Zur Aufführungsgeschwindigkeit von Bach

  • Hallo,


    die Geschwindigkeit, mit der ein Musikstück wiedergegeben sollte, letztendlich weiß es nur der Komponist...


    Ich höre grade eine sehr langsame Aufführung der Matthäus-Passion und bin nicht begeistert. Die 'flinke' McCreesh Interpretation gefällt mir sehr viel besser...


    Bach mußte viel produzieren und in seinen Gedanken ging es vielleicht: Schnell, schnell, schnell


    Und schnell gespielt, ist Bach am schönsten :)


    Gruß,
    Olli

  • DER Olli?


    GratULLIert!


    :jubel: :jubel: :jubel:

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Bachs Sohn Emanuel schrieb über seinen Vater: "Seine Tempi nahm er gewöhnlich schnell" !


    Ein Leipziger Bürger, etwa 50 Jahre nach Bachs Tod befragt, erinnert sich "noch den sel. Seb.Bach gehört zu haben", ebenfalls einer wohl doch sonst so nicht üblichen "Geschwindigkeit" beim Leiten eines Ensembles...
    Richtig vewertbar ist das alles nicht, da um diese Aussagen zu präszisieren, mehr von Nöten wäre, als Worte.


    Daß explizit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Tempi "romantisch" verlangsamt wurden, ist bekannt. Bachs Musik hat das alles überlebt, ohne wirklichen Schaden zu nehmen.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger hat doch die Tempi seines Lehrers genau dokumentiert!
    in moderner Literatur zu lesen bei Klaus Miehling, Das Tempo in der Musik von Barock und Vorklassik, Wilhelmshaven: Noetzel 1993
    Ja, die Tempi waren in der Regel flotter als die Richter-Generation es dachte, aber die ganz langsamen waren auch langsamer.

  • Von geradezu "rasender" Geschwindigkeit sind z.b. die Händel-Stücke, die der Sekretär Händels, John Christopher Smith jr. für eine Spieluhr im Jahr nach Händels Tod, 1760, eingerichtet hat. Selbst Altvertrautes war fast nicht wiederzuerkennen.


    Miguel, mit der Berufung auf Kirnberger als Autorität in Sachen Bachscher Tempi wäre ich vorsichtig, weil man mit Sicherheit davon ausgehen kann, daß der "Alte" das keinesfalls statisch-unverrückbar, sondern höchst individuell
    angepackt haben dürfte. Emanuel, sonst in der Hinsicht immer an forderster Front, hat Kirnberger hier nicht bestätigt.


    Bei textgebundener Musik liegt man ganz sicher richtig, daß diese nicht schneller als der Sprachduktus es vorgibt, gesungen werden sollte, langsamer natürlich auch nicht.


    Negativbeispiel für schneller ist z.b. das "Ehre sei Dir Gott gesungen" aus Gardiners "Weihnachtsoratorium" aus 1987, wo der Text geradezu "geschnattert" wird und man das Gefühl bekommt, es würde ein Band mit überhöhter Geschwindigkeit abgespielt.


    Für "zu langsam" gibt es Beispiele, deren Zahl Legion ist, ich erinnere hier nur an beliebige Choräle in den Bacheinspielungen Karl Richters.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

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  • Sagitt meint.


    Mit der Geschwindigkeit ist dies so eine Sache.


    a) Gould exekutierte zügig die Goldbergvariationen, 1955, dies gefiel-nicht nur mir


    b) Gardiner raste durch die Bach-schen Werke, seit seiner h-moll Messe1985. Bei dieser wurde es damals sehr goutiert. Seine Matthäus-Passion ist durch das Tempo allein kritisierenswert. Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen in nicht einmal einer Minute.


    c) Goebel rast durch die Brandenburgischen Konzerte. Man hat den Eindruck, er hetzt. Wenn aber einer den Cembalo-Part im fünften Konzert ordentlich virtuos Spiel ( Andreas Steier) ist man zumindest beeindruckt.


    Zu schnell ? Einen allgemeinen Maßstab vermag ich nicht zu erkennen. Ich erlebe die Inkonsostenz des Wahrnehmens bei mir selber. Ich habe keinen allgemeinen Maßstab,sondern frage mich bei jeder Aufführung, finde ich das jetzt " angemessen" ( nicht gerade sehr präzise,ich weiss).

  • BBB entgegnet:


    Zitat

    Goebel rast durch die Brandenburgischen Konzerte. Man hat den Eindruck, er hetzt. Wenn aber einer den Cembalo-Part im fünften Konzert ordentlich virtuos Spiel ( Andreas Steier) ist man zumindest beeindruckt.


    Das 4. Brandenburgischen Konzert, bei dem Goebel die Piccolovioline wahnsinnig schnell aber dennoch hinreissend spielt, ist auch nach fast 25 Jahren noch immer meine Lieblingsaufnahme des Werkes.


    Alle anderen Einspielungen, die ich seitdem hörte, missfallen mir durch einen
    unverkennbaren Hang zur Glättung, der sie sehr schnell beiläufig und unverbindlich erscheinen lässt, also eine Art "Karajanisierung" der Barockmusik. Insgesamt gelingt Goebel die Illusion, den JUNGEN
    Komponisten Bach darzustellen, auf atemberaubende Weise nahezu perfekt, auch wenn ich durchaus nicht alle Details seiner Lesart nachvollziehen kann.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Die Goebel-Tempi sind von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen (hauptsächlich die Ecksätze des 6., der Kopfsatz des 4. und das Finale des 3.), inzwischen für HIP-Ensembles nichts Außergewöhnliches mehr. In den meisten langsamen Sätzen sind sie sogar langsamer als etliche HIP-Kollegen.


    Die Spieluhr-Forschungen geben sicher interessante Hinweise, aber man muß hier wohl auch vorsichtig sein, wegen technischer Begrenzungen bzw. Möglichkeiten, etwas gerade besonders rasant zu präsentieren, wenn ja, wegen der mechanischen Reproduktion andere Differenzierungsmöglichkeiten fehlen und Langeweile droht.


    Ich habe nichts gegen zügige Tempi, solange, wenn angemessen, ein gewisses Gewicht gewahrt bleibt.


    Alles 30% langsamer zu spielen, nur weil es "fromm", "erhaben" oder was immer sein soll, ist aber sicher keine Alternative ;)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Von geradezu "rasender" Geschwindigkeit sind z.b. die Händel-Stücke, die der Sekretär Händels, John Christopher Smith jr. für eine Spieluhr im Jahr nach Händels Tod, 1760, eingerichtet hat. Selbst Altvertrautes war fast nicht wiederzuerkennen.


    Über die hat mir mal ein Organist erzählt, die seien mit Vorsicht zu geniessen, weil man an den Tempi der Mechanik zu viel manipulieren könnte - etwas ähnliches sei bei den Welte-Mignon Orgelaufnahmen von Max Reger zu beobachten gewesen, als die mal bei Intercord auf Platte herauskamen, das sei physisch einfach nicht machbar gewesen, als sie versuchten, es im Studium so nachzuspielen.

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Das 4. Brandenburgischen Konzert, bei dem Goebel die Piccolovioline wahnsinnig schnell aber dennoch hinreissend spielt, ist auch nach fast 25 Jahren noch immer meine Lieblingsaufnahme des Werkes.


    Alle anderen Einspielungen, die ich seitdem hörte, missfallen mir durch einen
    unverkennbaren Hang zur Glättung, der sie sehr schnell beiläufig und unverbindlich erscheinen lässt, also eine Art "Karajanisierung" der Barockmusik.


    :hahahaha: Ich würde es eher eine"BigBerlinBearisierung" der Interpretationsgeschichte nennen. Das ist doch langsam unglaublich! Wofür soll der arme Mann denn noch alles verantwortlich sein. Karajans hat sich seinen Barockstil doch nicht ausgedacht. Das haben Furtwängler & Co. gar nicht anders gemacht (allenfalls noch etwas romantisch-schwerer). Karajans Aufnahmen der h-moll Messe oder der Matthäus-Passion stehen vollkommen in dieser deutsch-romantischen Tradition. Zum Zeitpunkt der 70er Matthäus-Passion war freilich schon Harnoncourts Lesart mit Macht aufgekommen. Auch war Karajan (wenn er auch immer mal einen Ausflug zu Bach unternommen hat) keinesfalls prägend in diesem Genre. Eher könnte man da zwischenzeitlich von einer "Richterisierung" der Barockmusik sprechen (auch das ist aber unmusikalisch). Es ist zudem auch nicht zutreffend, bei Karajans Barockstil von "Glätte" zu reden, nur weil er die Prinzipien der Klangrede nicht berücksichtigt. Es ist vielmehr im besten Sinne ein munteres, nach Schönheit suchendes, virtuoses "Drauflosmusizieren". Dies zu erkennen, erfordert allerdings mehr, als die Bücher Harnoncourts gelesen zu haben.


    Und dass in Sachen Brandenburgische Konzerte seit Goebel ein Streben nach "Glätte" Einzug gehalten habe (wobei ich unterstelle, dass BigBerlinBear ja doch einige Einspielungen gehört haben dürfte), kann ich bei all den engagierten und dünn besetzten HIP-Einspielungen, die seitdem erschienen sind, nicht nachvollziehen. Letztlich ist das aber eine Frage des Standpunkts. Wenn man nämlich eine extreme Lesart zum Maßstab erklärt, werden alle gemäßigten Nachfolger schnell zu "Glättern". Dann aber könnte "Glättung" auch angemessen sein.


    Loge

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  • Nein, natürlich nicht. Zumal ja auch das Beschwingte "fromm" sei kann.


    Dennoch, ich werde bei so mancher HIP-Interpretation das Gefühl nicht los, dass hier die Frömmigkeit, genauer gesagt die kontemplative oder auch pietistisch-innige Variante der Frömmigkeit ein leichtes Unbehagen erzeugt und gerne mal drüber hinweg musiziert wird.


    Ein Beispiel ist die kürzlich an anderer Stelle von Dir erwähnte Arie Ich will nur dir zu Ehren leben aus dem Weihnachtsoratorium. Die wird in allen HIP-Aufnahmen die ich kenne (Gardiner, Koopman, Jacobs) deutlich schneller gespielt als in der Richter-Aufnahme, dort von Fritz Wunderlich gesungen. Nur dort empfinde ich das Tempo aber als angemessen und Raum gebend für die innige Glut des Textes.


    Ein anderes Beispiel sind die Choräle, die bei den HIP-Aufnahmen für meinen Geschmack ebenfalls oft zu zügig genommen werden. Diese Choräle, meist Kirchenliedstrophen, stehen innerhalb der Oratorien und Kantaten für die Gemeinde, auch wenn diese selbst nicht singt. Deshalb gefällt mir unter anderem die Jacobs-Aufnahme des Weihnachtsoratoriums so gut, dort werden die Choräle nämlich deutlich langsamer gesungen als die Chöre.


    Mit Gruß von Carola

  • Zitat

    Original von Loge
    Und das in Sachen Brandenburgische Konzerte seit Goebel ein Streben nach "Glätte" Einzug gehalten habe (wobei ich unterstelle, dass BigBerlinBear ja doch einige Einspielungen gehört haben dürfte), kann ich bei all den engagierten und dünn besetzten HIP-Einspielungen, die seitdem erschienen sind, nicht nachvollziehen. Letztlich ist das aber eine Frage des Standpunkts. Wenn man nämlich eine extreme Lesart zum Maßstab erklärt, werden alle gemäßigten Nachfolger schnell zu "Glättern". Dann aber könnte "Glättung" auch angemessen sein.


    Loge


    Relativ von Goebel aus gesehen, ist das schon richtig. Er hat selber in einem Interview zugegeben, er würde es später nicht mehr alles so provokant machen. Trotzdem war seine viele Jahre später (leider nur im Konzert) präsentierte Lesart der Früh- und Spätfassungen der Brandenburgischen immer noch wesentlich "unglatter" als es im Moment üblich ist. Ich nehme an, die Kollegen wollten sich auch bewußt von Goebels bewußt rauher Spielweise abgrenzen, die ja auch von der Kritik bemängelt worden war. Viele Kollegen haben Goebel vorgeworfen, er könne keine Melodie schön spielen ...
    Goebels Tempi werden inzwischen sogar von der konventionellen Fraktion erreicht und sind z.T. schon überboten worden, das allein ist es nicht. Ausnahme ist das Menuett aus dem Ersten, da haben seine Mitspieler damals nicht mitgemacht, als er das deutlich schneller wollte. Rampe hat es dann als erster so schnell aufgenommen, wie es gehört, und Goebel im o.a. Konzert.
    Nachdem die Mauern nun mal niedergerissen sind, kann man eigentlich in Ruhe die Tempi nach gusto und Akustik austarieren. Wobei wir heute bestimmt etlich Affekte völlig anders assoziieren als Bachs Zeitgenossen. Das ist wie mit bildlichen und sprachlichen Symbolen.

  • Guten Tag



    Interessante Diskussion :yes:


    Zitat

    Original von Loge


    Und das in Sachen Brandenburgische Konzerte seit Goebel ein Streben nach "Glätte" Einzug gehalten habe (wobei ich unterstelle, dass BigBerlinBear ja doch einige Einspielungen gehört haben dürfte), kann ich bei all den engagierten und dünn besetzten HIP-Einspielungen, die seitdem erschienen sind, nicht nachvollziehen.


    Loge


    Gar nicht "Glatt" finde ich diese neueren Einspielungen der Brandenburgischen Konzerte:




    mit dem Ensemble Concerto Italiano


    oder auch die Einspielungen des 2., 3. + 4. Brandenburgischen Konzertes durch das Ensemble Cafe Zimmermann (Man möchte gerne noch die fehlenden BBK hören :yes: )



    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • "Karajanisierung der Barockmusik"


    Dank Loge hat Karajan jetzt auch ins Barock-Forum Einzug gehalten und
    jemand, er es vielleicht nicht doch besser wüsste, könnte wirklich auf die Idee kommen, dass er das Forum Tag für Tag und herauf und herunter nach dem Namen Karajan durchforstest, einfach nur um Unbill vom verehrten Meister abzuwehren und dafür Sorge zu tragen,dass der Weihrauch in den Opfergefäßen wohlwollend wallend weiterwabert… :D


    Übrigens: die Steilvorlage mit dem „Karajanismus in der Barockmusik“ gab Loge mir selber höchstpersönlich, und mein Herz hätte ein Affe sein müssen, das nicht sofort und auf der Stelle aufzugreifen. Ich meine dieses hier:


    Zitat Loge:


    Zitat

    . Die Aufnahme würde BigBerlinBear sicher große Freude bereiten, da Monteverdi hier ein schönes romantisches Klangkleidchen umgelegt wird


    Und genau dieses und nichts anderes meine ich mit meiner Formulierung.


    Ich vergleiche Karajans Bach keinesfalls mit dem eines Günter Ramin, Rudolf Mauersberger oder auch mit dem von mir, zugegeben, nicht geliebten Karl Richter; deren Einspielungen ohne Zweifel Format haben, während bei Karajan eben wirklich nichts weiter geschieht, als der im Grunde unverstandenen und wohl auch letzlich ungeliebten Musik Bachs eben jenes von Dir erwähnte „schöne schönes romantisches Klangkleidchen“ umzulegen.


    Nach meinem Verständnis kann er das wirklich nur aus marktstrategischen Gründen getan haben und kaum aus innerer Überzeugung.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Nach meinem Verständnis kann er das wirklich nur aus marktstrategischen Gründen getan haben und kaum aus innerer Überzeugung.


    Ich hatte nichts anderes von Dir erwartet.


    Loge

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  • Zitat

    Original von Carola
    Dennoch, ich werde bei so mancher HIP-Interpretation das Gefühl nicht los, dass hier die Frömmigkeit, genauer gesagt die kontemplative oder auch pietistisch-innige Variante der Frömmigkeit ein leichtes Unbehagen erzeugt und gerne mal drüber hinweg musiziert wird.


    Nur ein "leichtes" Unbehagen? Ich empfinde Bachs Kantatentexte zum Teil (aber durchaus nicht alle!!) als schwer erträglich. Sieh Dir als Beispiel den hier wiedergegebenen Text zur Kantate 47 an. Auch im Vergleich zur sonstigen religiösen Dichtung seiner Zeit einfach "Grottenschlecht", mit bösartiger Publikumsbeschimpfung ("Der Mensch ist Kot, Staub, Asch’ und Erde; Ist’s möglich, dass vom Übermut, Als einer Teufelsbrut, Er noch bezaubert werde?"). Solche Texte sind doch ein echtes Rezeptionshindernis. Auch wenn Bach dies noch so innig, vielschichtig, schön umsetzt, ein Unbehagen bleibt, und auf dieser Grundlage das "richtige" Tempo zu finden, dürfte wirklich sehr schwierig sein.


    Zitat


    Ein Beispiel ist die kürzlich an anderer Stelle von Dir erwähnte Arie Ich will nur dir zu Ehren leben aus dem Weihnachtsoratorium. Die wird in allen HIP-Aufnahmen die ich kenne (Gardiner, Koopman, Jacobs) deutlich schneller gespielt als in der Richter-Aufnahme, dort von Fritz Wunderlich gesungen. Nur dort empfinde ich das Tempo aber als angemessen und Raum gebend für die innige Glut des Textes.


    Ich glaube nicht, das man heute aus alten Zeitzeugenaussagen ("Seine Tempi nahm er gewöhnlich schnell") ein Maß für die heutige Praxis ableiten kann. Was galt denn damals als "schnell"?. Vielmehr muß man sich mit dem Inhalt der Musik auseinandersetzen, mit der "Klangrede", den Affekten und den eingesetzten Bildern. Die von Dir genannte Arie bereitet aber Schwierigkeiten, sie ist eine Parodie und der Text und die Musik der Übertragung im Weihnachtsoratorium klaffen auseinander. Im Originaltext der Kantate "Herkules auf dem Scheideweg" und in der Musik wird der mächtige Adler beschrieben, der seine Kreise zieht, höher und höher. Dieses Bild muß auch das Tempo (ebenso Artikulation und Phrasierung) bestimmen. Im Weihnachtsoratorium geht dieser Bezug verloren, meistens wird das Stück zu einem Koloratur-Bravourstück und verliert damit jeden Sinn und jede Delikatesse. Aus dem grandiosen "Adlerschweben" wird nunmehr ein unverständliches Gezappel.


    Zitat


    Ein anderes Beispiel sind die Choräle, die bei den HIP-Aufnahmen für meinen Geschmack ebenfalls oft zu zügig genommen werden. Diese Choräle, meist Kirchenliedstrophen, stehen innerhalb der Oratorien und Kantaten für die Gemeinde, auch wenn diese selbst nicht singt. Deshalb gefällt mir unter anderem die Jacobs-Aufnahme des Weihnachtsoratoriums so gut, dort werden die Choräle nämlich deutlich langsamer gesungen als die Chöre.


    Meines Erachtens können die Choräle kaum lebendig genug genommen werden. Wie Du sagst stehen sie für die Gemeinde. Für Luther hatte die Musik eine elementare Bedeutung, die Schaffung eines Kanons von Kirchenliedern hatte eine ähnliche Wichtigkeit wie die Bibelübersetzung. Theologisch ist die Beteiligung der Gemeinde im Gottesdienst eines der zentralen Anliegen der Reformation. Ideologisch konnte mit der Musik und dem Gemeindegesang - wie in der frühkirchlichen Gemeinde - ein hohes Maß an emotionaler Identifikation geschaffen werden. Luther konnte zum einen auf einen gewissen Schatz an alten Gemeindeliedern zurückgreifen, zum anderen wurden zahlreiche neue Gesänge geschaffen. Während wir heute Choräle in der Regel mit altem "Kirchengesang" identifizieren, waren diese "neuen" Choräle zu Luthers Zeit die lebendige, moderne, verbreitete Musik, die Art, weltliche Lieder zu singen, die nunmehr in die Kirche geholt wurden. So ist das Lied "Oh Haupt voll Blut und Wunden" ursprünglich ein Liebeslied, welches einen neuen, religiösen Text erhielt. Diese aktive Teilnahme der Gemeinde am Gottesdienst durch den gemeinsamen Gesang dürfte ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Reformation gewesen sein (und als Gegenentwicklung zog ja auch der Gemeindegesang wieder in die katholische Kirche ein, so dass heute da wenig Unterschiede spürbar sind). Zu Bachs Zeit nun hat sich der Kanon an Gemeindeliedern enorm erweitert, die Inhalte spiegelten die religiösen Strömungen seiner Zeit wie Orthodoxie und Pietismus wider, sie war aber sicher immer noch "lebendige Volksmusik". Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Gemeindegesang zu Bachs Zeit anders war als schlicht, zupackend, lebendig, Identifikation stiftend. Wenn der Choral also in der Kantate oder im Oratorium für die Gemeinde steht, dann sicher für die Gemeine so, dass sie den Choralgesang (und sein Tempo!) als "natürlich" empfindet und sie sich selbst wieder erkennt. Meines Erachtens schließt dies jede pathetischbe Überdehnung aus, ebenso wie lang ausgehaltene Fermaten an jedem Zeilenschluß oder höchstdifferenzierte Dynamik.


    Das Tempo eines solchen lebendigen Gemeindegesanges bestimmt auch bei groß angelegten Stücken den Gesamtcharakter. Im Eingangschor der Matthäuspassion ist es der Cantus-firmus Choral "O Lamm Gottes Unschuldig" der das Tempo vorgibt, der als quasi 4/4-Takt sich dem 12/8 dieses Stückes aufprägt. Albert Schweitzer beschreibt diesen Eingangschor so: "Der Musiker Bach... sah, wie man Jesum durch die Stadt zum Kreuze führte. Sein Auge erblickte die Volkshaufen, die sich durch die Straßen wälzten; er hörte wie sie sich anriefen und antworteten.... Darum ist es wohl nicht richtig, diesen Doppelchor als ein Tonstück aufzufassen, das einen idealen Schmerz schildert, und es dementsprechend fein abgetönt und im mehr langsamen Zeitmaß wieder zu geben. Es ist realistisch gedacht und stellt ein Wogen, Drängen, Heulen, Rufen dar.... So dürfte jedenfalls zutreffen, dass das Zeitmaß dieses Stückes gewöhnlich viel zu schleppend genommen wird..."


    Mein Fazit: Das "richtige" Tempo Bachscher Musik ergibt sich nicht aus irgendwelchen historisierenden und generalisierenden Hypothesen, sondern aus der Auseinandersetzung mit der Klangsprache dieser Musik im Einzelnen, ihren Inhalten, Bildern, Affekten. Dabei mag man zum Ergebnis kommen, dass in den meisten Fällen ein zügigeres Tempo als gewohnt der Musik viel besser entspricht, aber ebenso gelegentlich auch zum gegenteiligen Ergebnis kommen.


    Beste Grüße


    Manuel García
    ;( :)

  • der Frage nach dem richtigen Tempo bin ich immer nur auf der Musikhochschule begegnet,bei eifrigen Studenten, die etwas festlegen und abhaken wollen...oder bei Sängern, die zu faul sind, Flexibiblität zu üben.


    ein Interpret muß sich auf alle Versionen einstellen können.


    es gibt wenigstens drei richtige Tempi!


    die langsame Version
    die schnelle Version
    und der "goldene Mittelweg"


    Musik ist immer den Geschmacksurteilen unterworfen und jene verändern sich mit der Zeit (Gott sei Dank)


    die ewige Diskussion über die richtige Gehgeschwindigkeit (- Andante) kann die Beliebigkeit gut vor Augen führen.
    Menschen haben unterschiedliche Puls- und Blutdruckwerte und das Tempoempfinden ist IMO davon abhängig.
    einen Lebensrhythmus der Barockzeit konstruieren zu wollen - mithilfe der unterschiedlichen Fortbewegungsarten - halte ich für spekulativ.


    Ein Maßstab könnte die durchschnittliche Länge der Kompositionen sein... es gibt über die Musikgeschichte verteilt immer wieder Monsterkompositionen, die jeden Rahmen sprengen - hingegen ( Ulli! :hello: ) warum hat Mozart keine 80 minütigen Symphonien geschrieben?

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Zitat

    Original von tastenwolf
    Ein Maßstab könnte die durchschnittliche Länge der Kompositionen sein... es gibt über die Musikgeschichte verteilt immer wieder Monsterkompositionen, die jeden Rahmen sprengen - hingegen ( Ulli! :hello: ) warum hat Mozart keine 80 minütigen Symphonien geschrieben?


    Hm.


    Ich glaube, das wäre sehr ungesund für Mozart gewesen - den zeitlichen Rahmen hat er eigentlich niemals gesprengt. Zum einen würde er auf Deine Frage bestimmt à la Haydn antworten: "Man hat mich nie danach gefragt...", zum anderen [ich glaube auch à la Haydn]: "In 25 Minuten ist alles gesagt" [Haydn äußerte etwas ähnliches zum Streichquintett wegen der Anzahl der Stimmen, daß ihm eben derer viere ausreichen].


    Zu jener Zeit hätte eine 80minütige Sinfonie sicher für großes Aufsehen im eher negativen Sinne gesorgt... sogar noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Beethovens "Eroica" am Schluß eines monströsen Konzertprogrammes stand, moserten einige über die "Länge" von Beethovens Dritter...


    :no:


    Ulli


    [SIZE=7]P.S. Wenn er natürlich an Aufführungsgeschwindigkeiten von Harnoncourt dachte, sieht die Sache wiederum ganz anders aus... [/SIZE]:pfeif:

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Mozart *hat* verglichen mit den Zeitgenossen außergewöhnlich lange Stücke geschrieben. Mit allen Wiederholungen dauert der Kopfsatz der Prager Sinfonie ca. 18 min, also gut doppelt so lang wie ein durchschnittlicher damaliger Satz. Klar, das ist eine Ausnahme. Aber auch sonst sind Sätze Mozarts im Schnitt schätzungsweise 20-30% länger als die Haydns.


    Die Gesamtspieldauer von längeren Werken ist aber kein so guter Anhaltspunkt (sie spricht höchstens gegen extrem langsame Tempi). Denn das war man im Barock gewöhnt; ein Werk wie Händels Alexanderfest war mit ca. 100 min. für ein Abendprogramm zu kurz und mußte durch eine weitere Ode oder ähnliches ergänzt werden.


    Abgesehen von den teils recht präzisen Angaben, die jedenfalls aus dem 18. Jhd. zur Verfügung stehen (nach Pulswerten oder aus mechanischen Instrumenten) finde ich den Hinweis von Manuel Garcia wichtig: Man muß die musikalische Gestik und natürlich auch den Text im Blick haben. Wenn die Gemeinde die Choräle mitsingen soll, dann müssen die einigermaßen fließend genommen werden, sonst geht denen die Luft aus. Das ist natürlich ein bloß praktischer Hinweis, aber man sieht hier auch, daß es ein anderer Ansatz ist, ob die Choräle als meditative Ruhepunkte (lentissimo possibile e molto misterioso) oder als Partizipiationsmöglichkeit der Gemeinde.
    Natürlich müssen sich heutige Aufführungen, bei denen eh keine Gemeinde mitsingt, nicht danach richten. Aber man singe mal einen bekannten Choral vor sich hin, so daß die Worte nicht zerdehnt werden und man bequem atmen kann und vergleiche dann mit Einspielungen der "meditativen" Schule...


    :hello:


    JR

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    (Bob Dylan)

  • Hallo,


    ich habe mich mit dem 'schnellen' Bach sehr schwer getan. Über Simon Prestons schnelles Orgelspiel habe ich mich lange geärgert, bis die Erkenntnis kam :) und 'es passte'. Es war ein Verschmelzen mit dem Menschen Bach, wie er in Luc-Andre Marcels Biographie bildreich dargestellt wird.


    Gruß,
    Olli

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  • Zitat

    Original von Oliver
    Über Simon Prestons schnelles Orgelspiel habe ich mich lange geärgert, bis die Erkenntnis kam


    Naja, wer schon so heißt... :D


    Zitat

    Original von BBB
    Von geradezu "rasender" Geschwindigkeit sind z.b. die Händel-Stücke, die der Sekretär Händels, John Christopher Smith jr. für eine Spieluhr im Jahr nach Händels Tod, 1760, eingerichtet hat. Selbst Altvertrautes war fast nicht wiederzuerkennen.


    Da frage ich mich bzw. Dich, lieber BBB, ob die Beschreibung der Geschwindigkeit auf Smith zurückgeht oder ob eine Erfahrung der Jetztzeit, in der man die Spieluhren abgespielt hat, vorliegt!?


    Diese Musikautomaten sind theoretisch nämlich ein sehr guter Datenlieferant für die "perfekten" Tempi von bestimmten Stücken - vorausgesetzt, man wird die Automaten auch so bedienen [können], daß sie das "richtige" Tempo treffen. Viele der heute unrestaurierten Automaten haben ein deutlich zu hohes oder ein technisch bedingt schwankendes und/oder schneller/langsamer werdendes Tempo, was aber auf die jeweilige individuelle [die meisten Automaten waren Einzelanfertigungen] Technik zurückzuführen ist.


    Zu berücksichtigen ist bei derlei Tempobetrachtungen natürlich auch, ob und inwieweit der Komponist künstlerisch in die Fertigung der Automaten involviert war: wußte er darum? Gab er Tempoanweisungen? Oder geschah dies alles ohne sein Zutun bzw. nach dessen Tod? Alles wichtige Faktoren...


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Guten Tag


    Zitat

    Original von miguel54
    Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger hat doch die Tempi seines Lehrers genau dokumentiert!


    Auch Johann Friedrich Agrigola schrieb von Bachs
    "Zeitmaaße, welches er gemeinniglich sehr lebhaft nahm".
    Johann Adlung berichtete über einen Besuch Bachs in Erfurt, in dessen Verlauf Bach zwei Cembalosuiten von Louis Marchand aufspielte:
    "Als [ich] ihm sagte, daß ich diese Sviten hätte, so spielte er sie mir vor nach seiner Art, sehr flüchtig".
    Das deckt sich schon mit der auch bei Forkel zu lesenden Information über J.S. Bach:
    "Bey der Ausführung seiner eigenen Stücke nahm er das Tempo gewöhnlich sehr lebhaft."


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Wenn die Gemeinde die Choräle mitsingen soll, dann müssen die einigermaßen fließend genommen werden, sonst geht denen die Luft aus. Das ist natürlich ein bloß praktischer Hinweis, aber man sieht hier auch, daß es ein anderer Ansatz ist, ob die Choräle als meditative Ruhepunkte (lentissimo possibile e molto misterioso) oder als Partizipiationsmöglichkeit der Gemeinde.
    Natürlich müssen sich heutige Aufführungen, bei denen eh keine Gemeinde mitsingt, nicht danach richten. Aber man singe mal einen bekannten Choral vor sich hin, so daß die Worte nicht zerdehnt werden und man bequem atmen kann und vergleiche dann mit Einspielungen der "meditativen" Schule...


    Hmmm... also auf die meisten Gemeinden, die ich kenne, trifft zu, dass sie, wenn man sie ließe, am liebsten lentissimo impossibile e troppo maestoso sängen und nach jeder Zeile eine gehörige Atempause einlegten... :stumm:


    Martin

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