun bist Du mir mit dem Distler-Thread zuvorgekommen, den ich explizit zum 100. Geburtstag ins Forum stellen wollte..


    Dir bleibt ja noch ein 446. Geburtstag im April. :D


    Distler kam mir immer so protestantisch gegenbewegt karg vor, richtig anfreunden konnte ich mich nie mit seiner Musik.

  • Zitat

    Distler kam mir immer so protestantisch gegenbewegt karg vor, richtig anfreunden konnte ich mich nie mit seiner Musik.


    Das ist das 100fach wiedergekäute Vorurteil, das jeder, der sich mal mit Distler beschäftigte, seit den 50gern als Running Gag zu hören bekommt und das wie ein Kettenbrief oder wie das Ungeheuer von Loch Ness weiterhin fröhliche Urständ feiert.


    Ich denke, daß man auch Distler, wie alle große Musik, die sie zweifellos ist, so oder eben auch "so" interpretieren kann. Darin ist er dem Sagittarius nicht unähnlich, von dem du ja auch "anämische" und "sanguinische" Einspielungen kennst ! :pfeif:


    Gib mir mal über pvt. deine email und anhand einiger Klangbeispiele kann ich schon dokumentieren, daß das mit der protestantischen Gegenbewegung resp. Kargheit so nicht stimmt.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat von BigBerlinBear

    Das ist das 100fach wiedergekäute Vorurteil, das jeder, der sich mal mit Distler beschäftigte, seit den 50gern als Running Gag zu hören bekommt und das wie ein Kettenbrief oder wie das Ungeheuer von Loch Ness weiterhin fröhliche Urständ feiert.


    Ich denke, daß man auch Distler, wie alle große Musik, die sie zweifellos ist, so oder eben auch "so" interpretieren kann. Darin ist er dem Sagittarius nicht unähnlich, von dem du ja auch "anämische" und "sanguinische" Einspielungen kennst ! :pfeif:


    Gib mir mal über pvt. deine email und anhand einiger Klangbeispiele kann ich schon dokumentieren, daß das mit der protestantischen Gegenbewegung resp. Kargheit so nicht stimmt.

    Danke, für das Angebot, das ich auch gern annehme.
    Nur fand ich das auch angesichts von alten Rundfunkaufnahmen mit ihm selbst an der (Totentanz-?)Orgel. Folglich ist es wohl kein Kettenbrief-Vorurteil. :no:
    An seiner Größe und Bedeutung zweifle ich ja gar nicht.


    Und lenk nicht immer – wenn auch noch so temperamentvoll – von Sweelinck ab. :D

  • Zitat

    ging ich doch davon aus, daß NIEMAND ausser mir sich dafür tiefgreifender interessieren würde.

    Lieber BBB,


    mir ging es da ähnlich, dachte, ich sei allein auf weiter Flur und ergriff die Gelegenheit, meinen Cantus zum Kantor beizusteuern, bevor er unbesungen bliebe.
    Doch habe ich diesen Thread lediglich gestartet, und da ich Distler mehr von der praktizierenden Seite her kenne denn von der rezeptiven, bin ich sehr gespannt auf Deine CD-Besprechungen und andere Dinge, die es zu Hauf meiner kurzen Einführung hinzuzusetzen gibt.


    Was den untergehenden Stern Distlers betrifft:
    Zumindest in der derzeitigen - nicht nur evangelischen - Chorlandschaft hat der Komponist nach meiner Erfahrung durchaus immer noch einen festen Stellenwert, besonders in Hinblick auf Einbindung von Kirchenmusik in den "liturgischen Alltag".


    Auch so manche weltliche Werke, allen voran das Mörike-Buch, halte ich für durchaus populär.
    Das ist auch erklärbar, da sich die Aufführung von Distlers Werken auch und gerade für nicht extremer versierte Chorvereinigungen anbietet.


    Gruß,
    audiamus
    .

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  • ...letzteres will ich meinen !
    Bzgl. meiner kurzen (2jährigen) Kirchen-Chor-Zeit denke ich besonders gerne an unsere Aufführungen des "Totentanzes" zurück !!


    NICHT weil ich`s kompositorisch soo herausragend ggb. unseren anderen Projekten fand,
    aber DEN hatten wir wohl wirklich fast "rundfunkreif" hingekriegt !!!


    :yes: :hello:
    Micha

  • Distler karg und anämisch? - Aha. Man lernt doch nie aus...
    Für mich ist Distler, ich sag's kurz und knapp, ein Genie.
    Distler komponierte eine Musik, die zwar konzentriert ist, aber auf mich nie ausgeblutet wirkt. Sie ist mit höchster satztechnischer Meisterschaft geschrieben, die Klangsymbolik ist virtuos gehandhabt. Und es gibt bei Distler einen eigenen Ton: Das ist keine wirkliche Hindemith-Nachfolge, aber auch kein wirklicher Nachromantiker. Das Kammerkonzert für Cembalo und 11 Soloinstrumente verbindet expressionistische und neoklassizistische Tendenzen zu einem der wirkungsvollsten Werke des Genres - trotz meiner Liebe zu Poulenc zögere ich nicht, Distlers Werk über dessen "Concèrt champêtre" zu stellen. Das andere Cembalokonzert Distlers ist dann abgeklärter Neoklassizismus, aber ebenfalls nicht spröde, sondern wunderbar melodiös und elegant im Satz.
    Zwei Chorwerke möchte ich ebenfalls nennen, da sie für mich wirklich bedeutende Musik sind: "Totentanz" und "Choralpassion". Distler erzeugt hier mit reduzierten Mitteln eine Musik, die auf äußerliche Wirkungen verzichtet und dennoch - oder wahrscheinlich gerade deshalb - unmittelbar berührt. Zumindest mit den Cembalokonzerten und diesen beiden Chorwerken erhebt sich Distler weit über den "protestantischen Kirchenkomponisten", als den man ihn oft bezeichnet. Sein Glaube mag die Grundlage seiner Musik gewesen sein, aber nicht ihr einziger Inhalt.
    :hello:

    ...

  • Zitat von Edwin Baumgartner

    Distler karg und anämisch?

    "Anämisch" hatte BBB unterstellt, dagegen muss ihn niemand in Schutz nehmen. "Karg" ist für mich kein Schimpfwort – hätte ich es abwertend gemeint, hätte ich wohl "anämisch" geschrieben. :D



    Zitat

    - Aha. Man lernt doch nie aus...

    Du sagst es. :yes:



    Zitat

    Für mich ist Distler, ich sag's kurz und knapp, ein Genie.

    Lass das erst mal Loge lesen. :D
    Aber auch das hatte niemand – und ich schon gar nicht – in Abrede gestellt.



    Zitat

    Distler komponierte eine Musik, die zwar konzentriert ist, aber auf mich nie ausgeblutet wirkt. Sie ist mit höchster satztechnischer Meisterschaft geschrieben, die Klangsymbolik ist virtuos gehandhabt. Und es gibt bei Distler einen eigenen Ton: Das ist keine wirkliche Hindemith-Nachfolge, aber auch kein wirklicher Nachromantiker.

    Genie, Meisterschaft, Virtuosität – alles unbestritten. Und sicher hat er seine eigene Klangsprache gefunden.
    Trotzdem kann ich für diese Musik keine Leidenschaft entwickeln. Mir ist das zu karg. Das hält sich für meinen Geschmack zu sehr, zu oft auf einer – wie soll ich's sagen? – pessimistischen, klagenden Seite auf.
    Gerade die Chorstellen, die mir BBB geschickt hat (herzlichen Dank an dieser Stelle), mögen wunderbar und fein gemacht sein. Sie sind auch wahrhaftig beeindruckend. Aber mir bleibt Distler in seinen geistlichen Vokal- und Orgelkompositionen zu einseitig.



    Zitat

    Das Kammerkonzert für Cembalo und 11 Soloinstrumente verbindet expressionistische und neoklassizistische Tendenzen zu einem der wirkungsvollsten Werke des Genres - trotz meiner Liebe zu Poulenc zögere ich nicht, Distlers Werk über dessen "Concèrt champêtre" zu stellen. Das andere Cembalokonzert Distlers ist dann abgeklärter Neoklassizismus, aber ebenfalls nicht spröde, sondern wunderbar melodiös und elegant im Satz.

    Mit diesem "Genre" habe ich ein anderes, grundsätzliches Problem. Selbst wenn man es mit besserem Instrumentarium der Zeit – meinetwegen einem Maendler-Schramm aus den 30ern – aufführt, wird es ein ziemliches Gezirpe und Gerassel. Man müsste gegen den Strich bürsten und dafür alte Instrumente bzw. Kopien verwenden, dann könnte ich mich eher damit anfreunden.
    Die Qualität der Kompositionen betrifft das nicht (bevor wieder jemand meckert).



    Zitat

    Zwei Chorwerke möchte ich ebenfalls nennen, da sie für mich wirklich bedeutende Musik sind: "Totentanz" und "Choralpassion". Distler erzeugt hier mit reduzierten Mitteln eine Musik, die auf äußerliche Wirkungen verzichtet und dennoch - oder wahrscheinlich gerade deshalb - unmittelbar berührt. Zumindest mit den Cembalokonzerten und diesen beiden Chorwerken erhebt sich Distler weit über den "protestantischen Kirchenkomponisten", als den man ihn oft bezeichnet. Sein Glaube mag die Grundlage seiner Musik gewesen sein, aber nicht ihr einziger Inhalt.

    Ich weiß jetzt nicht, ob ich die noch im Ohr habe, aber dunkel im Hinterkopf scheint da wieder "vertonte Depressionen" auf.
    Seit wann muss man sich eigentlich über den "protestantischen Kirchenkomponisten" erheben? Bach war auch einer. Oder ist das doch ein neues Schimpfwort?


    Die wahre Krise der prot. Kirchenmusik findet heute statt, nicht zu Distlers Zeiten – aber das ist eine andere Geschichte.


    Bleibt mir, allen viel Freude mit Distler zu wünschen. Ich habe sie nicht, aber das ist ja schließlich mein Problem. :yes:

  • NeeNee ;)
    hab diverse "Totentanz"-Klänge noch etwas "lichter im Hinterkopf" (wir hatten ihn wohl mehr als 2, 3mal aufgeführt u. entspr. häufiger geprobt)
    ...hatte damals (mit 18, 20) durchaus - und nicht zu knapp - meine depressiven Phasen,
    aber wüsste nicht, dass mich (jedenfalls) DIESES Distler-Stück mal "belastet" hätte..........


    :hello:
    Micha


    (nun streit ich schon fast für Distler 8)
    - er ist halt aus Mittelfranken ... und die meistem Frankonen sind Patrioten - da is nix zu machen ;))

  • Zitat von pieter.grimes

    NeeNee ;)
    hab diverse "Totentanz"-Klänge noch etwas "lichter im Hinterkopf" (wir hatten ihn wohl mehr als 2, 3mal aufgeführt u. entspr. häufiger geprobt)
    ...hatte damals (mit 18, 20) durchaus - und nicht zu knapp - meine depressiven Phasen,
    aber wüsste nicht, dass mich (jedenfalls) DIESES Distler-Stück mal "belastet" hätte..........

    Gut, dann hör ichs mir eben nochmal an. Aber nicht heute oder morgen.



    Zitat

    - er ist halt aus Mittelfranken

    Fränkisch hat er jedenfalls nie geklungen, die harten Vokale kommen schon noch vor. :D

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  • Hallo Hildebrandt,


    könnte es sein, daß Dir an sich A-cappella nicht so zusagt?
    Für mein Empfinden klingen Distlers Chöre nicht spröder oder karger als vergleichbare Arbeiten von Pepping oder Hindemith.


    :hello:

    ...

  • Zitat von Edwin Baumgartner

    könnte es sein, daß Dir an sich A-cappella nicht so zusagt?

    Ganz im Gegenteil. Ich sterbe für frühkirchliche Messen ebenso wie für Perotin, Ockeghem, Palestrina, Byrd, Bach, Brahms und wie sie alle heißen.



    Zitat

    Für mein Empfinden klingen Distlers Chöre nicht spröder oder karger als vergleichbare Arbeiten von Pepping oder Hindemith.

    Vielleicht ein Gendefekt oder eine frühkindliche Prägung, dass mir beispielsweise jemand mein Förmchen geklaut hat, während er dazu Distler sang – ich weiß es nicht.
    Aber ich hab es ja schon geschrieben, ich versuchs noch einmal bei Gelegenheit, vielleicht gibt mir Distler noch eine Chance.

  • Ich möchte hier auf zwei Einspielungen von Distlers Chorwerken hinweisen, die ich für maßstäblich halte:



    Das Berliner Vokalensemble aggiert wirklich hervorragend. Unbedingte Empfehlung! :yes:


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Die Einspielungen des Berliner Vokalensembles unter Stegemann mögen verdienstvoll sein, die unverkennbare Intonationsunsischerheitn jedoch liessen sie KEINEN Platz auf meiner Referenz-Liste finden, zumal sich von BEIDEN Einspielungen klangschönere Alternativen finden.


    Es ist in diesem Zusammenhang be Distler ähnlich wie bei Schütz: eine vermeintlich leichte bzw. "sängerfreundliche" Umsetzbarkeit der Werke ist KEINE Garantie dafür, diese auch in ihrer ganzen Fülle und Schönheit entfalten zu können.


    Uwe Gronostay hat mit dem "Niederländischen Kammerchor" sowohl den "Totentanz" wie auch die "Choralpassion" in Einspielungen vorgelegt, die wohl noch länger maßstabsetzend bleiben dürfte.


    Präsentiert wird ein Distler, der hier frei ist von Zwängen protestantischer
    Kleinteiligkeit und das in einer von der lupenreinen Intonation und einem in allen Spektralfarben von innen heraus leuchtendem Chorklang, der geradezu süchtig macht. Wer so den Komponisten von seiner besten Seite kennenlernen mag, der schlage hier ungebremst zu.


    Die Motetten der "Geistlichen Chormusik" liegen in einer Einspielung des um Distler und die Komponisten seines Umfeldes ausserordentlich verdienten Konrad von Abel mit dem Monteverdi Chor München vor.


    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

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  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Die Einspielungen des Berliner Vokalensembles unter Stegemann mögen verdienstvoll sein, die unverkennbare Intonationsunsischerheitn jedoch liessen sie KEINEN Platz auf meiner Referenz-Liste finden, zumal sich von BEIDEN Einspielungen klangschönere Alternativen finden.


    Ich hab die Aufnahmen ein kleine Weile nicht mehr angehört, aber die für Dich offensichtlich gravierenden Intonationsprobleme des Chores konnte ich beim letzten Hören nicht feststellen ?( Mir erschien der Chor vor allem beeindruckend homogen und sehr präzise wie durchsichtig. Aber Du hast offensichtlich auch Vorbehalte ob der Interpretation? Kannst Du das genauer ausführen?


    Zitat

    Uwe Gronostay hat mit dem "Niederländischen Kammerchor" sowohl den "Totentanz" wie auch die "Choralpassion" in Einspielungen vorgelegt, die wohl noch länger maßstabsetzend bleiben dürfte.


    Der Niederländischen Kammerchor ist natürlich ein Spitzenensemble, insofern glaube ich Deine Begeisterung auch ungehört. :yes:


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Hallo JR:


    Zitat

    Woraus ist die Psalmvertonung: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen..."?


    Meines Wissensnach hat Distler das NICHT vertont.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • "Geistliche Chormusik"


    Nun ist mein Wunsch doch in Erfüllung gegangen und im Distler-Jahr liegt jetzt die 1. Einspielung der "Geistlichen Chormusik" vor, die einigermaßen Anspruch auf Vollständigkeit beanspruchen darf.


    Die Interpreten sind das "Vocalconsort Berlin" ein relativ junges, klein besetztes Ensemble, dem es gelingt, den Pfaden der sensiblen und zerbrechlichen Distlerschen Harmonie-Führung bis in die feinsten Verästelungen nachzugehen. Die Doppel-CD bringt die Geistliche Chormusik erstmals komplett mit Totentanz. Auf CD 2 wurde die ein wenig "leichtgewichtigere" , aber keinesfalls unbedeutendere "Weihnachtsgeschichte "
    eingespielt. Dargeboten wird das alles auf höchstem sängerischen und textausdeutedem Niveau so daß es völig berechtigt war, diese Einspielung auf die Quartalsliste des "Preises der deutschen Schallpalttenkritik" zu setzen,
    wozu ich den Sängern und dem Dirigenten Klaus-Martin-Bresgott herzlich gratuliere.


    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Hallo JR:



    Meines Wissens hat Distler das NICHT vertont.


    Das scheint wohl so zu sein. Dann eben die Anschlußfrage: Von wem könnte das sonst stammen? Es müßte sich um eine etwas archaisierende Vertonung ungefähr aus der Zeit Distlers handeln...
    (definitiv ist es in der Lutherischen Fassung "...von welchen mir Hilfe kommt" statt (wie in neueren Texten korrigiert) "Woher kommt mir Hilfe?" o.ä.)


    Google spuckt eine Vertonung dieses Psalms 121 von Willy Burkhard aus. Natürlich finde ich davon keine Hörprobe. Aber vielleicht kennt es von den Chormusikern hier ja jemand.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hatte bereits schon einmal Burkhard oder Abel vorgeschlagen. Von beiden gibt es Vertonungen über die Textvariante "Ich hebe meine Augen auf".

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  • Lieber JR,
    für welche Besetzung soll das sein? Es gibt eine Vertonung von Gottfried von Einem für Chor und Orchester, sie ist ein Satz der Kantate "An die Nachgeborenen". Langsames Tempo, archaisierender Klang mit einem Hauch Mahler, einige Synkopen.
    :hello:

    ...

  • Hallo JR, deine Anfrage ist wirklich schwer zu beantworten: Brecht fällt mir dazu ein:


    "Und der Blinde frug den Tauben/Was herumkroch in den Stauben ! :D


    PS: Den 4stmgen Burkhard-Psalm aus op. 83 könnte ich Dir bei Bedarf als PDS-Datei schicken.Vielleicht vereinfacht das die Suche.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Hallo JR, deine Anfrage ist wirklich schwer zu beantworten: Brecht fällt mir dazu ein:


    "Und der Blinde frug den Tauben/Was herumkroch in den Stauben ! :D


    PS: Den 4stmgen Burkhard-Psalm aus op. 83 könnte ich Dir bei Bedarf als PDS-Datei schicken.Vielleicht vereinfacht das die Suche.


    Ich habe das Stück einmal vor ca. 17 Jahren im Radio gehört bzw. es kann sein, daß ich es mal eine Zeitlang auf einer aus dem Radio mitgeschnittenen Kassette hatte, weil es als Füller nach einem längeren Stück gesendet worden war.
    Es ist ziemlich sicher ohne Orchester, sonder accappella oder evtl. mit Orgel. Kein langes Stücke (3-6 min schätze ich). Es klang für mich damals "archaisch". Es beginnt eher getragen und ich meine, daß es zwischendurch bewegter wird (beim Text "der Hüter Israels schläft und schlummert nicht").


    Es ist auch nicht so wichtig, würde das Stück eben nur gerne identifizieren und mal wieder hören, weil es mir damals gefallen hat.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Na das spricht schon für das stück aus op. 83

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zumal es eine "archaisierende" Tonsprache spricht.
    Das Ding ist im Netz einzusehen:
    "www.kantorajo.ch/archiv/daten/kleiner_psalter_ps121.pdf"



    .

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