Liebe Forianer,
einer meiner Lieblingssänger scheint hier noch keine eigene Plattform zu haben. Dieser Thread soll also Ferruccio Tagliavini gewidmet sein, einem Tenor, den viele für den letzten echten tenore di grazia halten, einem Sänger, der dem großen Tito Schipa nachfolgte, in dessen Tradition auch Sänger wie Cesare Valletti, Alfredo Kraus und letztlich auch Juan Diego Florez stehen.
Tagliavinis Karriere dauerte, grob bemessen, etwa von 1940 bis 1960. Ich hätte daher diesen Thread genauso gut dem Orchideenforum über Schellackschätze anvertrauen können, hoffe hier aber auf etwas breitere Resonanz.
Geboren wurde Ferruccio Tagliavini am 14.08.1913 im italienischen Barco. Seine Bühnenkarriere begann 1938. In den 40er Jahren feierte er insbesondere als Nemorino in Donizettis „L’elisir d’amore“ größte Erfolge. Der internationale Durchbruch gelang 1948, als er als einer der ersten italienischen Sänger nach Ende des Weltkriegs an die New Yorker Metropolitan Opera eingeladen wurde. Sein Bohème-Rodolfo wurde dort zu einem Sensationserfolg. In den Zeitungen war zu lesen, dass an der MET in den letzten Jahren kein Tenor diese Rolle so bewegend gestaltet habe. Zu beachten ist dabei, dass der Rodolfo in den Vorjahren auch von einem gewissen Jussi Björling gesungen worden war.
Um 1950 wurde Tagliavini in Italien als der legitime Nachfolger Beniamino Giglis gesehen. Wohl auch deshalb konnte Tagliavini, der Gigli sehr bewunderte, nicht widerstehen, seiner Stimme einige von Giglis Glanzpartien zuzumuten. Ab den 50er Jahren trat er dann vielfach auch als Faust (Boito), Cavaradossi oder Riccardo (Maskenball) auf. Das führte dazu, dass seine Stimme nachdunkelte und an Flexibilität und an der charakteristischen Süße verlor.
Seine Karriere beendete er offiziell erst 1970. Ferruccio Tagliavini starb am 28.01.1995 in Reggio Emilia. Er wurde 81 Jahre alt.
Gerade in den 50er und 60er Jahren, als die sensible, fein gezeichnete Gesangskunst nicht besonders in Mode war, hat man Tagliavini teilweise als schmalzig abgetan. Ich kann das nicht nachempfinden. Anders als bei Gigli, dessen Effekte ich manchmal als sehr gewollt und übertrieben empfinde, stören mich Tagliavinis wohl dosierte Schluchzer überhaupt nicht. Mich beeindrucken vielmehr seine kluge Phrasierung, sein außerordentliches Einfühlungsvermögen und der geschickte Einsatz der voix mixte. Relativ untypisch für einen tenore die grazia ist allerdings die (vor allem in späteren Jahren) relativ kurze Höhe und ein gut ausgeprägtes Brustregister.
Tagliavini ist für mein Empfinden der ideale Sänger, um verträumte Melancholie auszudrücken. Unerreicht ist er für mich daher als Elvino (Sonnambula), Werther und als Fritz (Mascagni). Immer noch ausgezeichnet gefällt er mir zum Beispiel als Nemorino, Rodolfo, Fenton, Duca (Rigoletto) und Faust (Boito).
Noch zwei CD-Empfehlungen:
Eine schöne Sammlung von frühen Aufnahmen Tagliavinis wurde 2003 von Warner auf drei CDs veröffentlicht. Hier kann man gut erkennen, was die Stimme Tagliavinis auszeichnet: Seine stilvolle Linienführung, die großartige Stimmkontrolle und der zarte Ton, gepaart mit der Fähigkeit zur dramatischen Attacke. Man erlebt hier einfach einen der besten Belcantisten des 20. Jahrhunderts. Die früheste Aufnahme aus dieser Sammlung stammt aus dem Jahr 1939 - ein sehr verträumtes Kirschenduett aus Mascagnis L’amico Fritz, das Tagliavini zusammen mit Magda Olivero singt, die damals ebenfalls am Anfang ihrer langen Karriere stand.
Eine meiner Lieblingsopernaufnahmen überhaupt ist diese Gesamtaufnahme von Francesco Cileas „L’Arlesiana“, eine RAI-Aufnahme, die 1951 anlässlich des Todes des Komponisten entstand. Tagliavini singt hier an der Seite seiner Ehefrau Pia Tassinari einen fantastischen Federico. Seine Stimme ist ideal für diese Rolle geeignet und noch in voller Blüte.
Noch ein Wort zum Werk: „L’Arlesiana“ stammt aus der lyrischen Strömung des Verismo und wurde 1897 mit Caruso als Federico mit großem Erfolg uraufgeführt. Dennoch hat sich die Oper wohl nie wirklich durchsetzen können – warum, kann ich nicht nachvollziehen. Mir gefällt die Oper jedenfalls besser als Cileas bekanntere „Adriana Lecouvreur“. Allein das Lamento des Federico (È la solita storia del pastore) aus dem 2.Akt gehört noch zum Repertoire vieler Tenöre. Der Oper zugrunde liegt das symbolistische Stück „L’Arlésienne“ von Alphonse Daudet, für das Georges Bizet die Bühnenmusik komponierte.